Leitsatz (amtlich)
1. Wird eine Hochschulausbildung nach einem Wechsel des Studienfachs abgeschlossen, so kann dieser "abgeschlossenen Hochschulausbildung" iS des AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b) die Zeit des ersten Studienganges auch dann zuzurechnen sein, wenn das erste Studium nach nicht bestandener Abschlußprüfung endete und eine Exmatrikulation erfolgte.
2. Die Aufnahme einer anderen Ausbildung oder Beschäftigung zwischen beiden Studiengängen ist ebenfalls unbeachtlich, wenn das neue Studium - unter Berücksichtigung einer Zeit der Neuorientierung - zum nächstmöglichen Semesterbeginn aufgenommen wurde (Fortführung von BSG 1969-07-15 1 RA 127/68 = BSGE 30, 34).
Orientierungssatz
AnVNG Art 2 § 49a Abs 2 (= ArVNG Art 2 § 51a Abs 2) legt dem Berechtigten nicht auf, Beiträge auch für Zeiten nachzuentrichten, die als Ausfallzeiten ohnehin bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1972-10-16; ArVNG Art. 2 § 51a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16; AnVNG Art. 2 § 49a Abs. 2 Fassung: 1972-10-16
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 23.05.1978; Aktenzeichen L 2 An 219/78) |
SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 19.12.1977; Aktenzeichen S 17 An 517/76) |
Gründe
I.
Die Beteiligten streiten im Rahmen der Nachentrichtung von Beiträgen gemäß Art 2 § 49a Abs 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) darüber, inwieweit die Zeit einer ohne Abschluß beendeten ersten Hochschulausbildung und die Zeit einer abgeschlossenen späteren Hochschulausbildung als beitragsbelegungsfreie Ausfallzeit iSd § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) zu berücksichtigen ist.
Der Kläger hat zunächst am 28. September 1959 ein Studium der Elektrotechnik an der Technischen Universität Berlin begonnen. Er wurde nach nicht bestandener Abschlußprüfung am 24. Mai 1966 exmatrikuliert. Danach war er als Angestellter bei einer Versicherungsgesellschaft tätig. Am 3. Oktober 1966 begann er eine wirtschaftswissenschaftliche Hochschulausbildung an der Universität Gießen, die er mit der am 21. Oktober 1970 bestandenen Diplomprüfung abschloß.
Der Kläger hat im Rahmen seines Nachentrichtungsantrags begehrt, die Zeit seines wirtschaftswissenschaftlichen Studiums als belegungsfreie Ausfallzeit zu berücksichtigen. Die Beklagte hat das mit ihrem Bescheid vom 8. April 1976 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 1976 mit der Begründung abgelehnt, das Studium der Elektrotechnik und die wirtschaftswissenschaftliche Hochschulausbildung seien eine Einheit; die fünfjährige beitragsbelegungsfreie Ausfallzeit beginne daher mit dem Anfang der gesamten Hochschulausbildung - September 1959 - und ende mit dem Monat August 1964.
Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) mit Urteil vom 19. Dezember 1977 die Beklagte verurteilt, die Zeit des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums - Oktober 1966 bis September 1970 - als nicht belegungspflichtige Ausfallzeit zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 23. Mai 1978 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und zur Begründung ausgeführt, als abgeschlossen im Sinne des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG sei nur eine mit dem vorgesehenen Abschluß erfolgreich beendete Hochschulausbildung anzusehen. Diese Voraussetzung sei beim Kläger nur für das wirtschaftswissenschaftliche Studium erfüllt. Die abgebrochene Hochschulausbildung der Elektrotechnik bilde - jedenfalls im Falle des Klägers - mit der wirtschaftswissenschaftlichen Ausbildung keine Einheit.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie hält an ihrer in den angefochtenen Bescheiden vertretenen Rechtsansicht fest und sieht diese durch die Rechtsprechung des 1. und des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) bestätigt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 23. Mai 1978 sowie das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 19. Dezember 1977 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist nicht vertreten.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II.
Die Revision ist begründet; das Urteil des LSG ist aufzuheben, und die Sache ist zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Das LSG ist zutreffend der Auffassung der Beteiligten gefolgt, daß Art 2 § 49a Abs 2 letzter Halbsatz AnVNG den Berechtigten nicht auferlegt, Beiträge auch für Zeiten nachzuentrichten, die als Ausfallzeiten ohnehin bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sind. Wenn dort bestimmt ist, daß die Entrichtung eines Beitrages für einen Monat nur zulässig ist, wenn alle späteren Monate bereits mit Beiträgen belegt sind, so hat das erkennbar nur den Zweck, zu verhindern, daß sich Versicherte durch Einzahlung der weniger aufwendigen Beiträge für weit zurückliegende Zeiten Ansprüche aus der Rentenversicherung sichern. Hingegen ist kein Grund ersichtlich, der den Gesetzgeber bewogen haben sollte, in die Dispositionen des Beitragszahlers darüber hinaus insoweit einzugreifen, daß man ihn zur Zahlung von Beiträgen auch für solche Zeiten verpflichtet, die ohnehin anzurechnen sind und für die deshalb außerhalb eines besonderen Nachentrichtungsrechts ein Versicherter regelmäßig keine freiwilligen Beiträge entrichten würde.
Dem LSG kann hingegen nicht uneingeschränkt gefolgt werden, soweit es das erste Studium des Klägers bei der Festlegung des Beginns der Ausfallzeit unberücksichtigt läßt. Der erkennende Senat hat bereits in seinem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 16/78 - dargelegt, daß der Umfang der Berücksichtigung einer Hochschulausbildung als Ausfallzeit nicht dem Wortlaut des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG allein entnommen, sondern nur anhand der Zielsetzung dieser Vorschrift abgegrenzt werden kann (so auch schon BSG, Urteil vom 27. August 1970 - 11 RA 109/68 - SozEntsch BSG VI § 36 AVG Nr 33). In dem Urteil vom 4. April 1979 hat der Senat ferner auf den Zweck der Vorschrift des § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 AVG hingewiesen. Danach soll denjenigen Versicherten, die sich über ein bestimmtes Lebensalter hinaus einer für einen späteren Beruf notwendigen weiteren Ausbildung unterzogen haben und deshalb während dieser Ausbildungszeiten keine Beiträge leisten konnten, bei der späteren Rentenfeststellung ein angemessener Ausgleich verschafft werden (BR-Drucks 196/56, S 74 zu § 1263 der Reichsversicherungsordnung - RVO -). Um andererseits die übermäßige Belastung der Versichertengemeinschaft zu vermeiden (BSGE 30, 34), hat der Gesetzgeber die als Ausfallzeit berücksichtigungsfähigen Zeiten der Hochschulausbildung in doppelter Weise begrenzt: Es kann überhaupt nur eine erfolgreich abgeschlossene Hochschulausbildung berücksichtigt werden (BSG SozR Nr 61 zu § 1259 RVO; SozR 2200 § 1259 Nr 4 S. 12; Nr 14 S. 52). Auch die erfolgreich abgeschlossene Hochschulausbildung soll aber nur bis zur Höchstdauer von fünf Jahren als Ausfallzeit berücksichtigt werden (BSG SozEntsch BSG VI § 36 AVG Nr 33). Für den - auch hier vorliegenden - Fall der Aufeinanderfolge von Zeiten einer nicht erfolgreich abgeschlossenen Hochschulausbildung und einer anderen, abgeschlossenen Hochschulausbildung hat bereits der 1. Senat des BSG in dem Urteil vom 15. Juli 1969 - 1 RA 127/68 - (BSGE 30, 34 = SozR Nr 24 zu § 1259 RVO) entschieden, daß regelmäßig das gesamte Hochschulstudium eine abgeschlossene Hochschulausbildung iSd § 1259 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b RVO (= § 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst b AVG) darstellt, wenn nach einem Wechsel das neue Studienfach erfolgreich abgeschlossen wird. Der erkennende Senat tritt dieser Rechtsauffassung grundsätzlich bei. Der 1. Senat hat jedoch ausdrücklich die Frage offengelassen, ob dieser Grundsatz auch dann gilt, wenn zwischen den beiden Studienfächern eine längere Unterbrechung gelegen hat. Der erkennende Senat ist der Auffassung, daß eine solche längere Unterbrechung zu einer anderen Beurteilung führen kann; darüber hinaus mißt er dem Grund der Unterbrechung eine wesentliche Bedeutung zu. Nach einer nicht gelungenen Abschlußprüfung wird dem Studenten zwar eine gewisse Zeit der Neuorientierung auf ein anderes Studienfach eingeräumt werden müssen. Deshalb wird in der Regel der Abstand von einigen Monaten zwischen mißlungener Abschlußprüfung in einem Studienfach und der Aufnahme des Studiums in einem anderen Studienfach die Einheitlichkeit der Hochschulausbildung noch nicht unterbrochen. Die Möglichkeit der Zusammenziehung der beiden Studienzeiten entfällt aber dann, wenn die Unterbrechung nicht nur in einer Phase der Neuorientierung oder aus studientechnischen Gründen erfolgt. Das ist insbesondere der Fall, wenn nach einer nicht gelungenen Abschlußprüfung das Ziel, einen Beruf zu ergreifen, der eine abgeschlossene Hochschulausbildung voraussetzt, für unbestimmte Zeit aufgegeben wird und dieser Entschluß in einer längeren Ausübung dieser neuen Tätigkeit seinen Niederschlag gefunden hat.
Nach den unangefochtenen und daher für den Senat nach § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG hat der Kläger die das Studium der Elektrotechnik abschließende Hochschulprüfung nicht bestanden. Daher haben das SG und das LSG diese Hochschulausbildung (für sich genommen) zutreffend nicht als abgeschlossene eigenständige Hochschulausbildung berücksichtigt. Ob beim Kläger gleichwohl eine einheitliche Hochschulausbildung vorliegt, in die die Zeit des Elektrotechnikstudiums einzubeziehen ist, kann nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht entschieden werden. Die Entscheidung, in welchem Semester die Aufnahme des Studiums in dem neu gewählten Fach erwartet werden mußte, hängt zunächst davon ab, wann der Kläger das Studium der Elektrotechnik tatsächlich aufgegeben hat. Diesen Zeitpunkt hat das LSG nicht festgestellt. Es kann sich dabei um den Zeitpunkt der (nicht bestandenen) Abschlußprüfung, um den der Exmatrikulation, aber auch um einen dazwischenliegenden Zeitpunkt handeln. Jedenfalls stellte sich für den Kläger spätestens von dem Zeitpunkt ab, an dem er das Studium der Elektrotechnik tatsächlich aufgab, die Frage nach der Gestaltung seiner weiteren Ausbildung. Deshalb ist ausgehend von diesem Zeitpunkt zu prüfen, ob von ihm unter Berücksichtigung der erforderlichen Zeit der Neuorientierung erwartet werden konnte, daß er das neue Studium bereits im Sommersemester 1966 begann oder - wie geschehen - erst im Wintersemester 1966.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen