Entscheidungsstichwort (Thema)
Anderweitige Rechtshängigkeit der Streitsache. Verfahrensmangel
Leitsatz (amtlich)
Wird nach Klageerhebung der Verwaltungsakt durch einen in einem anderen Verfahren ergangenen Widerspruchsbescheid abgeändert, so wird, wenn vorher weder § 86 noch § 96 SGG auf einen der ergangenen Bescheide anwendbar war, der Widerspruchsbescheid Gegenstand des Verfahrens.
Orientierungssatz
Bei einer zugelassenen Revision ist das angefochtene Urteil von Amts wegen daraufhin nachzuprüfen, ob ein in der Revisionsinstanz fortwirkender Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundsätze vorliegt, die im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Dazu gehören Mängel, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen im Klageverfahren ergeben (vgl BSG 1959-07-30 2 RU 274/56 = BSGE 10, 218, 219). Ein derartiger von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel ist die anderweitige Rechtshängigkeit.
Normenkette
SGG § 96 Abs 1 Fassung: 1953-09-03, § 95 Fassung: 1953-09-03, § 94 Fassung: 1953-09-03, § 161 Abs 4 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
SG München (Entscheidung vom 19.07.1978; Aktenzeichen S 32 Ka 148/77) |
Tatbestand
Der Kläger ist als Facharzt für Augenkrankheiten in München zur kassenärztlichen Versorgung zugelassen. Seine Abrechnungen für das II. Quartal 1974 und das III. und IV. Quartal 1975 beanstandete die Beigeladene in insgesamt 66 Fällen und beantragte bei der Beklagten die sachliche Richtigstellung. Sie erkannte bei diesen Abrechnungen die Ansätze der Nrn 6, 15, 21 a, 25, 523 und 526 des Bewertungsmaßstabs für kassenärztliche Leistungen (BMÄ) nicht an. Für die dafür abgerechneten Gebühren verlangte sie Rückerstattung von insgesamt 2.146,54 DM. Die Bezirksstelle München Stadt der Beklagten gab diesen Anträgen statt und erließ am 12. Januar 1977 einen entsprechenden Abrechnungsbescheid. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 8. Februar 1977 Widerspruch ein. Er erhob im Mai 1977 Untätigkeitsklage. Am 7. Juli 1977 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage gegen den Bescheid vom 12. Januar 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1977 am 19. Juli 1978 abgewiesen und ausgeführt: Die Untätigkeitsklage sei zulässig gewesen, ihre Änderung in eine Anfechtungsklage halte das Gericht für sachdienlich. Indessen sei die Klage nicht begründet. Nach § 23 Abs 1 des Bundesmantelvertrages-Ärzte (BMV-Ä) habe die der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) obliegende Prüfung der von den Ärzten ausgeführten Leistungen den Zweck, die Honoraranforderungen des Arztes zu überprüfen und gegebenenfalls zu berichtigen. Zuständig für die rechnerische und sachliche Richtigstellung der Abrechnungen sei die Bezirksstelle der Beklagten. Der Kläger habe in den Fällen, die Gegenstand der angefochtenen Bescheide seien, nach § 4 Ziff 4 des zwischen der Beklagten und den Landesverbänden der Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen und Innungskrankenkassen in Bayern und dem Verband der Landkrankenkassen in Bayern abgeschlossenen Gesamtvertrages abrechnen müssen. Danach könne, wenn ein Belegarzt einen anderen Belegarzt, der an demselben Krankenhaus tätig ist, zur Mitberatung, Mitbehandlung, zum Consilium, zur Assistenz oder Narkose zuzieht, der zugezogene Belegarzt nach den Ziffern 1 bis 3 abrechnen. Das gleiche gelte für Kassenärzte, die am Krankenhaus nicht als Belegärzte, jedoch anderweitig (zB zur Assistenz) regelmäßig tätig seien. Die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien hier erfüllt.
Der Kläger hat Sprungrevision eingelegt und macht geltend, in einem Parallelverfahren sei am 19. Juli 1978 ebenfalls ein Urteil ergangen, in dem über die Richtigstellung der Abrechnungen für das I., III. und IV. Quartal 1974 entschieden worden sei. Die Klage sei in diesem Verfahren bereits am 28. März 1977 eingelegt worden, so daß zu prüfen sei, ob die Bescheide vom 12. Januar 1977 und 7. Juli 1977 nicht entsprechend § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des anderen Verfahrens geworden seien. In jenem Verfahren sei Berufung eingelegt worden. Die Entscheidung des anhängigen Rechtsstreits hänge letztlich von der Auslegung des Begriffs "regelmäßig" iS des § 4 Nr 4 Satz 2 des Gesamtvertrages ab. Die in dieser Vorschrift genannten Ärzte würden hinsichtlich der Abrechnung den Belegärzten des Krankenhauses gleichgestellt, die praktisch an jedem Tag an der Klinik tätig seien. Dagegen werde er, der Kläger, nur von Fall zu Fall herangezogen. Offensichtlich gehe das SG davon aus, daß ein Belegarzt nur durchschnittlich zweimal wöchentlich im Krankenhaus tätig werde. Damit habe es seine Gerichtskunde in das Verfahren eingeführt, ohne den Kläger darauf hinzuweisen. Es habe deshalb das rechtliche Gehör verletzt. Schließlich rügt der Kläger eine Verletzung des § 193 SGG: Das SG hätte in seiner Kostenentscheidung die Begründetheit der Untätigkeitsklage berücksichtigen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom
19. Juli 1978 und den Bescheid der Beklagten
vom 12. Januar 1977 in der Fassung des Widerspruchsbescheids
vom 7. Juli 1977 aufzuheben.
Die Beklagte stellt keinen Antrag.
Die Beigeladene beantragt sinngemäß,
die Sprungrevision des Klägers zurückzuweisen.
In dem vom Kläger erwähnten anderen Verfahren hatte die Beigeladene in einer Reihe von Einzelfällen die sachliche Richtigstellung der Abrechnung des Klägers für das I., III. und IV. Quartal 1974 verlangt. Sie hatte die Ansätze der Nrn 3, 6, 15, 21 a, 25, 523 und 526 BMÄ nicht anerkannt, weil der Kläger am B-Krankenhaus regelmäßig tätig sei. Diesen Antrag hat die Beklagte zunächst abgelehnt, ihm aber auf den "Widerspruch" der Beigeladenen mit "Widerspruchsbescheid" vom 3. Februar 1977 stattgegeben. Dagegen erhob der Kläger am 28. März 1977 Klage. Die Beklagte faßte diese Klage als Widerspruch auf, den sie mit Bescheid vom 18. November 1977 zurückwies. Mit Urteil vom 19. Juli 1978 wies das SG München die Klage gegen den Bescheid vom 3. Februar 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18. November 1977 ab. Die Berufung gegen das Urteil ist noch anhängig.
Entscheidungsgründe
Die Sprungrevision des Klägers ist zulässig. In seiner Begründung hat der Kläger als verletzte Rechtsnorm die Vorschrift des § 4 Nr 4 Satz 2 des Gesamtvertrages bezeichnet. Die Revision kann allerdings nur darauf gestützt werden, daß das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt (§ 162 SGG). Liegen aber diese Voraussetzungen nicht vor, so ist deswegen die Revision nicht unzulässig (Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 2. Aufl § 162 Anm 2 unter Hinweis auf Thomas/Putzo, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 11. Aufl, § 549 Anm 1a; siehe auch Baumbach/Lauterbach/Albers,/Hartmann, Zivilprozeßordnung, 39. Aufl § 549 Anm 1).
Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Zu Unrecht hat das SG in der Sache entschieden. Die Klage ist wegen anderweitiger Rechtshängigkeit der Streitsache unzulässig. Dies hat der Senat auch auf eine Sprungrevision von Amts wegen zu prüfen. Allerdings kann die Sprungrevision nicht auf Mängel des Verfahrens gestützt werden (§ 161 Abs 4 SGG). Diese Einschränkung gilt aber nicht für Verfahrensmängel, die in jeder Lage des Rechtsstreits von Amts wegen zu beachten sind (BSG SozR 1500 § 161 SGG Nr 26). Bei einer zugelassenen Revision ist das angefochtene Urteil von Amts wegen daraufhin nachzuprüfen, ob ein in der Revisionsinstanz fortwirkender Verstoß gegen verfahrensrechtliche Grundsätze vorliegt, die im öffentlichen Interesse zu beachten sind und deren Befolgung dem Belieben der Beteiligten entzogen ist. Dazu gehören Mängel, die sich aus dem Fehlen unverzichtbarer Prozeßvoraussetzungen im Klageverfahren ergeben (BSGE 10, 218, 219). Ein derartiger von Amts wegen zu beachtender Verfahrensmangel ist die anderweitige Rechtshängigkeit.
Nach § 94 Abs 2 SGG ist eine neue Klage, wenn die Streitsache schon bei einem Gericht der Sozialgerichtsbarkeit rechtshängig ist, während der Rechtshängigkeit unzulässig. Die Streitsache des Klägers gegen die Beklagte wegen des Bescheids vom 12. Januar 1977 ist mit Zustellung des Widerspruchsbescheids vom 7. Juli 1977 Gegenstand des anderen seit dem 28. März 1977 rechtshängigen Verfahrens geworden.
Nach § 96 SGG wird, wenn nach Klagerhebung der Verwaltungsakt durch einen neuen abgeändert oder ersetzt wird, auch der neue Verwaltungsakt Gegenstand des Verfahrens. Als neuer Verwaltungsakt in diesem Sinn ist hier allerdings der Bescheid vom 12. Januar 1977 zunächst nicht in Betracht gekommen, denn als er wirksam wurde, war in dem anderen Verfahren weder der Widerspruch noch die Klage anhängig. Gegenstand des anderen Verfahrens betreffend das I., III. und IV. Quartal 1974 ist aber der Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1977 geworden. Er ist als neuer Verwaltungsakt iS des § 96 SGG anzusehen. Allerdings erfaßt diese Vorschrift schon den ersten Verwaltungsakt in einer Sache, so daß das Vorverfahren überflüssig ist und ein Widerspruchsbescheid ins Leere geht. Wenn aber die beiden Verfahren bis zum Widerspruchsbescheid unbeeinflußt nebeneinander gelaufen sind und insbesondere bisher kein Verwaltungsakt Gegenstand des anderen Verfahrens geworden ist, muß der Widerspruchsbescheid, der ein Verwaltungsakt ist, die Rechtsfolge des § 96 SGG nach sich ziehen können. Dies ist nach dem Zweck der Vorschrift in gleicher Weise wie für den ersten Verwaltungsakt geboten. § 96 SGG soll im Rahmen einer sinnvollen Prozeßökonomie ein schnelles und zweckmäßiges Verfahren ermöglichen, divergierende gerichtliche Entscheidungen vermeiden und den Betroffenen davor schützen, daß ihm Rechtsnachteile erwachsen, wenn er im Vertrauen auf die von ihm eingelegte Klage weitere Schritte unterläßt (BSG SozR SGG § 96 Nr 14). Nach § 95 SGG wird Gegenstand der Klage der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat. Der Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1977 zieht deshalb den ursprünglichen Bescheid vom 12. Januar 1977 mit sich in das andere Verfahren.
Der Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1977 ist nach Erhebung der Klage in dem anderen Verfahren erlassen worden. Allerdings hat die Beklagte mit Rücksicht darauf, daß der Verwaltungsakt vom 3. Februar 1977 nach Auffassung des SG nicht als Widerspruchsbescheid angesehen werden konnte, die am 28. März 1977 erhobene Klage später als Widerspruch aufgefaßt und einen entsprechenden Widerspruchsbescheid erlassen. Das ändert aber nichts daran, daß es sich um eine bei Wirksamwerden des Widerspruchsbescheids vom 7. Juli 1977 noch anhängige Klage gehandelt hat. Eine vor Durchführung des notwendigen Vorverfahrens erhobene Klage kann nicht deshalb als nicht erhoben angesehen und in einen Widerspruch umgedeutet werden. Vielmehr hat sie in einem solchen Fall eine doppelte Funktion, sie ist als Klage und zugleich als Widerspruch zu behandeln (BSGE 20, 199, 201).
Der Widerspruchsbescheid vom 7. Juli 1977 hat den Verwaltungsakt vom 3. Februar 1977 hinsichtlich einzelner Abrechnungszeiträume ergänzt und damit iS des § 96 SGG "abgeändert". Mit dem Verwaltungsakt vom 3. Februar 1977 hat die Beklagte die Abrechnung für das I., III. und IV. Quartal 1974, mit dem Verwaltungsakt vom 7. Juli 1977 die Abrechnung für das II. Quartal 1974 und für das III. und IV. Quartal 1975 richtiggestellt. Berichtigt wurden in allen Quartalen die Ansätze der gleichen Positionen des BMÄ; insoweit ist unerheblich, daß im ersten Verwaltungsakt zusätzlich die Abrechnung nach Nr 3 BMÄ (Beratung bei Nacht) nicht anerkannt wurde. Der Kläger greift alle Bescheide mit der Begründung an, er sei am B-Krankenhaus nicht regelmäßig tätig. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist § 96 SGG entsprechend anzuwenden, wenn ein Honorarbescheid der KÄV angefochten ist und während des Prozesses weitere Bescheide für die folgenden Abrechnungszeiträume ergangen sind, die die Honoraransprüche des Arztes in demselben Sinn regeln und deshalb mit derselben Begründung angefochten werden (BSGE 27, 146, 148). Ob dafür die Gleichartigkeit des Verfahrensgegenstandes erforderlich ist (vgl BSGE 47, 201, 202, 203), braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Voraussetzung für die (entsprechende) Anwendung des § 96 SGG ist nach der neueren Rechtsprechung des BSG jedenfalls nicht, daß sich die Zeiträume unmittelbar aneinander anschließen. Im Rahmen eines Dauerrechtsverhältnisses ist vielmehr der nachgehende Verwaltungsakt auch dann in das laufende Verfahren einzubeziehen, wenn er das Dauerrechtsverhältnis für einen weiteren Zeitraum ergänzend regelt. Auf die zeitliche Verknüpfung der im ersten und im zweiten Bescheid geregelten Verfahrensgegenstände kommt es nicht an; vorausgesetzt wird nur, daß beide Bescheide aufgrund desselben Rechtsverhältnisses ergangen sind und der nachgehende Bescheid aus den gleichen Gründen wie der frühere angefochten wird (BSG aaO). Im vorliegenden Fall sind diese Voraussetzungen erfüllt.
Die Klage gegen den Bescheid vom 12. Januar 1977 idF des Widerspruchsbescheides vom 7. Juli 1977 ist aus diesen Gründen unzulässig, so daß das Urteil des SG keinen Bestand haben kann. Der Senat hat die Sache gem § 170 Abs 4 SGG nicht an das SG, sondern an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen. Dort ist das Verfahren gegen die Bescheide vom 3. Februar 1977 und 18. November 1977 anhängig. Aus § 96 SGG ergibt sich, daß in diesem anderen Verfahren dem SG ein Verfahrensmangel unterlaufen ist, weil es die Bescheide vom 12. Januar und 7. Juli 1977 nicht einbezogen und darüber nicht entschieden hat. Deshalb kommt die Einbeziehung des Streitgegenstandes, über den der Senat zu entscheiden hat, in das anhängige Berufungsverfahren in Betracht (vgl BSGE 45, 49, 50).
Das angefochtene Urteil des SG ist aus diesen Gründen aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitzuentscheiden haben wird.
Fundstellen