Leitsatz (redaktionell)

1. Unter "Empfang" eines Schriftstücks ist nach allgemeinem Sprachgebrauch seine Aushändigung und damit die unmittelbare Besitznahme zu verstehen.

Für den Begriff "Zugang" dagegen genügt es, daß das Schriftstück in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Adressaten gelangt ist, so daß er von ihm Kenntnis nehmen kann.

2. Bei der Frage, ob die Rechtsbehelfsbelehrung als richtig oder unrichtig anzusehen ist, kommt es allein auf den objektiven Inhalt der Belehrung an und nicht auf die Person des Adressaten.

Die Rechtsbehelfbelehrung ist auch dann unrichtig iS von SGG § 66 Abs 2, wenn auch nur die abstrakte Möglichkeit eines Irrtums bei dem Adressaten besteht.

 

Normenkette

SGG § 63 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 66 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03; VwZG § 4 Abs. 1 Fassung: 1952-07-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Januar 1966 wird aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Beklagte hat die der Klägerin wegen einer Lungen-Tbc gewährte Berufsunfähigkeitsrente mit Bescheid vom 11. Juni 1963 entzogen, weil die Tbc zur Ruhe gekommen sei und eine Anpassung vorliege. Dieser Bescheid, am 11. Juni 1963 an die Klägerin abgesandt, ist durch die Post mittels eingeschriebenen Briefes zugestellt worden, und zwar durch Aushändigung an den Sohn der Klägerin am 14. Juni 1963. Der Bescheid enthielt u. a. folgende Belehrung:

"Gegen diesen Bescheid können Sie innerhalb eines Monats nach Empfang schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Sozialgerichts in 79 Ulm, Olgastraße 109, Klage erheben".

Die Klägerin hat mit einem an die Beklagte gerichteten Schreiben vom 13. Juli 1963 - bei dieser eingegangen am 16. Juli 1963 - diesen Bescheid angefochten. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig ab; die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben. Gleicher Ansicht war das Landessozialgericht (LSG), das die Berufung der Klägerin - unter Zulassung der Revision - durch Urteil vom 25. Januar 1966 zurückwies. Die im Rentenentziehungsbescheid der Beklagten enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung entspreche den Anforderungen des § 66 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Verwendung des Wortes "Empfang" anstelle von "Zustellung" stehe dem nicht entgegen; denn bei dem Wort "Zustellung" handele es sich um einen technischen Begriff, der dem Rechtsunkundigen nicht ohne weiteres verständlich sei. Auch das LSG hielt die Voraussetzungen für die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht für erfüllt.

Mit ihrer Revision beantragt die Klägerin (sinngemäß),

die vorinstanzlichen Urteile und den angefochtenen Bescheid der Beklagten aufzuheben; hilfsweise beantragt sie, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Sie rügt fehlerhafte Anwendung der §§ 64 und 66 SGG. Für die Klägerin sei der Tag der Zustellung nach § 4 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) nicht erkennbar gewesen. Die Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid der Beklagten sei unrichtig, weil jeder Hinweis auf die Berechnung der Monatsfrist gefehlt habe und es auf den "Empfang" nicht angekommen sei.

Die Beklagte stellte keinen Antrag.

Die Revision ist zulässig und begründet. Entgegen der Rechtsauffassung des LSG war die Klagefrist nicht versäumt.

Das Berufungsgericht geht zutreffend davon aus, daß der angefochtene Bescheid nach § 4 Abs. 1 VwZG vom 3. Juli 1952 mit dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post, also am 14. Juni 1963, als zugestellt gilt (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 24. Mai 1966 - 1 RA 3/64). Die Monatsfrist des § 87 Abs. 1 SGG war demnach mit der erst am 16. Juli 1963 bei der Beklagten eingegangenen Klageschrift nicht gewahrt. Gleichwohl war die Klage nicht verspätet. Nach § 66 SGG beginnt die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist; war die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs in der Regel innerhalb eines Jahres nach Zustellung zulässig. Diese Voraussetzungen sind hier gegeben; die Belehrung im Bescheid der Beklagten, daß die Klage innerhalb eines Monats "nach Empfang" zu erheben sei, war unrichtig.

Die Rechtsbehelfsbelehrung soll dem Adressaten des Schriftstücks ermöglichen, sich über den Ablauf der für den jeweiligen Rechtsbehelf einzuhaltenden Frist klar zu werden; er muß also auch über den Tag des Beginns dieser Frist unterrichtet werden. Die Belehrung im angefochtenen Bescheid enthält zwar - neben den anderen Erfordernissen - auch den notwendigen Hinweis auf die Dauer der einzuhaltenden Klagefrist. Die Belehrung ist jedoch ungenau und irreführend. Wie der Senat schon in dem genannten Urteil vom 24. Mai 1966 dargelegt hat, kam es nämlich nach dem Wortlaut des § 4 VwZG nicht auf den Zeitpunkt des "Empfangs" des Bescheids an, sondern auf seinen Zugang, dessen Zeitpunkt im Regelfall fingiert wird ("... gilt als zugestellt") und in Ausnahmefällen nachzuweisen ist. Empfang und Zugang sind nicht dasselbe. Unter "Empfang" eines Schriftstücks ist nach allgemeinem Sprachgebrauch seine Aushändigung und damit die unmittelbare Besitznahme zu verstehen. Für den Begriff "Zugang" dagegen genügt es, daß das Schriftstück in die tatsächliche Verfügungsgewalt des Adressaten gelangt ist, so daß er von ihm Kenntnis nehmen kann (RGZ 50, 194). Deshalb braucht auch bei der Zustellung durch eingeschriebenen Brief das zuzustellende Schriftstück nicht an den Zustellungsadressaten selbst ausgehändigt zu werden; es kann vielmehr - was im vorliegenden Fall auch tatsächlich geschah - unter gewissen Voraussetzungen, z. B. wenn der Empfänger in der Wohnung nicht angetroffen wird, einem erwachsenen Familienmitglied des Empfängers übergeben werden (§ 40 Abs. 7 der Postordnung vom 30. Januar 1929, RGBl I, 33; § 51 der Postordnung vom 16. Mai 1963 - BGBl I, 341).

Es handelt sich somit bei den Begriffen "Empfang" und "Zustellung" bzw. "Zugang" nicht um eine - unschädliche - Unterscheidung sprachlicher Art, sondern um sachlich unterschiedliche Begriffe. Das zeigt sich schon darin, daß der Empfang des Bescheids vor dem gesetzlich fingierten Zugang, d. h. vor dem dritten Tag seit der Aufgabe zur Post liegen kann, ohne daß sich an der mit diesem Tag einsetzenden Rechtsbehelfsfrist etwas ändert (vgl. BSG 5, 53). Bei der Zustellung nach § 4 VwZG war somit für den Beginn der Klagefrist der Zeitpunkt des "Empfangs" des Bescheids nur dann von Bedeutung, wenn dieser genau am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post dem Adressaten oder einem erwachsenen Familienangehörigen ausgehändigt wurde. Nur in diesem Falle lief die Klagefrist tatsächlich vom Zeitpunkt des "Empfangs" an. Die Rechtsbehelfsbelehrung war jedoch irreführend auch dann, wenn für die Zustellung der Tag des tatsächlichen späteren Zugangs maßgebend gewesen wäre; denn auch dann wäre es nicht auf den "Empfang" des Bescheids, sondern darauf angekommen, wann er "zugegangen" ist.

Bei einer Belehrung wie sie hier von der Beklagten im Bescheid vom 11. Juni 1963 gewählt wurde, war somit nicht ausgeschlossen, daß der Adressat im Falle eigenhändigen Empfangs vor dem dritten Tage nach der Aufgabe zur Post von der Erhebung der Klage absah, weil er die Klagefrist schon vor dem 14. Juni 1963 irrtümlich für abgelaufen hielt. Die Möglichkeit eines Irrtums war aber auch dann gegeben, wenn der eingeschriebene Brief in der Abwesenheit des Adressaten einem erwachsenen Familienmitglied ausgehändigt und damit die Zustellung nach § 4 VwZG bewirkt war, er selbst aber das Schriftstück erst geraume Zeit später "empfangen" hatte. Dann konnte er nach der Rechtsbehelfsbelehrung mit Recht annehmen, daß er noch genügend Zeit zur Erhebung der Klage habe. Auch in einem solchen Fall beruhte das Unterlassen der rechtzeitigen Klageerhebung auf dem irreführenden Inhalt der Rechtsbehelfsbelehrung. Zur Beurteilung der Frage, ob diese als richtig oder unrichtig anzusehen ist, kommt es allein auf den objektiven Inhalt der Belehrung an und nicht auf die Person des Adressaten. Ob er durch die fehlerhafte Belehrung irregeführt wurde und deshalb die Frist versäumt hat, ist ohne rechtliche Bedeutung. Die Rechtsbehelfsbelehrung ist auch dann unrichtig im Sinne von § 66 Abs. 2 SGG, wenn - wie hier - auch nur die abstrakte Möglichkeit eines Irrtums bei dem Adressaten besteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 4. Dezember 1959 - NJW 1960, S. 1074 sowie BFH, Urteil vom 22. Januar 1964 - Band 78 S. 528). Es ist deshalb belanglos, aus welchen Gründen die Klägerin die Monatsfrist zur Erhebung der Klage beim SG hat verstreichen lassen. Das ändert nichts daran, daß die ihr erteilte Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig war und somit die Klagefrist nicht zu laufen begonnen hatte. Die Klägerin konnte daher den Bescheid vom 11. Juni 1963 noch innerhalb eines Jahres nach Zustellung (14. Juni 1963) anfechten (§ 66 Abs. 2 Satz 1 SGG). Unter diesen Umständen muß das Urteil des LSG, das diese Rechtslage verkannt hat, aufgehoben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2387464

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