Orientierungssatz
Zur Frage der Zulässigkeit der Berufung im Falle ihrer ausdrücklichen Nichtzulassung durch das erstinstanzliche Gericht, wenn ein wesentlicher Verfahrensmangel durch Verletzung der Sachaufklärungspflicht gerügt wird.
Normenkette
SGG § 150 Nr. 1 Fassung: 1974-07-30, Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 22.10.1974; Aktenzeichen L 4 V 1067/73) |
SG Marburg (Entscheidung vom 18.10.1973; Aktenzeichen S 5 V 22/72) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 22. Oktober 1974 wird aufgehoben. Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Marburg vom 18. Oktober 1973 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger bezieht wegen Armverletzungsfolgen eine Beschädigtenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 60 v. H. Bis 1975 bewirtschaftete er einen landwirtschaftlichen Betrieb von ca. 15,3 ha Größe. Durch notariellen Vertrag vom 16. März 1971 schenkte er seiner Ehefrau die ideelle Hälfte seines Grundstückseigentums. Mit Rücksicht darauf beantragte der Kläger im Mai 1971 beim Versorgungsamt (VersorgA) eine Neufeststellung seiner Versorgungsbezüge (ua Ausgleichsrente und Berufsschadensausgleich); Einkommen solle nur entsprechend seinem halben Eigentum an den nicht gepachteten Betriebsflächen angerechnet werden. Der Antrag wurde abgelehnt, weil der Kläger weiterhin der Unternehmer des Betriebes sei und daher die Betriebseinkünfte voll angerechnet werden müßten (Bescheid vom 19. Mai 1971). Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 10. Februar 1972). Das Sozialgericht (SG) Marburg hob die angefochtenen Bescheide auf und verurteilte den Beklagten, ab 1. Mai 1971 die vom Einkommen abhängigen Leistungen mit der Maßgabe zu gewähren, daß die Einkünfte aus Landwirtschaft nur von der dem Kläger gehörenden Fläche zu berechnen sind (Urteil vom 18. Oktober 1973). In der Rechtsmittelbelehrung bezeichnete das Gericht die Berufung als nach § 148 Nrn. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen.
Auf die Berufung des Beklagten hob das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG auf und wies die Klage ab (Urteil vom 22. Oktober 1974): Die Berufung sei nach § 150 SGG statthaft. An die Nichtzulassung durch das SG sei das Berufungsgericht nicht gebunden; denn es sei aus verschiedenen Gründen willkürlich, daß das SG die Berufung nicht zugelassen habe. Außerdem beruhe die Nichtzulassung auf einer Verletzung der Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG); das SG hätte sich wegen der Häufung gleichgelagerter Fälle gedrängt fühlen müssen, zu der von ihm entschiedenen Frage die Auffassung des LSG aufzuklären. Darüber hinaus leide das Verfahren des ersten Rechtszuges an wesentlichen Mängeln (§ 150 Nr. 2 SGG): Wie der Beklagte zutreffend gerügt habe, deckten sich Urteilstenor und Entscheidungsgründe nicht; darin liege ein Verstoß gegen Denkgesetze und ein Fehler in der Überzeugungsbildung (§ 128 SGG), und damit werde auch dem § 136 Nr. 6 SGG nicht Genüge getan. Außerdem fehlten die erforderlichen Entscheidungsgründe zu der Frage, ob die Eigentumsübertragung mangels eines verständigen Grundes unwirksam sei; diese Prüfung hätte sich wegen der vielen vom SG entschiedenen gleichartigen Fälle aufdrängen müssen; zudem habe der Vorsitzende der Kammer die Eigentumsverhältnisse der Eltern des Klägers aufzuklären versucht und damit offenbar feststellen wollen, ob auch die Eltern je zur Hälfte Eigentümer des Hofes gewesen seien. Außerdem hätte das SG von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus aufklären müssen, ob die Schenkung sich auf das Zubehör des Hofes auswirken sollte. - Die Berufung sei auch begründet. Die Übereignung an die Ehefrau, die - entgegen der Annahme im Urteilstenor - sich auf das Zubehör erstrecke, sei mangels eines verständigen Grundes versorgungsrechtlich nicht zu beachten. Das behauptete Bedürfnis der Ehefrau, gesichert zu werden, sei kein objektiv verständiger Grund. Die Ehefrau hätte ohne Belastung der Allgemeinheit durch testamentarische Verfügung umfassender und günstiger gesichert werden können.
Die Übereignung sei auch nicht wegen der Praxis anderer schwerbeschädigter Landwirte gerechtfertigt, die wegen der Rechtsprechung des SG Marburg vertraglich die Hälfte ihrer Höfe auf ihre Ehefrauen übertragen hätten, um höhere Rentenleistungen zu erhalten. Wenn ein im Einzelfall besonders ausgeprägtes Sicherungsbedürfnis einer Ehefrau berücksichtigt würde, verstieße dies gegen den Gleichheitsgrundsatz.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 150 Nrn. 1 und 2 SGG. Das Berufungsgericht habe zu Unrecht die Berufung als statthaft angesehen. Die Nichtzulassung des Rechtsmittels sei nicht als willkürlich zu werten. Die Häufung gleichgelagerter Fälle verschaffe diesen keine grundsätzliche Bedeutung. Die darüber allein vom LSG vertretene Ansicht sei nicht maßgebend. Das Gericht habe auch keine eigenen gegenteiligen Entscheidungen zitiert. Das SG habe nicht seine Sachaufklärungspflicht verletzt, wenn es nicht die Ansicht des Berufungsgerichts ermittelt habe. Der Urteilstenor sei zwanglos durch die Entscheidungsgründe dahin auszulegen, daß das maßgebende Einkommen des Klägers aus der Landwirtschaft nur zur Hälfte auf die Rentenleistungen angerechnet werden dürfe. Wenn das SG nicht geprüft habe, ob die Übereignung mangels eines verständigen Grundes unwirksam sei, könnte es sich insoweit allenfalls um einen Fehler in der Rechtsfindung handeln. Von seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt aus habe das SG nicht darüber zu entscheiden gehabt. Vorsorglich rügt der Kläger eine Verletzung des § 1 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung zur Durchführung (DVO) des § 33 Bundesversorgungsgesetz (BVG). Er habe die Landwirtschaft nur deshalb übernehmen können, weil seine Ehefrau entsprechendes Barvermögen in die Ehe eingebracht und sich zur Leistung der Hauptarbeit verpflichtet habe. Ein eherechtlicher Gütervertrag habe zur Zeit der Eheschließung und Hofübernahme wegen der Kosten nicht geschlossen werden können. Die Beteiligung der Ehefrau entspreche einer verbreiteten Praxis in der Landwirtschaft; damit werde im Fall eines schwerbehinderten Landwirts verhindert, daß die entschädigungspflichtige Versorgungsverwaltung auf Kosten der mitarbeitenden Ehefrau ungerechtfertigt von Leistungen befreit werde. Dies alles habe einen verständigen Grund für die Übereignung geschaffen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das SG als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er betont vor allem die Willkürlichkeit der Nichtzulassung der Berufung.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die vom LSG zugelassene Revision des Klägers ist zulässig und begründet.
Das LSG hätte die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG, durch das der Klage stattgegeben worden ist, als unzulässig verwerfen müssen (§ 158 Abs. 1 SGG). Die Berufung war nach § 148 Nr. 3 SGG ausgeschlossen, denn sie betraf die Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen einer Änderung der Verhältnisse (§ 62 BVG). Entgegen der Ansicht des LSG war das Rechtsmittel nicht ausnahmsweise nach § 150 SGG (in der vor dem 1. Januar 1975 geltenden Fassung - Art. III und VI des Änderungsgesetzes vom 30. Juli 1974, BGBl I 1625 -) statthaft. Dies ist bei der zugelassenen Revision von Amts wegen, also auch ohne die vom Kläger erhobene Verfahrensrüge zu beachten (BSG 2, 225, 226 f.).
Das SG hat die Berufung nicht nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen. Diese Entscheidung war für das Berufungsgericht bindend und stellte auch keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar, der auf die Rüge des Beklagten die Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG statthaft gemacht hätte (ständige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG -, vgl. Urteil des 10. Senats vom 11. Mai 1976 - 10 RV 123/75 - Sozialgerichtsbarkeit 1976, 287 m. w. N.; allgemein für die Nichtzulassung der Revision, soweit keine Nichtzulassungsbeschwerde gegeben ist, ergänzend: die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs - BGH -, zitiert von Stein/Jonas/Grunsky, Zivilprozeßordnung, 19. Aufl., 1972, § 546, Anm. VI, 3, c, und von Vogel, NJW 1975, 1297, 1301 Fußnote 53). Das LSG durfte die Berufung nicht etwa deshalb als statthaft behandeln, weil sie das SG willkürlich und offenkundig gesetzwidrig nicht zugelassen hätte. Selbst wenn dies - trotz grundsätzlicher Bedenken - überhaupt möglich sein könnte (Stein/Jonas/Grunsky, aaO; für die Revision auch erwogen in BSG SozR Nrn. 149 und 175 zu § 162 SGG), wäre ein solcher Ausnahmefall hier nicht gegeben. Eine Abweichung von der Auslegung einer Rechtsvorschrift durch das LSG (§ 150 Nr. 1 Halbsatz 2, 2.Alternative SGG aF) hat nicht einmal das Berufungsgericht in Betracht gezogen. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (1. Alternative) war nicht "offenkundig", wenn sich bloß einige gleichgelagerte Fälle im Bezirk des SG Marburg häuften. Das SG hat überdies in der Urteilsbegründung dargelegt, daß der Fall sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG in rechtlicher Hinsicht als nicht besonders problematisch darstelle, weshalb es aus der Sicht der Kammer sich nicht aufdrängen mußte, eine "grundsätzliche Bedeutung" des Falles anzunehmen. Persönliche Auseinandersetzungen zwischen dem Vorsitzenden der Kammer des SG und Berufsrichtern des zuständigen Senats des LSG interessieren in diesem Zusammenhang nicht. Unverständlich ist die Rechtsansicht des LSG, die Entscheidung des SG, daß die Berufung nicht zugelassen wird, beruhe auf einem Verfahrensmangel; das Gericht hätte sich gedrängt fühlen müssen, die Auffassung des Berufungsgerichts zu der zu entscheidenden Rechtsfrage einzuholen. Eine solche Verpflichtung besteht nicht; sie kann schon gar nicht mit der Pflicht, den Sachverhalt des Streitfalles für die Entscheidung über den Klageanspruch (§§ 53 bis 56, 95, 123, 125 SGG) aufzuklären (§ 103 SGG), zusammenhängen (BSG 11. Mai 1976).
Die Berufung war auch nicht nach § 150 Nr. 2 SGG deshalb statthaft, weil der Beklagte wenigstens einen wesentlichen Mangel des Verfahrens im ersten Rechtszug erfolgreich gerügt hätte. Die Entscheidungsgründe (§ 136 Abs. 1 Nr. 6 SGG) weichen nicht von der Urteilsformel (Nr. 4) in solcher Weise ab, daß damit ein wesentlicher Verfahrensfehler (BSG SozR Nr. 63 zu § 128 SGG) gegeben wäre (BSG 11. Mai 1976). Der Urteilstenor, nach dem die Einkünfte des Klägers aus der Landwirtschaft nur von der ihm gehörenden Fläche für die Bestimmung der einkommensabhängigen Versorgungsleistungen zu berechnen sind, ist durch die Gründe auszulegen (BSG 1, 283, 285; 4, 121, 123 f.; 6, 97, 98), und das führt zu einem sinnvollen Ergebnis, dem der Beklagte genügen kann: Nach der sachlich-rechtlichen Auffassung des SG soll der Einkommensbemessung nur die dem Kläger gehörende Grundfläche des Betriebes aufgrund des wiederholt zitierten § 9 DVO zu § 33 BVG idF vom 9. November 1967 (BGBl I 1140) zugrunde gelegt werden, und zwar entsprechend einem Runderlaß des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung nur anteilig, wenn - wie hier - der Schwerbeschädigte nicht allein der Betriebsleiter ist.
Soweit das SG trotz vorhergehenden entsprechenden Hinweises des Beklagten nicht erkennbar geprüft hat, ob die Schenkung an die Ehefrau des Klägers mangels eines "verständigen Grundes" als nicht wirksam getroffen zu behandeln ist (§ 1 Abs. 2 Satz 2 DVO zu § 33 BVG für die Ausgleichsrente; § 9 Abs. 4 Satz 1 DVO zu § 30 Abs. 3 und 4 BVG vom 28. Februar 1968 - BGBl I 194 - und Abs. 5 Satz 1 idF vom 11. April 1974 - BGBl I 927 - für den Berufsschadensausgleich), kommt, abgesehen von sonstigen Bedenken, das Fehlen von Entscheidungsgründen als wesentlicher Verfahrensmangel, der die Berufung statthaft machen könnte (BSG SozR Nr. 79 zu § 128 SGG; 1500 § 136 Nr. 1), schon deshalb nicht in Betracht, weil der Beklagte einen solchen Verfahrensfehler nicht gerügt hat.
Die Entscheidung des SG beruht insofern auch nicht auf einer Verletzung seiner Sachaufklärungspflicht (§ 103 SGG) als vom Beklagten gerügtem Verfahrensfehler. Ob ein Verfahrensmangel in diesem Sinn gegeben ist, richtet sich nach dem sachlich-rechtlichen Standpunkt des Vordergerichts, der aus den Urteilsgründen zu erkennen ist (BSG 2, 84, 87; BSG SozR Nrn. 7 und 40 zu § 103 SGG). Das SG hat aber gerade nicht entschieden, ob und daß die Schenkung durch einen verständigen Grund mit Wirkung für die Kriegsopferversorgung gerechtfertigt ist, und brauchte sich daher auch nicht zur Sachaufklärung unter diesem rechtlichen Gesichtspunkt gedrängt zu fühlen. In bezug auf eine Vorschrift des materiellen Rechts, über deren Anwendung das Gericht nicht entschieden hat, kann deshalb eine Verletzung einer Verfahrensbestimmung ein Rechtsmittel nicht zulässig machen, weil auf einem derartigen Verfahrensfehler das angefochtene Urteil nicht beruhen kann (vgl. für die Revision: § 162 SGG), d. h. es kann nicht möglicherweise das Gericht ohne den Verfahrensmangel anders entschieden haben. Daß das SG den bezeichneten rechtlichen Gesichtspunkt nicht erkennbar geprüft hat, hätte allenfalls bei einer zulässigen Berufung als Fehler in der Rechtsfindung gewertet werden können.
Gleiches gilt für die Fragen, ob zur Begründung einer Mitunternehmerstellung der Ehefrau, die das SG angenommen hat, zusätzlich das bewegliche Betriebsvermögen zur ideellen Hälfte auf die Ehefrau übertragen und sie an den Pachtrechten beteiligt sowie ob zur Wirksamkeit der Schenkung die Genehmigung nach dem Grundstücksverkehrsgesetz erteilt und die Übereignung ins Grundbuch vertragsgemäß eingetragen worden ist. In sachlich-rechtlicher Hinsicht hat das SG entscheidend abgestellt auf die Eigentümerbeziehung zu den betrieblichen Grundstücken, nach der das landwirtschaftliche Einkommen zu berechnen sei, sowie auf den Eingang des Schenkungsvertrages beim VersorgA, der den Beginn der Neuregelung bestimme. Damit erübrigten sich tatsächliche Feststellungen zu jenen rechtlichen Gesichtspunkten, über die das SG nicht entschieden hat.
Die mithin ausgeschlossene Berufung muß auf die Revision des Klägers als unzulässig verworfen werden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen