Orientierungssatz
Es gibt keinen Rechtssatz, daß eine nachgewiesene Beschäftigung die Entrichtung von Beiträgen glaubhaft werden läßt (so BSG vom 17.12.1986 11a RA 59/85 = SozR 5745 § 1 VuVO Nr 2).
Normenkette
VuVO § 1 Abs 1 S 1; VuVO § 1 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 26.10.1988; Aktenzeichen III JBf 154/85) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 11.07.1985; Aktenzeichen 1 J 336/83) |
Tatbestand
Die am 2. März 1913 geborene Klägerin begehrt die Berücksichtigung einer weiteren Beitragszeit vom 20. Januar bis zum 28. Februar 1933, einer weiteren Ersatzzeit vom 1. März 1933 bis zum 1. August 1936 sowie einen früheren Beginn ihres Altersruhegeldes ab Vollendung des 65. Lebensjahres.
Nach dem Schulbesuch bis 1929 arbeitete die Klägerin, die Jüdin ist, von 1930 bis Mitte 1931 in einer Gewürz- und Darmhandlung in H . Anschließend erlernte sie ein halbes Jahr lang in einem jüdischen Kinderheim die Kinderpflege. Ab 4. Oktober 1932 arbeitete sie in W in Westfalen als Hausgehilfin. Neben Kost und Unterkunft erhielt sie zunächst 20,-- RM monatlich ausgezahlt und ab 1. Dezember 1932 10,-- RM. Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Klägerin in W bis zum 19. Januar oder 28. Februar 1933 tätig gewesen ist. Nach ihrer Entlassung verrichtete sie bis zu ihrer Auswanderung nach Amerika am 2. August 1936 keine Erwerbstätigkeit mehr.
Mit Bescheid vom 23. April 1982 bewilligte die Beklagte der Klägerin das am 4. Dezember 1979 beantragte Altersruhegeld ab 1. Dezember 1979. Dabei berücksichtigte die Beklagte die Zeiten vom 4. Oktober 1932 bis zum 19. Januar 1933 als Beitragszeit und vom 2. August 1936 bis zum 31. Dezember 1949 als verfolgungsbedingte Ersatzzeit.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage der Klägerin abgewiesen und das Landessozialgericht (LSG) ihre Berufung zurückgewiesen (Urteile vom 11. Juli 1985 und 26. Oktober 1988). Das Berufungsgericht hat ausgeführt, die streitige Beitragszeit könne weder als glaubhaft gemacht angesehen werden, noch fehlten Anhaltspunkte dafür, daß aus Verfolgungsgründen keine Beiträge entrichtet worden seien. Die von der Klägerin beanspruchte Ersatzzeit ab März 1933 könne nicht angerechnet werden, weil eine etwaige Arbeitslosigkeit damals nicht durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden sei oder infolge solcher Maßnahmen angedauert habe. Der Beginn des Altersruhegeldes am 1. Dezember 1979 sei nicht zu beanstanden, weil die Klägerin vorher die Wartezeit nicht erfüllt hätte.
Dieses Urteil hat die Klägerin mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie trägt vor, entgegen der Auffassung des LSG habe 1933 bei einem neben freier Kost und Logis gezahlten Entgelt von 10,-- RM monatlich Versicherungspflicht bestanden. Gehe man von einer Beschäftigung bis zum 28. Februar 1933 aus, so sei durchaus glaubhaft, daß sie aus Verfolgungsgründen entlassen worden sei.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Beklagte zu verurteilen, unter Berücksichtigung weiterer Beitragszeiten vom 20. Januar 1933 bis zum 28. Februar 1933 sowie weiterer Ersatzzeiten vom 1. März 1933 bis zum 1. August 1936 Altersruhegeld bereits ab 1. April 1978 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Wegen der streitigen Beitragszeit vom 20. Januar bis zum 28. Februar 1933 kann auf die Revision der Klägerin das angefochtene Urteil des LSG nicht aufgehoben werden. Dieses hat das hier angesprochene Klagebegehren aus mehreren Gründen abgelehnt. Zunächst hat das LSG ausgeführt, die Klägerin sei damals bei einem Barentgelt von 10,-- RM monatlich neben Unterkunft und Verpflegung nicht versicherungspflichtig gewesen. Eine Beitragszahlung könne daher nicht iS des § 1 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960 als glaubhaft gemacht angesehen werden. Das Berufungsgericht hat sodann auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. November 1963 (SozR Nr 1 zu § 1 VuVO) hingewiesen, wonach es keine Beweisregel gebe, daß beim Nachweis einer rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung auch Beiträge entrichtet worden seien (vgl auch Urteil des BSG vom 17. Dezember 1986 in SozR 5745 § 1 Nr 2). Um so weniger könne - ohne weitere Anhaltspunkte - angenommen werden, Beiträge zur Rentenversicherung seien entrichtet worden, obwohl die Beschäftigung nicht versicherungspflichtig gewesen sei.
Die zweite Begründung des LSG geht dahin, gegen eine Beitragszahlung über den 19. Januar 1933 hinaus spreche, daß nur bis zu diesem Zeitpunkt Krankenversicherungsbeiträge entrichtet worden seien. Es sei nicht ersichtlich, weshalb die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung vom Arbeitgeber der Klägerin unterschiedlich behandelt worden sein sollten. Schließlich seien auch die eigenen Angaben der Klägerin zu der behaupteten Beitragszeit widersprüchlich.
Das LSG ist zu der Erkenntnis gelangt, das Ende der Krankenversicherungsbeiträge am 19. Januar 1933 spreche gegen eine über diesen Zeitpunkt hinausgehende Beitragsleistung zur damaligen Invalidenversicherung. Diese Beweiswürdigung ist von der Klägerin nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffen worden. Sie wendet sich nur gegen die Annahme des LSG, damals habe Versicherungsfreiheit bestanden. Außerdem ist sie der Ansicht, es sei davon auszugehen, daß bei einer ununterbrochenen Beschäftigung bei demselben Arbeitgeber weiterhin Beiträge zur Sozialversicherung entrichtet worden seien, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte dagegen sprächen. Das widerspricht der Rechtsprechung des BSG, wonach es keinen Rechtssatz gibt, daß eine nachgewiesene Beschäftigung die Entrichtung von Beiträgen glaubhaft werden läßt (so Urteil vom 17. Dezember 1986 aaO). Als konkreten Anhaltspunkt gegen eine Beitragszahlung zur Rentenversicherung hat das LSG die Beendigung der Mitgliedschaft in der Krankenversicherung angesehen. Da diese Schlußfolgerung von der Klägerin nicht angegriffen worden ist, war der Senat an die entsprechenden Feststellungen des LSG gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gebunden. Es kann somit unentschieden bleiben, ob Versicherungspflicht bestanden hat oder nicht.
Der nächste Punkt im Klagebegehren der Klägerin betrifft eine verfolgungsbedingte Ersatzzeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Unter diese Vorschrift fallen ua Zeiten einer Arbeitslosigkeit bis zum 31. Dezember 1946, sofern sie durch Verfolgungsmaßnahmen iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Letzteres trifft für die Klägerin zu. Das LSG ist jedoch zu der Überzeugung gelangt, daß die von der Klägerin ab März 1933 geltend gemachte Arbeitslosigkeit weder durch Verfolgungsmaßnahmen verursacht worden ist noch infolge derartiger Maßnahmen angedauert hat.
Nach § 2 BEG sind nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihrer angeschlossenen Verbände gegen den Verfolgten gerichtet sind. Es muß sich um eine individuelle und konkrete Verfolgungsmaßnahme gehandelt haben (vgl BSG in SozR 2200 § 1251 Nr 43). Dazu hat die Klägerin vorgetragen, sie sei 1933 von ihren jüdischen Arbeitgebern entlassen worden, weil ein bei diesen tätig gewesenes arisches Kindermädchen (oder eine Hausangestellte) die eigene Wiedereinstellung erzwungen habe. Ob das zutrifft, hat das LSG dahingestellt sein lassen. Wenn die Klägerin aus solchen Gründen entlassen worden sei, dann habe es sich um einen privaten Racheakt des Kindermädchens, der ehemaligen Arbeitnehmerin, gegen den Arbeitgeber gehandelt. Von einer Billigung oder Veranlassung von Verfolgungsmaßnahmen durch staatliche Dienststellen oder solche der NSDAP könne nicht schon dann gesprochen werden, wenn das Verhalten einzelner Personen ganz allgemein den Parteizielen oder der Parteiideologie entsprochen habe.
Diese Auffassung des LSG stimmt mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) überein, wonach ein Entschädigungsanspruch nach § 2 BEG nur dort gegeben ist, wo staatliche Stellen oder Dienststellen der NSDAP Gewaltmaßnahmen verübt, veranlaßt oder gebilligt haben, nicht jedoch bei sonstigen Gewaltmaßnahmen von Privatpersonen, auch wenn ein einzelnes Parteimitglied sich in seinem Verhalten durch die allgemeine Propaganda seitens der NSDAP bestimmen ließ (vgl BGH Urteile vom 3. November 1961 und 13. Januar 1967 in RzW 62, 168 und 67, 313; Ehrenthal, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs in Entschädigungssachen im Jahre 1978, in RzW 79, 161 zum Beschluß des BGH vom 6. Juli 1978 - IX ZB 614/75 -). Nach der Entscheidung des BGH vom 1. Juni 1978 (vgl RzW 78, 215) sind in der Übergangszeit vor der Machtergreifung Hitlers von Privatpersonen aus Verfolgungsgründen ergriffene schädigende Maßnahmen, die örtliche oder überörtliche Dienststellen oder Amtsträger der NSDAP gelenkt oder gebilligt hatten, als Staatsunrecht iS des § 2 BEG anzuerkennen, wenn die rechtsstaatliche Ordnung bereits so erschüttert war, daß die staatlichen Organe nicht mehr bereit und gewillt waren, die Betroffenen wie andere Staatsbürger zu schützen, oder daß Privatpersonen sich dem rechtswidrigen Ansinnen von Parteidienststellen nicht mehr zu widersetzen wagten, weil sie Repressalien fürchteten.
Die Klägerin trägt vor, gehe man von einer glaubhaft gemachten Tätigkeit bis Ende Februar 1933 aus, so sei auch glaubhaft, daß die Klägerin nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten auf Druck einer früheren Haushälterin ihres Arbeitgebers entlassen worden sei. Insoweit an der Aussage insbesondere ihres Bruders zu zweifeln, bestehe "bei zutreffender Beweiswürdigung keinerlei Veranlassung". Die vom LSG vorgenommene Wertung der von jener Haushälterin angedrohten Maßnahmen als privaten Racheakt sei unverständlich. Mit diesem Vorbringen sind Verfahrensmängel nicht formgerecht gemäß § 164 Abs 2 Satz 3 SGG gerügt worden. Die Klägerin sieht die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts als unrichtig an. Es ist aber weder schlüssig ein Überschreiten der Grenzen freier Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) noch etwa eine Verletzung der Denkgesetze aufgezeigt worden. Deshalb ist auch hier der erkennende Senat an die nicht mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des LSG gebunden. Da anhand dieser Feststellungen eine verfolgungsbedingte Arbeitslosigkeit nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO verneint werden muß, kann es dahingestellt bleiben, ob eine etwaige Arbeitslosigkeit nicht erst am 1. August 1936, sondern schon vorher bei der Eheschließung der Klägerin oder der Geburt ihrer Tochter endete.
Ohne die vorstehend erwähnten Beitrags- und Ersatzzeiten hatte die Klägerin die damals für das Altersruhegeld erforderliche Wartezeit nicht erfüllt, als sie das 65. Lebensjahr vollendete. Die beantragte Vorverlegung des Rentenbeginns ist damit zutreffend verneint worden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen