Beteiligte
Kläger und Revisionskläger |
Beklagte und Revisionsbeklagte |
Tatbestand
I
Der im Jahr 1907 geborene Kläger ist Jude und Verfolgter. Er war zunächst in Deutschland beschäftigt und wanderte im Jahr 1938 nach Südamerika aus. Die für ihn ausgestellten Quittungskarten Nr. 1 bis 8 der Versicherungsanstalt Berlin enthalten Invalidenversicherungsmarken für die Zeiten von 1923 bis 30. Juni 1933 sowie vom 20. Oktober 1935 bis 14. Februar 1936.
Nach einem erfolglosen Rentenantrag im Jahr 1963 beantragte der Kläger im Dezember 1967 erneut Rente wegen Erwerbsunfähigkeit oder Berufsunfähigkeit. Die Beklagte lehnte den Antrag zunächst ab, bewilligte aber dann mit Bescheid vom 19. Februar 1973 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit für die Zeit vom 1. Dezember 1967 bis 30. April 1972; dabei berücksichtigte sie nicht die Zeit von Juni 1933 bis Oktober 1935, für die keine Beiträge entrichtet waren.
Der Kläger hat mit der Klage beantragt, die Rente unter Berücksichtigung einer von Juni 1933 bis Oktober 1935 laufenden Ersatzzeit der verfolgungsbedingten Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Das Sozialgericht (SG) Berlin, dem die Rentenakten, aber nicht die Quittungskarten des Klägers vorlagen, hat mit Urteil vom 24. Oktober 1974 die Klage abgewiesen, weil eine Arbeitslosigkeit des Klägers während dieser Zeit weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht sei. Mit der Berufung hat der Kläger gerügt, das SG hätte im Rahmen der Offizialmaxime die Quittungskarten beiziehen und berücksichtigen müssen; aus diesen Karten, aus seinem, des Klägers, Vorbringen und aus dem Arbeitsbuch ergebe sich, daß er von 1933 bis 1935 arbeitslos gewesen sei. Das Berufungsgericht hat mit Urteil vom 23. November 1977 die Berufung als zulässig angesehen, aber als unbegründet zurückgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: die Berufung sei zulässig, weil der Kläger zu Recht als wesentlichen Mangel gerügt habe, daß das SG die Quittungskarten nicht beigezogen habe; aus diesen "hätte sich ergeben können, daß der Kläger während des streitigen Zeitraums arbeitslos war". Die Berufung sei jedoch nicht begründet, weil es weder erwiesen noch überwiegend wahrscheinlich sei, daß der Kläger arbeitslos aus Verfolgungsgründen gewesen sei. Aus dem eigenen Vorbringen des Klägers ergebe sich nicht, daß er seinen Arbeitsplatz im Juni 1933 deshalb verloren habe, weil er Jude gewesen sei, vielmehr sei es ebenso wahrscheinlich, daß der Arbeitgeber ihn entlassen habe, weil dieser selbst Jude gewesen sei.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 und Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO); er sei verfolgungsbedingt arbeitslos gewesen, wobei es aus Rechtsgründen gleichgültig sei, ob sich die Verfolgungsmaßnahmen gegen ihn oder gegen seinen Arbeitgeber gerichtet hätten.
Er beantragt sinngemäß,die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 23. November 1977 und des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 1974 aufzuheben, den Bescheid der Beklagten vom 19. Februar 1973 zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, für die Zeit vom 1. Dezember 1967 bis zum 30. April 1972 unter Berücksichtigung einer zusätzlichen Ersatzzeit von Juli 1933 bis Oktober 1935 eine höhere Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 23. November 1977 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 1974 als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise: die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie trägt vor: Da die Quittungskarten keine Eintragungen über Arbeitslosigkeit in dem hier interessierenden Zeitraum enthielten, sei ihre Nichtbeiziehung durch das SG kein wesentlicher Verfahrensmangel.
Die beigeladene Landesversicherungsanstalt hat keine Erklärung abgegeben.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist insoweit begründet, als die Sache zurückverwiesen werden mußte.
Entgegen der Auffassung der Beklagten ist die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG, die dieses nicht zugelassen hatte und die nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betraf (vgl. § 146 Sozialgerichtsgesetz -SGG-), ausnahmsweise zulässig, weil der Kläger einen wesentlichen Mangel des sozialgerichtlichen Verfahrens gerügt hat (§ 150 Nr. 2 SGG). Das SG hat nämlich entgegen § 103 Satz 1 Halbsatz 1 SGG den Sachverhalt nicht von Amts wegen genügend erforscht. Es hat unterlassen, die im Archiv der Beklagten lagernden Quittungskarten Nr. 1 bis 8, deren Vorhandensein ihm bekannt war, beizuziehen und zum Zwecke des Beweises auszuwerten. Dazu war das SG auch nach seiner - insoweit maßgebenden (Meyer-Ladewig, SGG, Rz. 15 zu § 150) - Rechtsansicht verpflichtet. Für die Entscheidung kam es darauf an, ob und aus welchen Gründen der Kläger in den Jahren 1933 bis 1935 arbeitslos war; lag eine Arbeitslosigkeit vor und war sie durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen, so war die Zeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO als Ersatzzeit anzurechnen. Die Quittungskarten waren taugliche Beweismittel für das Vorliegen einer Arbeitslosigkeit. Denn aus ihnen ergibt sich, daß in dem streitigen Zeitraum von Juli 1933 bis Oktober 1935 eine Beitragslücke bestand, was in Verbindung mit dem Vorbringen des Klägers möglicherweise zum Beweis dafür ausreicht, daß dieser damals nicht beschäftigt, also arbeitslos war.
In der Sache selbst hat das Berufungsgericht die Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO nicht richtig angewendet. Nach dieser Bestimmung werden für die Erfüllung der Wartezeit (und für die Rentenhöhe vgl. §§ 1255a, 1258 RVO) u.a. angerechnet die Zeiten einer Arbeitslosigkeit bis zum 31. Dezember 1946, sofern diese durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen worden ist und der Versicherte Verfolgter im Sinne des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) ist. Der Rechtsauffassung des Landessozialgerichts (LSG), eine Arbeitslosigkeit sei nur dann durch Verfolgungsmaßnahmen hervorgerufen, wenn diese sich unmittelbar gegen den Versicherten gerichtet habe, ist der Senat bereits früher entgegengetreten (Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 39/77 - SozR 2200 § 1251 Nr. 43). Nach diesem Urteil ist ein jüdischer Arbeitnehmer, der von einem jüdischen Unternehmer infolge der Auswirkungen des Boykotts entlassen wurde, selbst in seinem beruflichen Fortkommen durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geschädigt worden (vgl. auch die Rechtsprechung des BGH in LM Nr. 39 zu § 64 BEG = RzW 1963, 119 und in RzW 1965, 175). An dieser Auffassung hält der Senat auch nach neuer Prüfung fest.
Das LSG hat, von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig, weder festgestellt, ob der Arbeitgeber des Klägers tatsächlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen wurde, noch hat es geklärt, ob eine etwaige Arbeitslosigkeit des Klägers im wesentlichen auf den Auswirkungen solcher Maßnahmen beruhte.
Die insoweit noch erforderlichen Ermittlungen kann nicht das Revisionsgericht, sondern muß die Tatsacheninstanz anstellen.
Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Die Sache war an das LSG Berlin, das auch über die Kosten entscheiden wird, zurückzuverweisen.4 RJ 59/78
Bundessozialgericht
Verkündet am 29. Mai 1979
Fundstellen