Leitsatz (amtlich)
Arbeitslosigkeit iS von RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 ist auch dann durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden, wenn der Versicherte aufgrund von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen gegen seinen Arbeitgeber seine Beschäftigung verloren hat (Anschluß an BGH 1962-10-24 IV ZR 131/62 = LM Nr 39 zu § 64 BEG).
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 02.03.1977; Aktenzeichen L 6 J 84/76) |
SG Berlin (Entscheidung vom 10.06.1976; Aktenzeichen S 27 J 1273/75) |
Tenor
Auf die Revision der Klägerin und der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 2. März 1977 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten außerhalb eines Leistungsfeststellungsverfahrens darum, ob die jüdische Klägerin Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit vom 1. Juli 1933 bis zum 22. Dezember 1933 sowie vom 25.Februar 1935 bis zum 31. Januar 1936 zurückgelegt hat (§ 1251 Abs 1 Nr 4 Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Für die 1915 in B./Kreis H geborene Klägerin wurde von der früheren Landesversicherungsanstalt (LVA) Berlin am 13. August 1934 die Quittungskarte Nr 1 mit der Berufsbezeichnung "Haustochter" ausgestellt und am 13. März 1935 mit 62 Beitragsmarken der Klasse II für die Zeit vom 23. Dezember 1933 bis zum 24. Februar 1935 aufgerechnet. Aus Hebelisten der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) für den Kreis Höxter geht hervor, daß die Klägerin vom 1. Oktober 1929 bis zum 10. Juni 1933 als Lehrling bei Arbeitgeber L. in B. Pflichtmitglied der Kasse war.
Mit Bescheid vom 4. Dezember 1974 erkannte die Beklagte 164 Pflichtbeiträge (Klasse O) für die Zeit vom 1. Oktober 1929 bis zum 10. Juni 1933 an. Die Klägerin verlangt darüber hinaus die Anerkennung der Zeiten vom 1. Juli bis zum 22. Dezember 1933 sowie vom 25. Februar 1935 bis zum 31. Januar 1936 als Ersatzzeiten wegen verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit. Sie sei aus dem jüdischen Lebensmittelgeschäft L. nach dem Boykott vom 1. April 1933 ausgeschieden und durch einen anderen Lehrling abgelöst worden, da die Firma sie als Angestellte nicht habe halten können. Danach habe sie in B. mehrere Monate Arbeitslosengeld bezogen, aber als Jüdin trotz ihrer Bemühungen keine Stellung gefunden. Sie sei im Dezember 1933 nach Berlin gegangen und im Haushalt und Geschäft des jüdischen Firmeninhabers W. tätig gewesen, bis man sie Anfang 1935 auch dort nicht mehr habe beschäftigen können. Dann habe sie in jüdischen Haushalten stundenweise schwarz gearbeitet und kurz vor der Eheschließung (14. Februar 1936) bei Verwandten ihres Ehemannes gewohnt.
Nachdem der Widerspruch und die Klage erfolglos geblieben waren, hat das Landessozialgericht (LSG) durch Urteil vom 2. März 1977 die Beklagte unter Zurückweisung der weitergehenden Berufung verpflichtet, die Zeit vom 1. Juli bis zum 30. November 1933 als Ersatzzeit anzuerkennen: Zwar habe die Klägerin 1933 ihre Stellung in B. nicht durch Verfolgung verloren, weil sich die von ihr genannten Boykottmaßnahmen nicht gegen sie, sondern gegen ihren jüdischen Arbeitgeber gerichtet hätten; sie sei jedoch verfolgungsbedingt arbeitslos geblieben, bis sie im Dezember 1933 in Berlin eine neue Arbeitsstelle gefunden habe. Während des zweiten geltend gemachten Zeitabschnitts sei die Klägerin nicht arbeitslos gewesen, da sie sich nicht um einen Arbeitsplatz bemüht habe.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision wenden sich Klägerin und Beklagte, soweit sie jeweils unterlegen sind, gegen dieses Urteil. Während die Klägerin vorträgt, die infolge Boykotts jüdischer Arbeitgeber entlassenen jüdischen Arbeitnehmer seien unmittelbar durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geschädigt, die gesamten Umstände sprächen für die Anerkennung der strittigen Zeiten, macht die Beklagte geltend, es müsse im Einzelfall glaubhaft gemacht sein, daß Arbeitslosigkeit vorgelegen habe und auf einer nationalsozialistischen Gewaltmaßnahme beruhe.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Beklagte zu verurteilen, als weitere Verfolgtenersatzzeit die Zeiträume vom 1. bis zum 22. Dezember 1933 und vom 25. Februar 1935 bis zum 31. Januar 1936 anzuerkennen sowie die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit die Beklagte verurteilt worden ist, sowie die Berufung und Revision der Klägerin zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision beider Beteiligter ist insofern begründet, als der Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden muß. Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Ob der Klägerin die streitigen Zeiten als Ersatzzeiten anzurechnen sind, beurteilt sich nach § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO idF des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVÄndG, BGBl I 1846). Danach sind Ersatzzeiten ua Zeiten einer Arbeitslosigkeit bis zum 31. Dezember 1946, sofern die Arbeitslosigkeit durch Verfolgungsmaßnahmen im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat, wenn der Versicherte Verfolgter iS des § 1 BEG ist. Das LSG hat zwar verneint, daß die Klägerin verfolgungsbedingt arbeitslos geworden sei; sie sei aber aufgrund von Verfolgungsmaßnahmen arbeitslos geblieben. Dem vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Unter Verfolgungsmaßnahmen iS des § 1251 Abs 1 Nr 4 RVO sind - ebenso wie unter den nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen des § 2 BEG (vgl § 1 Abs 1 BEG, wonach zum Verfolgtenbegriff die Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen gehört) - solche Maßnahmen zu verstehen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG, dh ua aus rassischen Gründen, auf Veranlassung oder mit Billigung einer damaligen Dienststelle oder eines Amtsträgers gegen den Verfolgten "gerichtet" worden sind. An diesem sog Richtungserfordernis fehlt es im Falle der Klägerin; es ist nicht glaubhaft gemacht (§ 3 WGSVG), daß die Arbeitslosigkeit der Klägerin in der Zeit von Juli bis Dezember 1933 aufgrund individuell-konkreter Verfolgung andauerte (vgl hierzu Blessin-Giessler, Komm zum BEG 1967 Anm IV 1 und 2 zu § 2). Die vom LSG genannten allgemeinen Tatsachen, wie die raschere Verbreitung des Nationalsozialismus auf dem Land und in Kleinstädten, die dort größere Gefahr der Denunziation und die Annahme, Juden seien in jenen Gegenden bekannt gewesen, können - unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt oder Wahrscheinlichkeitsgrad - die Voraussetzung der konkreten Verfolgung weder erfüllen noch dieses Erfordernis ersetzen. In dem auch von der Klägerin zitierten Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 27. März 1974 (SozR 5070 § 14 Nr 1) ist - wenngleich im Zusammenhang mit einer anderen Vorschrift des Verfolgtenrechts in der Sozialversicherung - ebenfalls auf die erforderlichen individuellen und konkreten Verfolgungsmaßnahmen hingewiesen und ausgeführt worden, der allgemeine Verfolgungsdruck in der damaligen Zeit gegen jüdische Mitbürger genüge nicht. Der Vortrag der Klägerin, sich in B. um eine Stellung bemüht, eine solche aber als Jüdin nicht gefunden zu haben, vermag schlüssig keine Verfolgungsmaßnahme darzutun. Hierzu hätte die Klägerin zumindest glaubhaft machen müssen, daß hinreichend Arbeitsmöglichkeiten bestanden haben, ohne daß sie vermittelt bzw eingestellt wurde; die bevorzugte Vermittlung oder Einstellung vom Nationalsozialismus begünstigter Arbeitsloser reicht nicht aus (§ 88 Nr 4 BEG und BGH in Lindenmaier-Möhring - LM - Nr 6 zu § 88 BEG).
Dennoch kann der Senat über den Zeitraum ab Juli 1933 nicht abschließend entscheiden. Denn es bleibt die Möglichkeit offen, daß die Arbeitslosigkeit der Klägerin durch Verfolgungsmaßnahmen "hervorgerufen" worden ist. Der Rechtsansicht des Berufungsgerichts, dem von der Klägerin behaupteten Boykott gegen den Arbeitgeber L. und ihrer darauf zurückgeführten Entlassung aus der Firma sei deshalb keine entscheidungserhebliche Bedeutung beizumessen, weil der Stellungsverlust nicht auf einer unmittelbar gegen die Klägerin gerichteten nationalsozialistischen Gewaltmaßnahme beruhe, vermag der Senat nicht zu folgen. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat mehrfach ausgesprochen, daß ein jüdischer Arbeitnehmer, der von einem jüdischen Unternehmer infolge der Auswirkungen des Boykotts entlassen wurde, selbst in seinem beruflichen Fortkommen durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geschädigt worden sei; der Boykott habe den jüdischen Personenkreis in seiner Gesamtheit treffen sollen und sich damit auch gegen den jüdischen Arbeitnehmer gerichtet (so insbesondere BGH in LM Nr 39 zu § 64 BEG = RzW 1963, 119; ferner RzW 1965, 175). Der Senat sieht keinen Anlaß, einen hiervon abweichenden Standpunkt einzunehmen und den entschädigungsrechtlichen Begriff der nationalsozialistischen Gewaltmaßnahme in der Sozialversicherung anders auszulegen.
Das Berufungsgericht hat von seinem abweichenden Rechtsstandpunkt aus weder festgestellt, ob der Arbeitgeber der Klägerin tatsächlich von einem Boykott betroffen wurde, noch hat es geklärt, ob der Umstand, daß die Klägerin ihre Stellung bei der Firma L. verlor, im wesentlichen auf dem Boykott beruhte; der Inhalt dieses Teiles der Urteilsgründe läßt vielmehr erkennen, daß das LSG schon aus - nicht zutreffenden - Rechtsgründen der Ansicht war, eine Entlassung der Klägerin wegen eines Boykotts des Arbeitgebers sei keine gegen sie gerichtete nationalsozialistische Gewaltmaßnahme gewesen. Die insoweit noch erforderlichen Ermittlungen kann nicht das Revisionsgericht, sondern muß die Tatsacheninstanz anstellen. Dabei wird von Bedeutung sein, wie sich die wirtschaftliche Situation der Firma L. vor dem 30. Januar 1933 und nach dem 1. April 1933 gestaltet hat. Vor allem ist jedoch zu klären, ob für die Klägerin, die eigenen Angaben zufolge damals als Lehrling ausschied, ein anderer Lehrling eingestellt wurde. War dies wiederum eine Person jüdischer Herkunft, so spräche dies gegen eine verfolgungsbedingte Entlassung der Klägerin (vgl hierzu auch BGH in LM Nr 13 zu § 64 BEG).
Was das Ende der streitigen Ersatzzeit betrifft, wird das LSG zu beachten haben, daß die Klägerin eine Anerkennung bis zum 22. Dezember 1933 begehrt, während die Gründe des angefochtenen Urteils nichts darüber ergeben, weshalb das LSG die Zeit vom 1. bis 22. Dezember 1933 nicht als Ersatzzeit anerkannt hat (vgl. § 1250 Abs 2 S 3 RVO; SozR Nr 16 zu § 1250 RVO).
Zur Beurteilung des zweiten geltend gemachten Zeitraumes (ab 25. Februar 1935) hat das LSG zutreffend die Begriffsbestimmung der Arbeitslosigkeit dem § 89 a des Gesetzes über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) vom 16. Juli 1927 (RGBl I 187) idF des Gesetzes vom 9. Oktober 1929 (RGBl I 162) entnommen und auch den § 1251 Abs 3 RVO idF des WGSVÄndG berücksichtigt. Mit Recht ist das Berufungsgericht ferner vom Erfordernis der ernstlichen Arbeitsbereitschaft ausgegangen (vgl. SozR Nr 64 zu § 1251 RVO). Von diesem Erfordernis kann auch nicht im Hinblick auf den erwähnten Abs 3 des § 1251 RVO abgesehen werden; darin ist lediglich bestimmt worden, daß es nicht schadet, wenn sich der Verfolgte der für die Arbeitsvermittlung zuständigen Behörde nicht zur Verfügung gestellt, sich also beim Arbeitsamt nicht gemeldet hat (vgl BT-Drucks VI 715 S 12, RegEntw zu Art 2 § 2 Nr 16 WGSVÄndG).
Soweit jedoch das LSG eine ernstliche Arbeitsbereitschaft deshalb verneint hat, weil die Klägerin eigenen Angaben zufolge um kein offizielles Arbeitsverhältnis bemüht gewesen sei, reichen seine Feststellungen für eine abschließende Entscheidung nicht aus. Es muß vielmehr noch ermittelt werden, aus welchen Gründen im einzelnen die Klägerin ihre Bemühungen auf "nicht - offizielle" Arbeitsverhältnisse beschränkt, wovon sie ihren Lebensunterhalt damals bestritten, welche Arbeiten sie geleistet hat und wo und in welchem zeitlichen Ausmaß sie jeweils etwa beschäftigt gewesen ist. Auch wird zu prüfen sein, bis wann die Klägerin bei W. gearbeitet und gewohnt, wann sie ihren späteren Ehemann kennengelernt und ab wann sie etwa in dessen Geschäft geholfen hat. Sollte sich danach ergeben, daß die Klägerin arbeitslos gewesen ist, wäre nach denselben Kriterien wie für den ersten Zeitabschnitt zu untersuchen, ob die Arbeitslosigkeit durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen hervorgerufen worden ist oder infolge solcher Maßnahmen angedauert hat.
Zur Nachholung der hiernach noch erforderlichen Ermittlungen mußte der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen