Leitsatz (amtlich)

Einer Witwe, der die Invalidenrente wegen Verweigerung einer ärztlichen Nachuntersuchung auf Zeit oder dauernd entzogen wurde, ist jedenfalls bis zum Inkrafttreten der DV § 33 BVG vom 1961-01-11 (1960- 06-01) die entzogene Invalidenrente bei Feststellung der Witwenausgleichsrente nicht als Einkommen anzurechnen. Das gleiche gilt für die Anrechnung eines zur Invalidenrente der Mutter gewährten Kinderzuschusses auf die Waisenausgleichsrente.

 

Normenkette

BVG § 33 Fassung: 1960-06-27, § 41 Fassung: 1960-06-27, § 47 Fassung: 1960-06-27, § 33 DV S. 1 Fassung: 1961-01-11

 

Tenor

I. Auf die Revisionen der Klägerinnen werden die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 5. Dezember 1958 und Sozialgerichts Hamburg vom 13. März 1958, soweit darin die Klagen abgewiesen und die Berufungen der Klägerinnen zurückgewiesen wurden, sowie in der Kostenentscheidung aufgehoben.

II. Unter Aufhebung des Bescheides vom 25. Oktober 1956 und des Widerspruchsbescheides vom 28. November 1956 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin zu 1.) Witwenausgleichsrente vom 1. November 1956 bis 31. Oktober 1958 zu gewähren, ohne die ihr nicht ausgezahlte Invalidenrente zur Kürzung der Ausgleichsrente heranzuziehen und der Klägerin zu 2.) Waisenausgleichsrente vom 1. Mai 1957 bis 31. Oktober 1958 zu gewähren, ohne den in der Invalidenrente der Mutter enthaltenen Kinderzuschuß zur Kürzung der Waisenausgleichsrente heranzuziehen.

III. Die Beklagte hat den Klägerinnen die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerinnen, Ehefrau und Tochter des im Zweiten Weltkrieg vermißten Walter E beziehen als dessen Hinterbliebene Grund- und Ausgleichsrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Bei Berechnung der Ausgleichsrente wurde der Klägerin zu 1.) eine Witwenrente aus der Invalidenversicherung ihres Ehemannes und eine eigene Invalidenrente, bei Berechnung der Ausgleichsrente der Klägerin zu 2.) eine Waisenrente aus der Invalidenversicherung ihres Vaters und der zur Invalidenrente der Klägerin zu 1.) gezahlte Kinderzuschuß als sonstiges Einkommen angerechnet.

Am 23. Oktober 1956 beantragten die Klägerinnen Erhöhung der Ausgleichsrente, weil die Zahlung der eigenen Invalidenrente der Klägerin zu 1.) und des Kinderzuschusses durch den Versicherungsträger gemäß § 1295 der Reichsversicherungsordnung (RVO aF) ab 1. November 1956 eingestellt worden sei. Die Beklagte lehnte den Antrag ab, da die Einstellung von Rente und Kinderzuschuß aus der Invalidenversicherung auf der Weigerung der Klägerin zu 1.) beruhe, sich einer kurzfristigen Krankenhausbeobachtung zu unterziehen, und die Einkommensminderung nicht durch Erhöhung der Ausgleichsrente ausgeglichen werden könne. Der Widerspruch der Klägerinnen wurde aus den gleichen Gründen zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) verurteilte mit Urteil vom 15. März 1958 die Beklagte, der Klägerin zu 2.) Ausgleichsrente ohne Anrechnung des Kinderzuschusses aus der eingestellten Invalidenrente zu gewähren und wies im übrigen die Klage ab. Ein ruhender Rentenanspruch stelle Einkommen im Sinne des BVG dar, wenn es allein von dem Versorgungsberechtigten abhänge, ihn jederzeit wieder aufleben zu lassen. Deshalb sei die Klage abzuweisen, soweit die Klägerin zu 1.) Erhöhung ihrer Ausgleichsrente begehre. Der Klägerin zu 2.) dürfe dagegen aus der Weigerung ihrer Mutter, sich einer Nachuntersuchung zu unterziehen, versorgungsrechtlich kein Rechtsnachteil entstehen.

Mit der vom SG zugelassenen Berufung begehrte die Klägerin zu 1.) Erhöhung ihrer Ausgleichsrente. Diese dürfe nicht davon abhängig gemacht werden, ob noch unausgeschöpfte Einkommensquellen bestünden. Die Beklagte wandte sich gegen ihre Verurteilung und vertrat die Auffassung, das Auftreten der Klägerin zu 1.) in eigener Sache sei hier von der Ausübung der gesetzlichen Vertretungsmacht für die Klägerin zu 2.) rechtlich nicht zu trennen. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte mit Urteil vom 5. Dezember 1958 die Beklagte unter Aufhebung des Widerspruchsbescheides sowie in Abänderung des angefochtenen Bescheids und des Urteils erster Instanz dem Grunde nach, der Klägerin zu 1.) ab 1. November 1958 etwaige Ausgleichsrente ohne Anrechnung der eigenen Arbeiterrente und der Klägerin zu 2.) etwaige Ausgleichsrente ab 1. November 1956 bis 30. April 1957 und ab 1. November 1958 ohne Anrechnung des in der Invalidenrente bzw. Arbeiterrente der Klägerin zu 1.) enthaltenen Kinderzuschusses zu gewähren. Im übrigen wurden die Berufungen zurückgewiesen. Ein ruhender Anspruch stelle zwar kein Einkommen dar, doch seien Rechte des Versorgungsberechtigten, die ihm Einkünfte gewähren könnten, die von ihm aber nicht geltend gemacht würden, wie Einkünfte zu bewerten. Einen rechtlich relevanten Grund, die vom Rentenversicherungsträger angeordnete dreitägige stationäre Behandlung abzulehnen, habe die Klägerin zu 1.) nicht gehabt; die Vermutung spreche dafür, daß wesentlich mitbestimmend für ihre Weigerung die Überlegung gewesen sei, finanzielle Nachteile würden ihr daraus nicht erwachsen. In entsprechender Anwendung der Verwaltungsvorschrift (VV) zu § 33 Abs. 7 BVG müsse ihr Anspruch auf Invalidenrente (Arbeiterrente) deshalb auch während des Ruhens als sonstiges Einkommen gelten. Vom Zeitpunkt ihrer Mitteilung an den Versicherungsträger, sie fühle sich nicht mehr invalide, d. i. vom 8. Oktober 1958 ab, habe sie aber gewußt, daß sie die Voraussetzungen zur Rentengewährung nicht mehr erfülle. Von der Aufgabe einer Rechtsposition durch Verweigerung der Untersuchung könne deshalb ab 8. Oktober 1958 nicht mehr gesprochen werden, so daß mit Wirkung ab 1. November 1958 die Anrechnung der Invalidenrente (Arbeiterrente) auf eine ihr etwa noch zustehende Ausgleichsrente entfalle. Der Klägerin zu 2.) sei der Kinderzuschuß zur Invalidenrente ihrer Mutter nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht auf die Ausgleichsrente anzurechnen. Diese Rechtsprechung sei allerdings durch die Verordnung zur Durchführung des § 33 des BVG vom 2. August 1958 (BGBl I S. 567) überholt, die in § 15 Abs. 1 vorschreibe, daß Kinderzuschuß aus der gesetzlichen Rentenversicherung zu dem für den Unterhalt der Waise zur Verfügung stehenden Einkommen zähle. Deshalb sei die Klägerin zu 2.), die Handlungen und Unterlassungen der Klägerin zu 1.) im Rahmen ihrer gesetzlichen Vertretungsmacht gegen sich gelten lassen müsse, vom Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verordnung d.i. 1. Mai 1957 an so zu behandeln, als sei der Kinderzuschuß tatsächlich gezahlt worden. Die mit dem 1. November 1958 bei der Klägerin zu 1.) eingetretene Änderung der Verhältnisse wirke sich auf die Klägerin zu 2.) ebenso aus, wie auf die Klägerin zu 1.); ab 1. November 1958 sei ihr daher ein für sie zustehender Kinderzuschuß nicht mehr auf die Ausgleichsrente anzurechnen. Die Revision wurde zugelassen.

Mit der Revision rügen die Klägerinnen Verletzung des § 41 BVG. Das LSG habe bei der Neuberechnung der Ausgleichsrente für die Klägerin zu 1.) vom 1. November 1956 bis 31. Oktober 1958 ein effektiv nicht vorhandenes Einkommen angerechnet. Um einen Einkommensverzicht habe es sich auch nach dem angefochtenen Urteil nicht gehandelt. Deshalb habe die VV zu § 33 Abs. 7 BVG nicht angewandt werden dürfen. Von einem Einkommensverzicht sei auch nur in der VV zu § 32 und zu § 50 BVG die Rede; daher seien für den Ausgleichsrentenanspruch der Witwe nur die in § 41 BVG aufgestellten Voraussetzungen maßgebend. Folge man der Auffassung des LSG, so müßte auch der Verzicht einer Witwe auf Arbeitslosengeld, der dem Zweck diene, sich der Arbeitsvermittlung oder der Feststellung der Verfügbarkeit durch ärztliche Untersuchung zu entziehen, zur Versagung der Ausgleichsrente führen. In Wahrheit komme es nicht darauf an, ob ein Rentenanspruch ruhe, ob er entzogen oder ob auf ihn verzichtet werde, sondern es sei nur das vorhandene Einkommen maßgebend. Ein Zwang der Versorgungsbehörde gegenüber dem Versorgungsberechtigten, die Weitergewährung einer ruhenden Leistung zu erwirken, sei unbillig und widerspreche Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes. Auch der Klägerin zu 2.) sei tatsächlich nicht vorhandenes Einkommen auf die Ausgleichsrente angerechnet worden. Zur Erläuterung des "eigenen Einkommens der Waise" werde auf BSG 6, 252 verwiesen. Auch nach dem 1. Mai 1957 habe sich das Einkommen der Klägerin zu 2.) nicht verändert, denn es handle sich bei dem Kinderzuschuß zu einer Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung nicht um einen unmittelbaren, sondern nur um einen abgeleiteten Anspruch, der nur im Rahmen des Unterhaltsanspruchs gegenüber der Klägerin zu 1.) zu berücksichtigen sei und deshalb den tatsächlichen Bezug der Rente voraussetze. Die Klägerinnen beantragten, das angefochtene Urteil aufzuheben soweit es ihre Berufungen zurückweist, und die Beklagte zu verurteilen, ihnen ab 1. November 1956 Ausgleichsrente ohne Anrechnung der Rente der Klägerin zu 1.) aus der Invalidenversicherung (Arbeiterrentenversicherung) und des darin enthaltenen Kinderzuschusses zu gewähren.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerinnen aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils zurückzuweisen.

Die durch Zulassung statthaften Revisionen sind form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie sind daher zulässig (§§ 160, 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie sind auch sachlich begründet.

Streitig ist unter den Beteiligten nur noch, ob der Klägerin zu 1.) in der Zeit vom 1. November 1956 bis 31. Oktober 1958 Witwenausgleichsrente ohne Anrechnung ihrer - nicht ausgezahlten - Invalidenrente und der Klägerin zu 2.) in der Zeit vom 1. Mai 1957 bis 31. Oktober 1958 Waisenausgleichsrente ohne Anrechnung des in der Invalidenrente der Klägerin zu 1.) enthaltenen Kinderzuschusses als Einkommen zu gewähren ist. Die Beklagte hat die Invalidenrente und den Kinderzuschuß bei Berechnung der Ausgleichsrenten (§ 41 Abs. 1, § 47 Abs. 1 BVG) für die strittige Zeit als sonstiges Einkommen der Klägerinnen angesehen und angerechnet, obwohl beide Leistungen (Invalidenrente und Kinderzuschuß) tatsächlich nicht mehr gewährt wurden. Zur Heranziehung dieses angenommenen Einkommens fehlt es jedoch - jedenfalls für die hier in Frage kommende Zeit - an einer gesetzlichen Grundlage.

Einen seit jeher im Versorgungsrecht anerkannten Rechtsgrundsatz, "wonach in der Regel derjenige, der sich schuldhaft eines Anspruchs oder einer Einkommensquelle begibt, sich so behandeln lassen müsse, als bezöge er die entsprechenden Einkünfte", gibt es nicht (aA Vorberg, VersorgB 61, 100). Das ergibt sich schon aus der Rechtsentwicklung seit dem Inkrafttreten des BVG. Nach der ursprünglichen Fassung des BVG vom 20. Dezember 1950 (BGBl I 791) galten gemäß § 33 Abs. 2 Satz 1 als sonstiges Einkommen alle Einkünfte in Geld und Geldeswert ohne Rücksicht auf ihre Quelle. Somit waren alle tatsächlichen Einkünfte, aber nur diese, anzurechnen. Eine Bestimmung des Inhalts, daß auch schuldhaft nicht bezogene Einkünfte als sonstiges Einkommen zu gelten hätten, fehlte. Die Verwaltungsvorschriften (VV) zum BVG in der Fassung vom 1. März 1951 (Erg. Heft Nr. 2 a zum BABl. 1951 Heft 2) sahen in Nr. 6 zu § 33 vor, daß die Unterhaltsfähigkeit der Kinder eines Beschädigten, die grundsätzlich ungeprüft bleiben sollte, beim Einkommensverzicht des Beschädigten zugunsten der Kinder durch Überlassung von Vermögenswerten zu prüfen sei. Ähnlich wurde in der VV Nr. 5 zu § 50 BVG angeordnet, wenn ein Unterhaltsanspruch der Eltern gegenüber einem Dritten zu berücksichtigen sei, so sei nur zu prüfen, ob und inwieweit der zur Leistung des Unterhalts Verpflichtete imstande sei, Unterhalt zu gewähren, nicht aber, was er tatsächlich leiste. Allein die VVen, nicht das Gesetzt selbst, sahen also in eng begrenztem Umfang und nur bei Unterhaltsansprüchen die Anrechnung fiktiven Einkommens vor mit dem Ziel, den Versorgungsberechtigten so zu behandeln, als habe er diese - fiktiven - Einkünfte aus Unterhaltsansprüchen. Mit diesen Vorschriften sollte verhindert werden, daß das Fehlen einer tatsächlich vorhandenen Sicherstellung des Lebensunterhalts vorgetäuscht bzw. der Anschein einer in Wirklichkeit nicht vorhandenen Bedürftigkeit erweckt würde. Ob diese Bestimmungen der VVen mit dem Gesetz vereinbar waren, braucht hier nicht geprüft zu werden. Denn im vorliegenden Fall handelt es sich jedenfalls nicht um Unterhaltsansprüche. Ein Rechtssatz oben bezeichneten Inhalts ist in das BVG auch nicht durch eines der sechs Änderungs- und Ergänzungsgesetze aufgenommen worden. Selbst mit der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 33 BVG vom 2. August 1958 (BGBl I, 567), die sich im wesentlichen mit der Bestimmung des sonstigen Einkommens befaßte, wurde keine Vorschrift eingeführt, nach der schuldhaft nicht erzieltes Einkommen grundsätzlich als fiktives Einkommen anzusehen wäre. Unter den "Sondervorschriften für Eltern" wurde in § 16 Abs. 1 Satz 1 lediglich die bisherige VV Nr. 5 zu § 33 BVG mit Rechtsnormeigenschaft ausgestattet und die weitere Vorschrift hinzugefügt, daß Minderungen des sonstigen Einkommens durch entschädigungslosen Verzicht auf Unterhalt, Einkünfte oder Vermögen zugunsten Dritter bei der Feststellung der Elternrente unberücksichtigt bleiben. Diese Bestimmungen, deren zeitlicher Geltungsbereich einen Teil des hier streitigen Zeitraums erfassen würde, betreffen somit nur Unterhaltsansprüche und Verzichte "zugunsten Dritter" bei Elternrenten. Eine Ausdehnung dieser Vorschriften auf andere Einkommensverhältnisse bzw. ihre Anwendung bei der Berechnung der Ausgleichsrente der Witwen und Waisen gestattet schon der Charakter dieser Bestimmung als einer "Sondervorschrift für Eltern" nicht. Bei diesem einzigen normativ geregelten Fall der Anrechnung fiktiven Einkommens blieb die Rechtsentwicklung dann bis zum Erlaß der DVO zu § 33 BVG vom 11. Januar 1961 (BGBl I, 19) stehen. Erst durch § 1 Abs. 2 dieser Verordnung wurde in größerem Ausmaß die Anrechnung fiktiven Einkommens zugelassen. Es wurden in § 1 Abs. 1 der VO den tatsächlichen Einkünften Ansprüche auf Leistungen in Geld oder Geldeswert sowie Anwartschaften, die durch Stellung eines Antrages zu einem solchen Anspruch erwachsen können, gleichgestellt und Verfügungen, die das bei Feststellung der Ausgleichsrente zu berücksichtigende Einkommen mindern, versorgungsrechtlich für unbeachtlich erklärt, allerdings unter Beschränkung auf die Fälle, in denen Antragstellung oder Geltendmachung des Anspruchs weder aus Unkenntnis noch aus einem verständigen Grund unterblieb bzw. die Vermögensverfügung ohne verständigen Grund erfolgte.

Im vorliegenden Fall hat nun die Klägerin zu 1.) weder eine Antragstellung noch die Geltendmachung eines Anspruchs in Geld unterlassen und auch keine Vermögensverfügung nach dem Wortlaut des § 1 Abs. 2 der DVO zu § 33 vom 11. Januar 1961 getroffen, sondern eine Untersuchung in Form mehrtägiger stationärer Beobachtung verweigert. Die Frage, ob ihr Verhalten - dem dieser Vorschrift zu entnehmenden Sinn entsprechend - einer unterlassenen Antragstellung oder Geltendmachung eines Anspruchs in Geld bzw. einer das nach § 33 BVG zu berücksichtigende Einkommen mindernden Verfügung gleichsteht, bedarf hier jedoch ebensowenig einer Entscheidung, wie die Vorfrage, ob § 1 Abs. 2 nach § 14 Abs. 1 der DVO vom 11. Januar 1961 überhaupt uneingeschränkt auf Witwen und Waisen Anwendung findet. Die DVO vom 11. Januar 1961 ist nämlich nach ihrem § 20 erst mit Wirkung vom 1. Juni 1960 in Kraft getreten und erfaßt nach ihrem zeitlichen Geltungsbereich den vorliegenden Fall nicht, weil hier nur Zeiten bis zum 31. Oktober 1958 im Streit sind, und eine die Versorgungsberechtigten wirtschaftlich benachteiligende Rückwirkung der DVO nach ihrem § 17 Abs. 3 eindeutig ausgeschlossen ist. Angesichts der oben dargestellten Rechtsentwicklung kann auch nicht angenommen werden, es handle sich in § 1 Abs. 2 der DVO vom 11. Januar 1961 um eine authentische Interpretation des bereits vor dem Inkrafttreten der DVO geltenden Rechts. Es muß vielmehr davon ausgegangen werden, daß insoweit eine echte Rechtsänderung gewollt war, die den bei Anwendung der vorausgegangenen DVO vom 2. August 1958 gewonnenen Erfahrungen Rechnung tragen sollte (vgl. Wilke KOV 1961, 1).

Für die hier streitige Zeit fehlt demnach eine Rechtsgrundlage, die die Anrechnung fiktiven Einkommens auf die Ausgleichsrente der Witwen und Waisen erlaubt hätte. Mit diesem Ergebnis steht der erkennende Senat nicht im Widerspruch zum Urteil des 10. Senats vom 12. August 1958 in SozR BVG § 32 Ca 2 Nr. 5. In diesem Urteil ist ausgesprochen, daß ein Beschädigter, der von einer Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt sich zu sichern, keinen Gebrauch mache, während unter gleichen Umständen ein anderer, der nicht versorgungsberechtigt sei, diese Möglichkeit ausnützen würde, sich grundsätzlich gefallen lassen müsse, so behandelt zu werden, als ob ihm die Mittel für seinen Lebensunterhalt, die er sich beschaffen könnte, tatsächlich zur Verfügung stünden. Dieses Urteil entschied nicht über den Anspruch des Beschädigten auf Ausgleichsrente, da die tatsächlichen Voraussetzungen nicht hinreichend geklärt waren; die erwähnten Ausführungen finden sich vielmehr unter den Hinweisen für das LSG, welche Gesichtspunkte bei der erneuten Verhandlung und Entscheidung besonderer Berücksichtigung bedürfen, sie tragen demnach das Urteil nicht. Abgesehen davon betrifft das genannte Urteil die Ausgleichsrente eines Beschädigten, während es sich im vorliegenden Fall um die Ausgleichsrente einer Witwe und einer Waise handelt. In Ansehung der Ausgleichsrente unterscheidet sich aber die rechtliche Behandlung des Beschädigten nach der Auffassung des erkennenden Senats grundsätzlich und wesentlich von der der Witwe, die das 45. Lebensjahr vollendet oder für ein waisenrentenberechtigtes Kind zu sorgen hat, sowie von der der Waise. Voraussetzung der Beschädigten-Ausgleichsrente ist eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 50 v.H. (§ 32 BVG), während bei der Witwe, die das 45. Lebensjahr vollendet oder für ein waisenrentenberechtigtes Kind zu sorgen hat, und ebenso bei der Waise eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit für den Anspruch auf Ausgleichsrente nicht erforderlich ist (§§ 41 Abs. 1 b, c, 47 Abs. 1 BVG). Die Frage, welches Einkommen sich die Witwe mit Rücksicht auf ihren jetzigen oder früheren Beruf verschaffen könnte, spielt bei der Witwenausgleichsrente - ebenso wie bei der Waise - grundsätzlich keine Rolle. Denn das Gesetz verlangt - im Gegensatz zur Witwe, die 45 Jahre alt ist oder für ein waisenrentenberechtigtes Kind zu sorgen hat, und zur Waise - nur vom Beschädigten, daß er seinen Lebensunterhalt durch eine ihm zumutbare Erwerbstätigkeit sichert. Daraus folgt, daß dem Beschädigten, der diese Anforderung nicht erfüllt oder sich der Möglichkeit begibt, sie zu erfüllen, hieraus Rechtsnachteile entstehen, von denen die Witwe nach vollendetem 45. Lebensjahr und die Waise nicht betroffen werden.

Bei Beurteilung des Anspruchs der Waise auf Ausgleichsrente hat das LSG im übrigen auch verkannt, daß § 15 Abs. 1 Satz 1, erster Halbsatz, der VO zur Durchführung des § 33 BVG vom 2. August 1958 (BGBl I S. 567) rechtsunwirksam ist (BSG 9, 158). Der Kinderzuschuß zur Invalidenrente der Mutter ist daher ebenso wie der neben dem Witwengeld nach den Vorschriften für die Beamtenbesoldung gewährte Kinderzuschlag als Einkommen der Witwe zu behandeln und kann deshalb zur Kürzung der Waisenausgleichsrente nicht herangezogen werden.

Die angefochtenen Bescheide und die Urteile der Vorinstanzen, soweit sie diese Bescheide bestätigt haben, unterlagen demnach der Aufhebung. Gleichzeitig mußte die Beklagte verurteilt werden, den Klägerinnen auch für den noch streitigen Zeitraum Ausgleichsrente ohne Anrechnung der nicht ausgezahlten Invalidenrente der Klägerin zu 1.) und des darin enthaltenen Kinderzuschusses zu gewähren.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 8

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