Entscheidungsstichwort (Thema)
Mathematische Formeln und MdE. Begründung einer Gesamt-MdE. Bemessung der Gesamt-MdE bei mehreren Behinderungen
Orientierungssatz
Mathematische Formeln sind kein rechtlich zulässiges oder gar gebotenes Beurteilungsmittel zur Feststellung der Gesamt-MdE (Anschluß an BSG 1979-03-15 9 RVs 6/77 = SozR 3870 § 3 Nr 4). Die Gesamtbehinderung läßt sich rechnerisch nicht ermitteln. Bei mehreren Behinderungen ist nur von der einen, dem Behinderten eigenen und unteilbaren Minderung der Erwerbsfähigkeit auszugehen, die nicht nach mathematischen Gegebenheiten, sondern allein nach einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes zu beurteilen ist. Bei mehreren Behinderungen ist eine Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes vorzunehmen (SchwbG § 3 Abs 3). Die Wechselbeziehungen der Behinderungen zueinander erfordern eine natürliche, wirklichkeitsorientierte und funktionale Betrachtungsweise, die auf medizinischen und arbeitsphysiologischen Erkenntnissen beruht.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 3 Fassung: 1974-04-29; BVG § 30 Abs. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 14.08.1978; Aktenzeichen L 11 Vs 1882/77) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 30.09.1977; Aktenzeichen S 5 Vs 127/77) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. August 1978 insoweit aufgehoben, als darin der Beklagte verurteilt wird, die Minderung der Erwerbsfähigkeit auf 50 vH festzusetzen.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Zwischen den Beteiligten ist die Festsetzung der Gesamterwerbsminderung nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) streitig.
Bei der am 2. Juni 1925 geborenen Klägerin sind an Behinderungen nach dem SchwbG "Wirbelsäulenveränderung mit Neuralgie, erheblicher Bewegungseinschränkung am rechten Arm, Krampfaderleiden an beiden Beinen" mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 vH anerkannt (Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 1976). Die dagegen erhobene Klage blieb, nachdem der ärztliche Sachverständige Dr. D. (Facharzt für Innere Krankheiten) in der mündlichen Verhandlung auch bei Unterstellung nächtlicher Wadenkrämpfe mit einer MdE um 10 vH bei einer Gesamt-MdE um 40 vH verblieb, erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG - Karlsruhe vom 30. September 1977 - S 5 V 127/77). In der vom Landessozialgericht (LSG) eingeholten ergänzenden gutachtlichen Stellungnahme bewertete der Sachverständige Dr. D... die Einzelbehinderungen mit 30, 20 und 10 vH sowie das Krampfaderleiden mit O vH und kam wiederum zu einer Gesamt-MdE um 40 vH. Er führte ua aus, die Klägerin könne ihrer ganzen Erscheinung nach nicht als schwerbehindert bezeichnet werden. Das LSG verurteilte den Beklagten, als zusätzliche Behinderung "Neigung zu nächtlichen Wadenkrämpfen" festzustellen und die MdE auf 50 vH festzusetzen. Es führt ua aus, der Sachverständige habe die Einzelbehinderungen zutreffend bewertet. Bei der Bildung der Gesamt-MdE im Schwerbehindertenrecht seien die Grundsätze des Versorgungsrechts maßgebend. Danach werde die schwerwiegendste Gesundheitsstörung voll, die anderen die Höhe der Gesamt-MdE beeinflussenden Behinderungen würden meist mit der Hälfte der Einzel-MdE angesetzt. Dies ergebe eine Gesamt-MdE um 45 vH, die jedoch den Einzelfall der Klägerin nicht genügend berücksichtige. Die Behinderung an beiden Armen führe zu einer Erhöhung auf einen Mittelwert zwischen 45 und 50 vH. Da im Versorgungsrecht eine Schätzung von durch 10 teilbare MdE-Werten gefordert werde, sei die MdE mit 50 vH anzusetzen. Wegen des Erfordernisses der Teilbarkeit durch 10 sei bei Werten über 0,5 eine Rundung auf 1 vorzunehmen. Dabei könne dahingestellt bleiben, ob § 31 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wegen der Nichterwähnung in § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG überhaupt Anwendung finde.
Das LSG hat die Revision wegen der grundsätzlichen Bedeutung der im Schwerbehindertenrecht zu ermittelnden MdE um 50 vH zugelassen. Der Beklagte rügt, die Aufrundungsvorschrift des § 31 Abs 2 BVG könne im Schwerbehindertenrecht keine Anwendung finden. Die bei der Klägerin bestehenden Behinderungen seien nicht mit einer MdE um 50 vH zu bewerten.
Der Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil insoweit abzuändern, als der Klägerin für die bei ihr bestehenden Behinderungen eine MdE um 50 vH zuerkannt wurde, und in diesem Umfang die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision des Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II.
Die zulässige Revision hat teilweise Erfolg. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, soweit die Gesamt-MdE auf 50 vH festgesetzt ist. Im übrigen bleibt das Urteil bestehen, als darin der Beklagte verurteilt wird, als zusätzliche Behinderung "Neigung zu nächtlichen Wadenkrämpfen" festzustellen.
Nach § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF vom 29. April 1974 (BGBl I S 1005) stellen auf Antrag des Behinderten die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit fest. Hierbei sind, wie Satz 2 aaO vorschreibt, § 30 Abs 1 und § 62 BVG entsprechend anzuwenden. Liegen aber mehrere Behinderungen vor, so ist der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit durch die Beurteilung der Auswirkungen der Behinderung in ihrer Gesamtheit festzustellen, wobei insoweit wieder - von bestimmten Ausnahmen abgesehen - Abs 1 aaO gilt (§ 3 Abs 3 SchwbG).
Das LSG hat den Beklagten verurteilt, als weitere Behinderung "Neigung zu nächtlichen Wadenkrämpfen" festzustellen. Dabei ist es in Anlehnung an das Gutachten des Sachverständigen Dr. D... von einer Teil-MdE um 10 vH ausgegangen. Im übrigen hat das Berufungsgericht die Einzelbewertung des Sachverständigen mit 30 vH für die erhebliche Bewegungseinschränkung am rechten Arm, mit 20 vH für die Wirbelsäulenveränderungen mit Neuralgie und mit O vH für Krampfaderleiden an beiden Beinen als zutreffend seiner Entscheidung zugrundegelegt. Insoweit hat der Beklagte keine begründeten Revisionsgründe vorgebracht, so daß der Senat hieran gebunden ist (§ 163 SGG).
Wenn das LSG aber unter Zuhilfenahme der - etwas abgewandelten - Bruchteilsmethode eine Gesamt-MdE um 45 vH errechnete und letztlich - wegen der Behinderung an beiden Armen und der dann für notwendig erachteten Aufrundung - eine Gesamt-MdE um 50 vH ermittelte, hat es einen unzutreffenden Rechtsmaßstab angewandt. Damit ist § 3 Abs 1 und 3 SchwbG verletzt. Dieser Rechtsfehler ist auch ohne darauf gerichtete Rüge bei einer zugelassenen Revision von Amts wegen zu beachten (§ 202 SGG iVm § 559 Abs 2 Satz 1 der Zivilprozeßordnung -ZPO-; Meyer-Ladewig, SGG, 1977, § 162 Rz 8).
Die vom LSG angewandte Berechnungsweise für die Feststellung der Gesamt-MdE bietet keinen verläßlichen Berechnungsmodus. Wie der Senat in seinem Urteil vom 15. März 1979 - 9 RVs 6/77 - (SozR 3870 § 3 Nr 4) bereits ausgeführt hat, ist jegliche mathematische Formel kein rechtlich zulässiges oder gar gebotenes Beurteilungsmittel, Die Gesamtbehinderung läßt sich rechnerisch nicht ermitteln. Bei mehreren Behinderungen ist nur von der einen, dem Behinderten eigenen und unteilbaren Minderung der Erwerbsfähigkeit auszugehen, die nicht nach mathematischen Gegebenheiten, sondern allein nach einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes zu beurteilen ist. Dafür gibt § 3 Abs 2 SchwbG eine deutliche Aussage, wenn darin nicht eine einfache Addition der Prozentzahlen als zutreffend angesehen wird, sondern die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen "in ihrer Gesamtheit" festzustellen sind. Zudem spricht § 3 Abs 3 Satz 2 SchwbG von einer "Gesamtbeurteilung". Auch nach den Verwaltungsvorschriften Nr 3 zu § 30 BVG ist "eine die Gesamtauswirkung der Gesundheitsstörung zusammenfassende Minderung der Erwerbsfähigkeit -Gesamt-MdE- festzusetzen". Eine individuelle Beurteilung kann den Besonderheiten des Einzelfalles eher gerecht werden, als dies eine rechnerische Betrachtungsweise vermag. Dies gilt insbesondere, wenn mehrere Behinderungen zu einer einheitlichen Gesamt-MdE zusammengefaßt werden sollen. Regelmäßig stehen mehrere Behinderungen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern können sich entweder nachhaltiger auswirken, wie dies beispielsweise bei paarigen Organen der Fall ist, bzw eine Behinderung kommt wegen einer anderen bereits vorhandenen Behinderung nicht voll zur Geltung oder verstärkt gegebenenfalls sogar das Maß der Gesamtbehinderung durch ein weiteres Hinzutreten nicht. Diese Wechselbeziehungen erfordern eine natürliche, wirklichkeitsorientierte und funktionale Betrachtungsweise, die auf medizinischen und arbeitsphysiologischen Erkenntnissen beruht. Eine mathematische Zuordnung verbietet sich daher von selbst.
Zuzugeben ist, daß die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausgabe 1973 Nr 14 Abs 6 S 23) lediglich ein Additionsverbot enthalten, dagegen nicht andere Rechenmethoden als ungeeignet ansehen. Dies ist erst in den Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter geschehen (Ausgabe 1977 Nr 3 Abs 8 S 11). Daraus kann man nicht folgern, die Zuhilfenahme0020mathematischer Methoden bei der Feststellung der Beschädigtenrente sei legitim und deshalb - insbesondere wegen der Verweisung in § 3 Abs 1 Satz 2 SchwbG auf § 30 Abs 1 BVG - für das Schwerbehindertenrecht zu übernehmen.
Ist deshalb entgegen dem LSG nicht von einer zunächst ermittelten MdE um 45 vH auszugehen, kann zumindest aus gegenwärtiger Sicht die Frage, ob § 31 Abs 2 BVG anzuwenden ist, nicht erheblich sein. Das LSG kommt nämlich nur deswegen auf eine Gesamt-MdE um 50 vH, weil es - entgegen der Beurteilung des Sachverständigen - wegen der paarigen Schädigung an beiden Armen von einer Gesamt-MdE im Mittelwert zwischen 45 und 50 vH ausgeht und sodann eine Aufrundung für gerechtfertigt hält. Kam aber die Feststellung der MdE um 45 vH nicht ordnungsgemäß zustande, kann sich die Frage der Aufrundung - weil 45 vH oder geringfügig darüberliegend anzunehmen ist - jedenfalls derzeit nicht stellen. Im übrigen hatte das LSG seine Entscheidung nicht auf § 31 Abs 2 BVG gestützt, sondern ausdrücklich dahingestellt sein lassen. Infolgedessen kann das Urteil nicht auf dem vom Beklagten gerügten Mangel einer Verletzung des § 31 Abs 2 BVG beruhen.
Das LSG ist von der Beurteilung des Sachverständigen abgewichen. Es ging von einer Gesamt-MdE um 40 vH aus. Das LSG hat sich damit von dem in der Rechtsprechung anerkannten Grundsatz leiten lassen, daß die Einschätzung der MdE nicht die eigentliche Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen ist. Dessen Sachkunde bezieht sich in erster Linie darauf, den Umfang der körperlichen und geistigen Schädigung festzustellen. Die ärztliche Meinungsäußerung darüber, inwieweit sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind eine wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlage für die Schätzung der MdE. Sie können aber keine bindende Wirkung haben (BSGE 6, 267, 268; 41, 99, 101 mwN; vgl auch 33, 151, 153 f). Kann deshalb das Gericht über die Höhe der MdE unter Berücksichtigung der im Einzelfall gegebenen Verhältnisse im wesentlichen selbst befinden und ist es nicht ausschließlich von der Beurteilung des medizinischen Sachverständigen abhängig, so darf es dennoch die medizinische Beurteilung über den Umfang der MdE bei der Würdigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens nicht außer acht lassen (BSG in Zeitschrift Kriegsopferversorgung - KOV - 1965 Rechtsprechung Nr 1572). Es wird vielmehr näher darzulegen haben, weshalb es dem Sachverständigen gerade in diesem Punkt, etwa wie hier bei der Bewertung einer paarigen Behinderung, nicht zu folgen vermag. Ein solches näheres Eingehen erscheint insbesondere dann angezeigt, wenn der Sachverständige in Kenntnis der für die Bewertung maßgebenden Umstände bei seiner ursprünglichen Bewertung - nämlich 40 vH - bleibt. Dann läßt sich im allgemeinen ein Abweichen nur rechtfertigen, wenn die durch die Behinderung jeweils bewirkten Funktionseinschränkungen feststehen und es lediglich noch um die Frage gehen kann, inwieweit dadurch eine Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben herbeigeführt wird. Das Ausmaß der funktionellen Behinderung in beiden Armen ist bisher nicht in allen Einzelheiten festgestellt. Der hinzugezogene Sachverständige - ein Facharzt für Innere Krankheiten - hat die auf orthopädischem bzw chirurgischem Fachgebiet liegende Behinderung den Aktenunterlagen entnommen und seine Urteilsbildung im übrigen auf eine eingehende Befragung der Klägerin und auf den in der mündlichen Verhandlung gemachten Gesamteindruck gestützt. Er hat aber nicht im einzelnen dargetan, worin die Funktionseinschränkung in beiden Armen liegt. Erst wenn dies feststeht, läßt sich die Frage beantworten, ob und inwieweit aus der Gesamtschau das Zusammenwirken beider Behinderungen sich nachteiliger im allgemeinen Erwerbsleben auswirkt. Infolgedessen wird es nicht zu umgehen sein, derartige Feststellungen noch zu treffen. Das LSG wird dabei in Erwägung zu ziehen haben, ob es einen Sachverständigen hinzuzieht, der die erforderliche Fachkunde besitzt und damit die Gewähr dafür bietet, daß die konkret gestellte Aufgabe sachkundig beurteilt wird (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 1979 - 9 RVs 16/78 - in KOV-Mittlg. Berlin 1979, 62).
Das Berufungsurteil war in dem erwähnten Umfang aufzuheben. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit die aufgezeigten Beanstandungen behoben werden können.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Berufungsgericht vorbehalten.
Fundstellen