Entscheidungsstichwort (Thema)

Widerspruchsverfahren. neue Bescheide. Zulässigkeit der Klage

 

Orientierungssatz

Mit Erhebung des Widerspruchs wird ein dem Gerichtsverfahren vorgeschaltetes besonderes Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt (§ 83 SGG) mit der Folge, daß auch Änderungsbescheide nach § 86 Abs 1 SGG kraft Gesetzes zu dessen Gegenstand werden. Solange ein Verwaltungsakt Gegenstand eines Vorverfahrens ist, kann er nicht zugleich auch beim Sozialgericht angefochten werden.

 

Normenkette

SGG §§ 78, 83, 86 Abs 1

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 26.08.1986; Aktenzeichen L 12 J 1571/84)

SG Gießen (Entscheidung vom 09.10.1984; Aktenzeichen S 11 J 112/82)

 

Tatbestand

Streitig ist die Höhe der wiederaufgelebten Witwenrente aus der Versicherung des ersten Ehemannes der Klägerin.

Die 1904 geborene Klägerin hatte seit April 1975 Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen ersten Ehemannes Ludwig W. (W) bezogen. Nach Wiederverheiratung im Oktober 1977 ließ sich die Klägerin die Witwenrente mit 47.298,-- DM abfinden. Nach dem Tod auch des zweiten Ehemannes im August 1980 erhielt die Klägerin ab September 1980 aus dessen Versicherung ebenfalls Witwenrente.

Unter dem 9. November 1980 beantragte die Klägerin bei der Beklagten das Wiederaufleben der Witwenrente aus der Versicherung ihres verstorbenen ersten Mannes. Diesem Antrag entsprach die Beklagte durch Bescheid 1) vom 29. Januar 1981 ab 1. September 1980. Auf die wiederaufgelebte Rente von damals zuletzt 890,90 DM monatlich rechnete die Beklagte den Anspruch auf Witwenrente aus der Versicherung des zweiten Ehemannes in Höhe von damals monatlich zuletzt 419,90 DM an und behielt zur Tilgung der überzahlten Witwenrentenabfindung die Nachzahlung (2.417,-- DM) und einen monatlichen "pfändbaren Betrag" von 231,70 DM ein, so daß ab 1. April 1981 monatlich 239,30 DM an sie ausgezahlt wurden.

Mit ihren Schreiben vom 4. und vom 9. Februar 1981 an die Beklagte wandte sich die Klägerin hiergegen und bat um Auszahlung der vollen wiederaufgelebten Witwenrente mit der Begründung, sie könne mit einem Betrag von 239,30 DM nicht auskommen, da sie nur Schulden habe. Mit Schreiben vom 3. März 1981 wies die Beklagte die Klägerin darauf hin, daß der Auszahlungsbetrag den gesetzlichen Bestimmungen entspreche.

Durch Bescheid 2) vom 29. Dezember 1981 paßte die Beklagte die Rente ab 1. Januar 1982 an. Unter Berücksichtigung der Erhöhung der angerechneten Bezüge ergab sich nunmehr ein Auszahlungsbetrag von monatlich nur noch 231,50 DM. Mit einem am 16. März 1982 bei der Beklagten eingegangenen Schreiben wies die Klägerin erneut auf ihre finanzielle Situation hin und bat um Auszahlung der ihr zustehenden vollen Rente. Unter dem 22. März 1982 erläuterte die Beklagte der Klägerin nochmals die Einbehaltungen.

Mit einem am 13. April 1982 eingegangenen Schreiben hat sich die Klägerin hierauf an das Sozialgericht (SG) gewandt und dort ebenfalls die volle wiederaufgelebte Witwenrente nach dem ersten Mann in Höhe von 942,20 DM monatlich ab 1. September 1980 begehrt.

Mit einem Bescheid 3) vom 28. Februar 1984 setzte die Beklagte den Zahlbetrag der wiederaufgelebten Witwenrente - wieder unter Berücksichtigung der Erhöhung der Anrechnungsbeträge - ab 1. Juli 1983 auf 222,80 DM monatlich herab, erhöhte sie aber mit einem weiteren Bescheid 4) vom 9. Juli 1984 ab 1. Juli 1984 auf 369,34 DM monatlich.

Das SG hat der Klage durch Urteil vom 9. Oktober 1984 stattgegeben und die Bescheide der Beklagten vom 29. Dezember 1981 und vom 28. Februar 1984 insoweit aufgehoben, als eine Aufrechnung durchgeführt worden sei. Die hiergegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) in der angefochtenen Entscheidung vom 26. August 1986 zurückgewiesen und ausgeführt: Soweit eine Einbehaltung der Abfindung in Betracht komme, sei ein Vorverfahren nicht zwingend vorgeschrieben, da es sich bei § 1291 Abs 2 Satz 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht um eine Ermessensfrage handele. Der Klägerin habe es freigestanden, auch ohne Vorverfahren Klage zu erheben. Dagegen sei eine Anhörung nach § 24 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB 10) erforderlich gewesen. Der Bescheid 1) vom 29. Januar 1981 sei noch nicht bindend, da die Schreiben der Klägerin an die Beklagte vom 4. und vom 9. Februar 1981 als Widerspruch zu qualifizieren seien, über den die Beklagte noch nicht entschieden habe. Aus dem Vorbringen der Klägerin werde deutlich, daß sie mit diesem Bescheid nicht einverstanden gewesen sei. Der Bescheid 2) vom 29. Dezember 1981 sowie der weitere Bescheid vom 28. Februar 1984 seien aufzuheben, da die erforderliche vorherige Anhörung nicht durchgeführt worden sei. Die Revision sei wegen der Frage der Vorverfahrenspflicht im Rahmen von § 1291 Abs 1 Satz 4 RVO zuzulassen.

Mit ihrer Revision wendet sich die Beklagte gegen dieses Urteil Sie trägt vor, es obliege dem pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers, in welcher Höhe Beträge einzubehalten seien. Wenn das LSG schon die Klage nicht als unzulässig hätte abweisen wollen, hätte es ihr, der Beklagten, Gelegenheit geben müssen, das Vorverfahren nachzuholen. Das LSG sei fehlerhaft verfahren, weil es ein Sachurteil gefällt habe, obwohl die Voraussetzungen hierfür gefehlt hätten. Außerdem habe das LSG gegen die Denkgesetze verstoßen. Es habe nämlich ausgeführt, daß bereits der Bescheid 1) vom 29. Januar 1981 noch nicht bindend sei, weil die Klägerin hiergegen mit den Schreiben vom 4. und vom 9. Februar 1981 Widerspruch eingelegt habe, über den noch nicht entschieden sei. Wenn diese Auffassung des LSG zutreffe, seien alle weiteren Bescheide gemäß § 86 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kraft Gesetzes Gegenstand des Widerspruchsverfahrens geworden. Dann wären sie einer isolierten Entscheidung im vorliegenden Rechtsstreit entzogen. Das LSG hätte somit in Konsequenz seiner eigenen Rechtsauffassung die Klage als unzulässig ansehen müssen. Überdies hätte das LSG ihr, der Beklagten, von seinem Standpunkt aus Gelegenheit geben müssen, das Widerspruchsverfahren durchzuführen und dabei die unterbliebene Anhörung nachzuholen.

Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Gießen vom 9. Oktober 1984 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Beklagte nehme zu Unrecht an, daß sie im Rahmen des § 1291 Abs 2 Satz 4 RVO nach Ermessen vorgehen könne. Ein Vorverfahren sei entgegen der Auffassung der Beklagten nicht vorgeschrieben gewesen. Im Streitverfahren sei eine vor Erlaß des Verwaltungsakts unterbliebene Anhörung nicht mehr nachzuholen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist zulässig und sachlich begründet.

Gegenstand der rechtlichen Überprüfung waren in den Entscheidungen der Vorinstanzen nur die Bescheide 2) vom 29. Dezember 1981 und 3) vom 28. Februar 1984. Das SG hat allein diese beiden Bescheide aufgehoben "insoweit, als eine Anrechnung durchgeführt wird", und das LSG hat im angefochtenen Urteil diese Entscheidung bestätigt.

Die beiden genannten Bescheide sind indessen unverkennbar Verwaltungsakte, die allein die der Klägerin im Bescheid 1) der Beklagten vom 29. Januar 1981 bewilligte wiederaufgelebte Witwenrente der Höhe nach verändern: Während die Beklagte der Klägerin mit dem Bescheid 1) ab 1. September 1980 Rente im Betrag von 239,30 DM gewährte, setzte sie den Rentenbetrag mit dem streitbefangenen Bescheid 2) ab 1. Januar 1982 auf 231,50 DM und mit dem ebenfalls streitigen Bescheid 3) auf 222,80 DM monatlich herab. Die sonach den Bescheid 1) allein abändernde Funktion der Bescheide 2) und 3) ist von verfahrensrechtlicher Bedeutung. Das LSG hat im angefochtenen Urteil ausgeführt, daß die Klägerin mit ihren gegen den Bescheid 1) gerichteten Einwendungen laut Schreiben vom 4. und vom 9. Februar 1981 Widerspruch - im Zusammenhang: iS von § 78 SGG - habe erheben wollen. Hiervon hat auch der Senat auszugehen, da das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG an die tatsächliche Feststellung der Vorinstanz gebunden ist, was der Erklärende - entsprechend seinem "inneren Willen" - tatsächlich gemeint und gewollt hat (vgl dazu etwa BSGE 43, 37, 38f = SozR 2200 § 1265 Nr 24 S 75; BSG SozR 5070 § 10a Nr 3 S 6; SozR 3660 § 2 Nr 4; May in NJW 1983, 980f und die Nachweise aus Schrifttum und Rechtsprechung bei Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl, Bd III, § 549 RdNr 28). Der von der Klägerin gegen den Bescheid 1) der Beklagten erhobene Widerspruch war - ganz ungeachtet der Frage, ob ein Widerspruchszwang (Widerspruchspflicht) bestand - nach § 78 SGG jedenfalls zulässig und setzte ein dem Gerichtsverfahren vorgeschaltetes besonderes Verwaltungsverfahren in Gang (§ 83 SGG) mit der Folge, daß auch die in den Urteilen der Vorinstanzen überprüften Änderungsbescheide 2) und 3) nach § 86 Abs 1 SGG, also kraft Gesetzes zu dessen Gegenstand wurden. Solange ein Verwaltungsakt Gegenstand eines Vorverfahrens ist, kann er nicht zugleich auch beim SG angefochten werden (vgl dazu § 85 Abs 4 SGG, der selbst die zulässige Abgabe des Widerspruchs an das SG "als Klage" nur bei Zustimmung des Widerspruchsführers zuläßt). Die Klage ist vielmehr erst nach Abschluß des Vorverfahrens, etwa durch Zurückweisung des Widerspruchs durch die Widerspruchsstelle (vgl § 85 Abs 2 und 3 SGG) zulässig. Mithin war die Klage der Klägerin gegen den in Streit liegenden Bescheid 2) und den weiteren Abänderungsbescheid 3) der Beklagten unzulässig und ohne Sachprüfung abzuweisen, wie auch die Beklagte in der Revisionsbegründung zutreffend ausgeführt hat. Eine Nachholung des Vorverfahrens - wozu etwa der Beklagten durch Zurückverweisung der Streitsache an die Vorinstanz Gelegenheit zu geben wäre - kommt nicht in Betracht; gegen den Bescheid 1) der Beklagten hat die Klägerin Klage (noch) nicht erhoben, und es ist überdies derzeit offen, ob hiergegen jemals Klage erhoben werden wird.

Unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen war nach alledem zu entscheiden wie geschehen.

Nunmehr wird die Widerspruchsstelle der Beklagten gemäß § 85 SGG über den von der Klägerin erhobenen außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden und hierbei auch die Bescheide 2) und 3) einzubeziehen haben. Was die Pflicht zur vorherigen Anhörung gemäß § 24 Abs 1 SGB 10 betrifft, wird die Beklagte davon ausgehen können, daß die Klägerin inzwischen - unter Einschluß der soeben durchlaufenen drei Gerichtsinstanzen - ausreichend Gelegenheit genommen hat, ihre Meinung zur Frage der Renteneinbehaltung darzutun, dies im übrigen bis zum Abschluß des Vorverfahrens weiter tun kann (vgl § 41 Abs 1 Nr 3 und Abs 2 SGB 10). In der Sache selbst wird die Beklagte bei ihrer Entscheidung über den Widerspruch der Klägerin zu berücksichtigen haben, daß auch die wiederaufgelebte Witwenrente Unterhaltsersatzfunktion hat und diese Funktion auch bei Anwendung von § 1291 Abs 2 Satz 4 RVO (Pflicht zur Einbehaltung der Abfindung in angemessenen monatlichen Teilbeträgen) behalten muß, und deshalb ohne Rücksicht auf Pfändungsgrenzen uä eine Einbehaltung auch nur kleinerer monatlicher Beträge "angemessen" sein kann (vgl dazu zB Verbandskommentar, 6. Aufl, Bd II, Stand Januar 1986, § 1291 Anm 17 S 12 oben). Die Frage, wieweit die Nichtauszahlung einer aufgelaufenen Rentennachzahlung von der Berechtigung erfaßt ist, angemessene "monatliche Teilbeträge" einzubehalten, wird ebenfalls nochmals zu prüfen sein.

Der Senat hat der Beklagten die gesamten außergerichtlichen Kosten der Klägerin auferlegt, weil sie es versäumt hat, diese bereits in der Rechtsbehelfbelehrung, spätestens aber nach Klageerhebung auf die naheliegende Unzulässigkeit der Anrufung des SG wegen eines schwebenden Vorverfahrens hinzuweisen und sie so zu einer unstatthaften Rechtsverfolgung veranlaßt hat (§ 193 Abs 1 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1658984

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