Entscheidungsstichwort (Thema)

Invalidität bei Oberschenkelamputierten

 

Leitsatz (redaktionell)

Es gibt keinen Erfahrungssatz, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden invalide sind. Es müssen für den Einzelfall Erhebungen angestellt werden, ob die Voraussetzungen des RVO § 1254 vorliegen.

 

Normenkette

RVO § 1254 Fassung: 1949-06-17

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 3. Februar 1955 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht in ... zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der am 15. November 1909 geborene Kläger ist von Beruf Zimmerer. Nach einer Verletzung durch ein Infanteriegeschoß mußte ihm im März 1945 das rechte Bein oberhalb der Mitte des Oberschenkels amputiert werden. Wegen dieses Körperschadens bezieht er eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 70 v.H.. Die Beklagte gewährte ihm auf Grund einer Begutachtung durch den leitenden Arzt der Chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses Glückstadt, Dr. Vogl, Invalidenrente vom 1. April 1950 an.

Am 12. November 1952 wurde der Kläger von dem Facharzt für innere Leiden, ... nachuntersucht. Da der Gutachter zu dem Ergebnis kam, der Kläger könne selbst schwere Arbeiten im Sitzen noch fortgesetzt leisten, entzog ihm die Beklagte die Invalidenrente mit Wirkung vom 1. Februar 1953.

Gegen diesen Bescheid legte der Kläger am 30. Januar 1953 Berufung beim Oberversicherungsamt ... ein. Dieses wies die Berufung durch Urteil vom 9. September 1953 zurück.

Gegen dieses Urteil legte der Kläger am 10. Dezember 1953 (weitere) Berufung beim Oberverwaltungsgericht in ... ein, die mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes am 1. Januar 1954 auf das Landessozialgericht ... überging. Dieses hob durch Urteil vom 3. Februar 1955 das Urteil des Oberversicherungsamts vom 9. September 1953 auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die Invalidenrente über den 1. Februar 1953 hinaus weiterzugewähren.

Es stützt seine Entscheidung auf einen allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung in der Regel 60 v.H. erwerbsbeschränkt und daher nach § 1254 RVO neuer Fassung invalide seien, wenn sie nicht durch entsprechende Arbeitsleistung den Nachweis erbrächten, daß sie tatsächlich noch in der Lage seien, die Lohnhälfte im Sinne des § 1254 RVO auf dem allgemeinen Arbeitsfeld zu verdienen. Da der Kläger seit 1945 ohne Arbeit sei, liege dieser Ausnahmefall nicht vor, so daß die Voraussetzungen der Invalidität erfüllt seien. Es hat die Revision zugelassen.

Das Urteil wurde der Beklagten am 7. Mai 1955 zugestellt. Sie legte durch Schriftsatz vom 31. Mai 1955 am 2. Juni 1955 Revision ein und begründete die Revision durch Schriftsatz vom 29. Juni 1955 am 30. Juni 1955. Im wesentlichen rügt sie die Verletzung der Amtsermittlungspflicht und die unrichtige Anwendung des § 1254 RVO durch das Landessozialgericht, da dieses unterlassen habe, die erforderlichen Einzelerhebungen anzustellen, ob bei dem Kläger die Voraussetzungen der Invalidität vorlägen. Es sei unzulässig, die Entscheidung auf einen nicht anzuerkennenden Erfahrungssatz zu stützen.

Sie beantragt durch Schriftsatz vom 10. Juni 1955 am 11. Juni 1955,

das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 3. Februar 1955 aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des Oberversicherungsamts ... vom 9. September 1953 zurückzuweisen,

hilfsweise,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zu erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen und der Beklagten die Kosten des Verfahrens aller Instanzen aufzuerlegen.

Er hält die Begründung des angefochtenen Urteils für zutreffend. Zudem wohne er in einem ganz abgelegenen Bauerndorf. In seiner Gegend gebe es keine Arbeit, durch die er die Lohnhälfte im Sinne des § 1254 RVO verdienen könne. Im übrigen dürfe die Rente auch schon deshalb nicht entzogen werden, weil keine wesentliche Besserung gegenüber dem Zeitpunkt der Rentengewährung eingetreten sei. Eine Entziehung ohne Nachweis der wesentlichen Besserung sei aber nach § 1293 Abs. 1 RVO nicht möglich. § 1293 Abs. 2 RVO könne nicht mehr angewandt werden, da diese Vorschrift nicht mehr gültig sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Zwar ist der Revisionsantrag nicht innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils gestellt worden, es gilt hier aber die Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG, da die Rechtsmittelbelehrung unrichtig ist. Sie enthält keine Belehrung darüber, daß die Revision einen Antrag enthalten muß (vgl. Urteil des 3. Senats des BSG vom 23.9.1955 - 3 RJ 26/55, dem sich der erkennende Senat in ständiger Rechtsprechung angeschlossen hat).

Die Revision ist statthaft, da das Landessozialgericht sie zugelassen hat; sie ist auch begründet.

Das Landessozialgericht hat nicht genügend beachtet, daß es bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 1254 RVO grundsätzlich erforderlich ist, in jedem Einzelfall zu prüfen, ob diese Voraussetzungen bei dem einzelnen Versicherten vorliegen. Es ist vielmehr unzulässigerweise von einem allgemeinen Erfahrungssatz des Inhalts ausgegangen, daß Oberschenkelamputierte nach ordnungsmäßiger prothetischer Versorgung, Gewöhnung und Anpassung bei Fehlen sonstiger Leiden, falls kein besonderer Ausnahmefall vorliege, 60 v.H. erwerbsbeschränkt und damit nach der heute maßgebenden Fassung des § 1254 RVO invalide seien.

Es erscheint zwar im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (z.B. AN. 21, 334; EuM. 33, 46; EuM. 47, 366 - vgl. auch Bayer. LVA. Amtsbl. 50, 24; Breithaupt 48, 64; 52, 1004) zulässig, für bestimmte typische Sachverhalte auch bei der Beurteilung der Frage des Vorliegens von Invalidität Erfahrungssätze aufzustellen, wobei jedoch zu beachten ist, daß der Invalidenversicherung eine auf bestimmte Hundertsätze abgestellte Bewertung fremd ist (vgl. Verb. Komm. § 1254 RVO Anm. 32). Ein Erfahrungssatz wird sich nur aufstellen lassen, wenn von einer zeitlich und sachlich völlig ausreichend gesicherten Erfahrung ausgegangen werden kann, die bei einem dem Inhalt des Satzes entsprechenden typischen Sachverhalt hinsichtlich der Frage der Beurteilung der Invalidität stets zu demselben Ergebnis führen muß. Den von dem Landessozialgericht aufgestellten Erfahrungssatz, Oberschenkelamputierte könnten unter den geschilderten Umständen regelmäßig nicht mehr die Hälfte des Vergleichslohns erwerben, gibt es jedoch nicht, da für derartige Beschädigte die Erwerbsfähigkeit erfahrungsgemäß gerade an dieser kritischen Grenze liegt. Nach der Lage des Einzelfalls wird diese Grenze teils unterschritten, teils überschritten werden.

Da das Landessozialgericht unzulässigerweise von einem nicht bestehenden Erfahrungssatz ausgegangen ist, war seine Entscheidung unrichtig. Es hätte für den Einzelfall Erhebungen anstellen müssen, ob die Voraussetzungen des § 1254 RVO vorliegen. Es kommt bei dieser Feststellung nicht nur auf die Leiden des Versicherten, sondern auch auf seine körperliche und geistige Konstitution und auf sein Alter an. Auch ist zu klären, welche Tätigkeiten ihm unter billiger Berücksichtigung seiner Ausbildung und seines bisherigen Berufes nach den ihm verbliebenen Kräften und Fähigkeiten noch zugemutet werden können, ob es solche Tätigkeiten in der Gegend, in der er wohnt, gibt, und ob er in der Lage ist, durch eine solche Tätigkeit die Hälfte dessen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen derselben Art mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend durch Arbeit zu verdienen pflegen.

Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden. Der erkennende Senat konnte nicht selbst in der Sache entscheiden, da es an ausreichenden Feststellungen mangelt. Das Landessozialgericht wird nunmehr die erforderlichen Feststellungen zu treffen haben. Es wird davon auszugehen haben, daß die Entziehung der Invalidenrente auch ohne den Nachweis einer wesentlichen Änderung erfolgen kann, wenn festgestellt wird, daß Invalidität nicht mehr vorliegt, da - entgegen der Auffassung des Klägers - § 1293 Abs. 2 RVO im Gebiet der ehemaligen britischen Zone jedenfalls zur Zeit noch geltendes Recht ist (vgl. Urteil des 1. Senats des BSG vom 9.2.1956 - 1 RA 5/55 -, dem sich der erkennende Senat bereits anderweitig insoweit angeschlossen hat).

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2297104

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