Leitsatz (amtlich)
Bei Juden, die Deutschland vor dem 1933-01-30 verlassen haben, bedarf es zur Annahme der Verfolgteneigenschaft und des späteren Andauerns des Auslandsaufenthalts infolge von Verfolgungsmaßnahmen der Feststellung, daß sie die Rückkehr nach Deutschland ernstlich beabsichtigt und davon nur wegen der ihnen drohenden Verfolgung Abstand genommen haben.
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; BEG § 1
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 24.09.1975; Aktenzeichen L 15 An 15/74) |
SG Berlin (Entscheidung vom 14.02.1974; Aktenzeichen S 20 An 2059/73) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 24. September 1975 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob dem 1906 geborenen jüdischen Kläger die Zeit vom 30. Januar 1933 bis 31. Dezember 1949 nach § 28 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) als Ersatzzeit anzurechnen ist.
Der Kläger war zur Arbeitssuche 1930 in die USA gefahren und 1932 für einige Monate nach Deutschland zurückgekehrt. Ab Oktober 1932 war er endgültig in den USA verblieben und 1937 auf den im Mai 1933 gestellten Antrag Bürger der USA geworden.
Der Kläger, der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit erhält, hatte schon in einem früheren Rechtsstreit vergeblich die Anrechnung der streitigen Zeit begehrt. Im rechtskräftig gewordenen Urteil vom 7. April 1970 hatte das Landessozialgericht (LSG) Berlin § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG damaliger Fassung dahin ausgelegt, daß nur ein verfolgungsbedingter Auslandsaufenthalt Ersatzzeit sein könne. Der Kläger habe Deutschland vor dem 30. Januar 1933 nicht wegen Verfolgungsmaßnahmen verlassen. Sein Verbleiben in den USA sei nicht schon darum verfolgungsbedingt, weil er als Jude einer vom Nationalsozialismus verfolgten Gruppe angehört habe; erforderlich seien weitere Umstände wie der Zwang oder die ernstliche Absicht zur Rückkehr; der Kläger habe sich jedoch weder in einer solchen Zwangslage befunden, noch einen sogenannten "konkreten Rückkehrwillen" darzutun vermocht.
Im Oktober 1972 beantragte der Kläger bei der Beklagten eine Überprüfung. Mit Bescheid vom 12. Dezember 1972 lehnte es die Beklagte ab, nach § 79 AVG einen günstigeren Rentenbescheid zu erteilen. Nach ihrem Vortrag hat sie dabei die Neufassung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das Gesetz zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) berücksichtigt.
Widerspruch, Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg. Das LSG hielt in dem neuen Urteil vom 24. September 1975 die Anrechnung der streitigen Zeit auch auf Grund der Neufassung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht für möglich. Die Neufassung erkenne aus Gründen der Klarstellung zwar nun ausdrücklich auch den Auslandsaufenthalt als Ersatzzeit an, der infolge von Verfolgungsmaßnahmen angedauert habe; dann seien die Voraussetzungen des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) ebenfalls erfüllt. Jedoch müsse auch nach der Neufassung ein konkreter Rückkehrwille feststellbar, d.h. durch äußerlich erkennbare Umstände objektivierbar sein; dabei seien Grundsätze heranzuziehen, wie sie das Bundessozialgericht (BSG) im Rahmen des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bei Verhinderung der Rückkehr durch feindliche Maßnahmen und im Rahmen des § 94 AVG bei Prüfung des freiwilligen Auslandsaufenthalts entwickelt habe. Beim Kläger lasse sich ein Rückkehrwille, der lediglich an den ihm in Deutschland drohenden Verfolgungsmaßnahmen gescheitert wäre, nicht - auch nicht im Sinne einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit - objektivieren.
Auf die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers hat der Senat die Revision zugelassen, soweit die Höhe der Rente für die Zeit ab 1. Februar 1971 streitig ist.
Mit der Revision beantragt der Kläger,
die Urteile des LSG vom 24. September 1975 und des Sozialgerichts vom 14. Februar 1974 sowie die Bescheide der Beklagten vom 12. Dezember 1972 und 5. April 1973 (Widerspruchsbescheid) aufzuheben und die Beklagte zur Erteilung eines neuen Rentenbescheides für den Zeitraum ab dem 1. Februar 1971 unter Anerkennung der streitigen Zeit als Verfolgungsersatzzeit zu verurteilen,
hilfsweise: die Sache der Beklagten zwecks Erlasses eines neuen Bescheides nach Maßgabe des § 79 AVG zurückzugeben.
Der Kläger rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG idF vom 22. Dezember 1970. Danach dürfe von jüdischen, nach dem 30. Januar 1933 im Ausland verbliebenen Versicherten nicht der Nachweis eines konkreten Rückkehrwillens verlangt werden. Die Neufassung sei dem Vorbild des § 1251 Abs. 1 Nr. 3 RVO nicht gefolgt. Für die genannte Gruppe habe die Übernahme der Regierungsmacht durch die NSDAP grundsätzlich eine Verfolgungsmaßnahme dargestellt. Der heute kaum noch mögliche Nachweis des konkreten Rückkehrwillens würde die gewünschte Breitenwirkung der Neufassung vereiteln. Eine Mißbrauchsgefahr sei bei Personen, die wie der Kläger 1932/1933 noch keinerlei Tendenz zum ständigen Verbleib im Ausland gezeigt hätten, nicht zu befürchten. Im übrigen habe der Gesetzgeber den Begriff der Verfolgten in der Sozialversicherung bei der Neufassung der §§ 99 AVG, 1320 RVO durch das 20. Rentenanpassungsgesetz (RAG) vom 27. Juni 1977 definiert und auch da keinen Nachweis eines Rückkehrwillens verlangt.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist - im Haupt- und im Hilfsantrag - unbegründet; er hat keinen Anspruch darauf, daß ihm die Beklagte aufgrund der Neufassung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG vom 22. Dezember 1970 den Auslandsaufenthalt im streitigen Umfang bei den Rentenbezugszeiten ab 1. Februar 1971 (Art. 4 § 2 des Gesetzes vom 22. Dezember 1970) als Ersatzzeit anrechnet.
Nach der Gesetzesfassung vor dem Gesetz vom 22. Dezember 1970 waren Zeiten eines Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949 Ersatzzeiten, wenn der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG war. Zweifelhaft konnte hier sein, ob der Auslandsaufenthalt, wie es das Gesetz bei Zeiten der Arbeitslosigkeit für die Anrechnung als Ersatzzeiten ausdrücklich verlangte, durch Verfolgungsmaßnahmen iS des BEG hervorgerufen sein mußte; die Rechtsprechung des BSG hatte das bejaht; auf den Kausalzusammenhang mit Verfolgungsmaßnahmen könne nicht verzichtet werden (SozR Nr. 46 zu § 1251 RVO).
Nach der Neufassung sind "Zeiten des Auslandsaufenthalts bis zum 31. Dezember 1949" Ersatzzeiten, "sofern ... der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen" iS des BEG "hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 des BEG ist". In der BT-Drucks. VI/715 (S. 12) ist zur Begründung der Neufassung angeführt, das Gesetz stelle klar, daß der Auslandsaufenthalt durch Verfolgungsmaßnahmen verursacht sein müsse - "sei es, daß der Versicherte der Verfolgung wegen in das Ausland geflüchtet ist, es sei, daß er aus diesem Grunde nicht aus dem Ausland zurückgekehrt ist".
Der Kläger meint zu Unrecht, bei ihm sei der Tatbestand des Andauerns des Auslandsaufenthalts infolge von Verfolgungsmaßnahmen erfüllt. Er übersieht dabei, daß das Gesetz in jeden Falle außerdem die Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG verlangt. Allerdings ist dem LSG darin zuzustimmen, daß bei einem Andauern eines Auslandsaufenthalts infolge von Verfolgungsmaßnahmen die Verfolgteneigenschaft zu bejahen ist. Nach § 1 BEG ist Verfolgter, wer aus Gründen u.a. der Rasse durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden u.a. im wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat. Als solcher Schaden gilt ein in § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG unterstellter Schaden in der Sozialversicherung (§ 138 BEG). Nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen sind nach § 2 BEG Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder einer Amtsstelle u.a. des Reiches oder der NSDAP gegen den Verfolgten gerichtet worden sind.
Wegen der Verweisung und des Zusammenhangs mit § 1 BEG ist deshalb die Rechtsprechung zu dieser Vorschrift bedeutsam. Zutreffend hat das LSG dabei auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 20. Oktober 1967 (Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH, Nr. 74 zu § 1 BEG 1956 = RzW 1968 S. 168) hingewiesen. Danach kann eine Verfolgung auch darin bestehen, daß einem deutschen Staatsangehörigen das Recht auf Heimkehr in das deutsche Reich verwehrt worden ist. Der BGH hält es für unerheblich, ob der Heimkehrwillige sich einer Zurückweisung an der Grenze oder der Gefahr eines alsbaldigen Zugriffs aus Verfolgungsgründen nach der Rückkehr ausgesetzt hat; individuelle, konkrete Verfolgungsmaßnahmen (vgl. Nr. 27 zu § 1 BEG = RzW 1959 S. 216) seien hier nicht zu verlangen; es genüge, daß der in die Emigration ausgewichene deutsche Staatsangehörige im Einzelfall darzutun vermöge, daß er zur Rückkehr nach Deutschland genötigt war oder das ernstlich beabsichtigte, davon aber wegen der Gefahr der Verfolgung Abstand nahm. Das gleiche gelte für deutsche Staatsangehörige, die Deutschland vor dem 30. Januar 1933 verlassen haben, sofern sie eine ernstlich erwogene und ausführbare Heimkehr wegen der Verfolgungsdrohung nicht verwirklicht haben.
Der Senat sieht keinen Grund, diesen überzeugenden Ausführungen des BGH im Rahmen des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG nF nicht zu folgen. Wie schon hervorgehoben, verlangt die Vorschrift die Verfolgteneigenschaft iS des § 1 BEG. Die Neufassung der §§ 1320 RVO, 99 AVG (vgl. dazu die frühere Fassung der §§ 1321 RVO, 100 AVG, jeweils Abs. 5), die zudem keine Definition der Verfolgteneigenschaft gibt, hat insoweit keine Bedeutung. Nach den §§ 1 und 2 BEG hängt die Verfolgteneigenschaft davon ab, daß Verfolgungsmaßnahmen gegen den Verfolgten gerichtet waren. Die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 kann hierbei nicht allgemein als eine gegen alle in- und ausländischen Juden gerichtete Verfolgungsmaßnahme angesehen werden. Bei Personen (Juden), die im Ausland lebten, ist zwar vernünftigerweise nicht zu verlangen, daß sie sich durch Rückkehr nach Deutschland ernstlich einer Verfolgungsgefahr aussetzten (vgl. § 9 Abs. 3 BEG); von einer Verfolgung und gegen sie gerichteten Verfolgungsmaßnahmen kann aber umgekehrt nicht schon die Rede sein, wenn nur Verfolgungsgründe iS des § 1 BEG gegeben gewesen wären; der Nachweis einer Gegnerschaft zum Nationalsozialismus, einer bestimmten Rasse, eines bestimmten Glaubens oder einer bestimmten Weltanschauung kann daher nicht genügen. Einleuchtend und sachgerecht ist somit nur, zur Annahme einer Verfolgung zusätzlich den Nachweis eines ernstlichen, d.h. konkreten Rückkehrwillens zu verlangen.
Hieran hat die Neufassung des § 28 Abs. 1 Nr. 4 AVG nichts geändert. Sie hat ohnedies nur der Klarstellung dienen sollen. Auch soweit danach zu prüfen ist, ob ein Auslandsaufenthalt infolge von Verfolgungsmaßnahmen angedauert hat, bleibt es dabei, daß eine Verfolgungsmaßnahme die wesentliche Ursache für die Fortdauer des Auslandsaufenthalts gewesen sein muß. Das setzt voraus, daß der Betreffende die Absicht gehabt hat, nach Deutschland zurückzukehren, wegen ihm drohender Verfolgung davon jedoch Abstand genommen hat.
Nicht zu beanstanden ist dabei, daß das LSG für den Nachweis des Rückkehrwillens nicht die bloße Bekundung dieses Willens hat ausreichen lassen. Auch der BGH hat die mindestens ernstliche Absicht gefordert. Da es sich hierbei um einen inneren Vorgang handelt, bedarf es äußerer Anzeichen, aus denen die ernstliche Absicht zu entnehmen ist. Anforderungen dieser Art stellt die Rechtsprechung auch in anderen Fällen, in denen gleichfalls ein ernstlicher Wille festzustellen ist (außer der vom LSG angeführten Rechtsprechung vgl. z.B. BSG 20, 190 für den Nachweis einer ernstlichen Arbeitsbereitschaft).
Das LSG hat keine Umstände feststellen können, die eine ernstliche Rückkehrabsicht des Klägers in der Zeit ab dem 30. Januar 1933 belegen konnten. Gegen die insoweit getroffenen tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger keine Verfahrensrügen erhoben, so daß sie für den Senat bindend sind. Das LSG hat bei seiner Beweiswürdigung auch keinen zu hohen Maßstab angelegt; es hat für seine Überzeugung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit genügen lassen; ob es nicht sogar der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit bedurft hätte, kann dahingestellt bleiben.
Die Revision war daher zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung, die auch für die Kosten des Beschwerdeverfahrens gilt, beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen