Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewertung der Gesamt-MdE bei mehreren Behinderungen. Nichtanwendung mathematischer Formeln und Gleichheitssatz
Leitsatz (redaktionell)
Die in der Praxis mancher Versorgungsämter vorkommende Zuhilfenahme mathematischer Methoden bei Feststellung der für die Beschädigtenrente maßgebenden Gesamt-MdE ist nicht legitim und deshalb für das Schwerbehindertenrecht nicht zu übernehmen.
Orientierungssatz
1. Der Senat tritt der Auffassung des LSG bei, daß eine einfache Addition der einzelnen MdE-Zahlen nicht angängig ist und auch die vom SG angewendete Subtraktionsmethode einen verläßlichen Berechnungsmodus für die Feststellung einer Gesamt-MdE nicht bietet.
Bei mehreren Behinderungen ist nur von der einen, dem Behinderten eigenen unteilbaren Erwerbsfähigkeitsminderung auszugehen, die nur auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes des Behinderten beruhen kann (vgl auch BSG 1979-03-15 9 RVs 6/77).
2. Durch die Nichtanwendung einer mathematischen Formel bei der Feststellung der Gesamt-MdE wird der Gleichheitsgrundsatz aus GG Art 3 nicht berührt, weil sowohl im Schwerbehindertenrecht als auch im Versorgungsrecht gleichermaßen allein der medizinische Sachverständige als Gehilfe des Richters berufen ist, die Behinderung in ihrer Gesamtheit zu bewerten.
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 3 Fassung: 1974-04-29; BVG § 30 Abs. 1; GG Art. 3 Abs. 1 Fassung: 1949-05-23
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 02.05.1978; Aktenzeichen L 13 Vs 12/78) |
SG Berlin (Entscheidung vom 02.12.1977; Aktenzeichen S 47 Vs 98/77) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 2. Mai 1978 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der im Februar 1931 geborene Kläger stellte am 3. Mai 1976 den Antrag auf Feststellung einer Behinderung und des Grades der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) nach § 3 Abs 1 Gesetz zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (SchwbG) und Ausstellung einer Bescheinigung nach § 3 Abs 4 SchwbG. Nachdem Dr. S... nach Untersuchung des Klägers eine Gesamt-MdE um 70 vH angenommen hatte und der Prüfarzt Dr. S... in einer gutachtlichen Stellungnahme die Gesamt-MdE auf 50 vH geschätzt hatte, stellte das Versorgungsamt (VersorgA) im Bescheid vom 17. September 1976 nach § 3 Abs 1 SchwbG folgende Behinderungen des Klägers fest:
a) Narbe nach. Übernähung eines durchgebrochenen Zwölffingerdarmgeschwürs, rückfällige Geschwürbildung, herabgesetzter Ernährungszustand;
b) Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk nach Knochenbruch;
c) chronische Bronchitis.
Die MdE wurde mit 50 vH festgesetzt; eine Parodontitis wurde nicht aufgenommen, da dieses Leiden keine meßbare MdE bedinge. Mit seinem Widerspruch machte der Kläger geltend, daß insbesondere wegen der unter a) genannten Behinderungen eine höhere MdE von mindestens 70 vH festgestellt werden müsse.
In dem für das Landesversorgungsamt (LVersorgA) Berlin erstellten Gutachten vom 2. Dezember 1976 kam Dr. G... zu folgender Diagnose:
a) Verziehung des Bulbus duodeni nach Übernähung eines durchgebrochenen Zwölffingerdarmgeschwürs mit Rezidiven und zeitweilig auftretenden Magengeschwüren, herabgesetzter Ernährungszustand;
b) Bewegungseinschränkung im rechten Schultergelenk nach. Knochenbruch mit Narbenbildung und leichter Gelenkdeformierung;
c) chronische Bronchitis,
d) Parodontitis;
e) Fettstoffwechselstörung.
Dr. G. bemaß die ME für die Leiden zu a) mit 30 vH, zu b) mit 20 vH, zu c) mit 20 vH, zu d) und e) sei die MdE nicht meßbar. Als Gesamt-MdE nahm er 50 vH an und führte dazu aus, eine höhere Gesamt-MdE sei medizinischerseits keineswegs vertretbar.
Mit Bescheid vom 22. Februar 1977 wies das LVersorgA den Widerspruch zurück.
Auf die hiergegen eingelegte Klage hat das Sozialgericht (SG) den Beklagt verurteilt, den Kläger als Schwerbehinderten bei einer Erwerbsminderung um 60 vH seit dem 1. Mai 1976 anzuerkennen. Das SG hat die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 2. Mai 1978 das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Das LSG hat hierzu ausgeführt: Wie der bei mehreren Behinderungen durch die Beurteilung der Auswirkung der Behinderungen in ihrer Gesamtheit festzustellende Grad der MdE zu ermitteln sei, sei durch das Gesetz nicht geregelt. Keinesfalls seien die durch die einzelnen Gesundheitsstörungen bedingten MdE-Grade zusammenzuzählen. Das SG habe die Subtraktionsmethode angewendet. Diese Berechnungsart stelle jedoch kein Gewohnheitsrecht dar. Bei mehreren Behinderungen müsse ausschließlich von der einen, dem Behinderten eigenen unteilbaren MdE ausgegangen werden, die nur auf einer Gesamtwürdigung des Leidenszustandes des Behinderten beruhen könne. Das gelte besonders deswegen, weil Behinderurigen sich einerseits zum Teil aufheben und in ihren Auswirkungen weniger fühlbar sein könnten, sich, andererseits aber auch durch ihr Zusammentreffen stärker auszuwirken vermöchten. Bei der Schätzung der MdE gebe es keine Gleichmäßigkeit des Bewertungsmaßstabes. Die Mathematik sei nicht geeignet, die bei der Bemessung der MdB gestellten Forderungen zu erfüllen. Die Sachverständigen hätten bei der Bemessung der MdE zu werten und nicht zu rechnen. Im übrigen handele es sich bei der Bemessung der MdE nur um eine Schätzung, die nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar sei.- Selbst wenn die Subtraktionsmethode angewendet werden könnte, würde eine Festsetzung der MdE auf 60 vH im Falle des Klägers nicht in Frage kommen, denn das SG habe nach dieser Methode eine Gesamt-MdE von 55,2 vH errechnet; diese könne nicht auf 60 vH auf gerundet werden, weil § 31 Abs 2 des Gesetzes über die Versorgung der Opfer des Krieges (BVG) nicht anzuwenden sei.
Abschließend führt das LSG aus, daß die durch sämtliche Behinderungen des Klägers eingetretene MdE 50 vH betrage. Diese Gesamt-MdE sei von Dr. S... so geschätzt worden; und auch nach dem überzeugenden Gutachten des Sachverständigen Dr. G... sei aus der MdE durch die Leiden zu a) um 30 vH, zu b) um 20 vH und zu c) um 20 vH ein höherer Grad der Gesamt-MdE als 50 vH keineswegs vertretbar.
Der Kläger hat Revision eingelegt und rügt die Nichtanwendung des § 31 Abs 2 BVG im Schwerbehindertenrecht. Er meint hierin liege eine Verletzung des verfassungsrechtlich gebotenen Gleichbehandlungsgrundsatzes. Es müsse deshalb über die Rangfolge, Nachordnung, Anwendbarkeit oder Nichtanwendbarkeit der §§ 30, 31, 32 BVG, § 3 SchwbG im Verhältnis zu Art 3 des Grundgesetzes (GG) entschieden werden. Die Vorschrift über die Ermittlung der Gesamt-MdE in den Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung (BMA) sei nicht durch Gesetz geregelt. In dem Zusammenhang mit der Frage der Anwendbarkeit des § 31 Abs 2 BVG sei auch zu prüfen, ob die Lohmüller___AMPX_’_SEMIKOLONX___Xsche Formel anzuwenden sei. Es werde ggf angeregt, die Sache dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe vorzulegen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 2. Mai 1978 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Meinung, das LSG habe in zutreffender Rechtsanwendung festgestellt, daß eine mathematische Methode bei der Feststellung der Gesamt-MdE nicht angewendet werden könne und die Gutachter bei der Bemessung der MdE zu werten und nicht zu rechnen hätten. Auch § 31 Abs 2 BVG sei im Schwerbehindertenrecht nicht anzuwenden, weil das SchwbG eine Bezugnahme auf diese Vorschrift nicht enthalte.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet. Das LSG hat zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Für den Kläger ist eine höhere MdE als um 50 vH nicht festzusetzen.
Nach § 3 Abs 1 Satz 1 SchwbG idF vom 29. April 1974 stellen auf Antrag die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den Grad einer auf ihr beruhenden MdE fest. Dabei ist nach Satz 2 aaO § 30 Abs 1 BVG entsprechend anzuwenden. Für den Fall, daß mehrere Behinderungen vorliegen, bestimmt § 3 Abs 3 SchwbG, daß der Grad der MdE durch die Beurteilung der Auswirkungen der Behinderungen in ihrer Gesamtheit festzustellen ist.
Das LSG ist davon ausgegangen, daß sowohl Dr. S... als auch Dr. G... die Gesamt-MdE mit 50 vH richtig eingeschätzt haben, nachdem sie für die angeführten internistischen Leiden eine MdE um 30 vH, für die orthopädischen eine MdE um 20 vH und für die chronische Bronchitis ebenfalls eine MdE um 20 vH angenommen hatten. In bezug auf diese Einzelfeststellungen sind keine begründeten Revisionsgründe vorgebracht worden, so daß der Senat hieran gebunden ist (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Das LSG durfte, von diesem Sachverhalt ausgehend, zu dem Ergebnis gelangen, daß eine höhere MdE als 50 vH nicht festzustellen ist. Insbesondere ist dem LSG beizupflichten, daß eine einfache Addition der drei einzelnen MdE-Zahlen nicht angängig ist und auch die vom SG angewendete Subtraktionsmethode einen verläßlichen Berechnungsmodus für die Feststellung einer Gesamt-MdE nicht bietet. Der Senat tritt dieser Auffassung des ISG bei die sich im wesentlichen auf die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichtes (BVerwGr) in dem Urteil vom 17. Januar 1974 = BVerwGE 44, 284, 285 = Buchholz 436.6 § 1 SchwbG Nr 2 = KOV Mitteilungen Berlin 1974 Seite 27 ff und 32, auf die Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem Schwerbeschädigtengesetz des BMA, Ausgabe 77, und auf die Anmerkung Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl 1978, § 581 Anm 5 g, bezieht. Auch nach Auffassung des Senats ist bei mehreren Behinderungen nur von der einen, dem Behinderten eigenen unteilbaren Erwerbsfähigkeitsminderung auszugehen, die nur auf einer Gesamtwürdigung des Gesundheitszustandes des Behinderten beruhen kann. Jedenfalls können bei der individuellen Beurteilung die Besonderheiten des Einzelfalles eher berücksichtigt werden als durch vorgegebene rechnerische Operationen mit den Faktoren der für die einzelnen Behinderungen ausgeworfenen MdE-Sätze. Diese Rechenoperationen vermögen nicht sowohl die Fälle richtig zu erfassen, in denen mehrere Behinderungen beziehungslos nebeneinander stehen, als auch die, in denen sich die eine Behinderung auf eine andere Behinderung besonders nachhaltig auswirkt (zB bei paarigen Organen), und auch die, bei denen sich eine Behinderung wegen einer schon vorliegenden anderen Behinderung nicht voll auswirkt (vgl im übrigen das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 15. März 1979 9 RVs 6/77). Durch die Nichtanwendung einer mathematischen Formel bei der Feststellung der Gesamt-MdE wird der Gleichheitsgrundsatz aus Art 3 GG nicht berührt, weil sowohl im Schwerbehindertenrecht als auch im Versorgungsrecht gleichermaßen allein der medizinische Sachverständige als Gehilfe des Richters berufen ist, die Behinderung in ihrer Gesamtheit zu bewerten. Allerdings enthalten die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen (Ausg 1973) unter Nr 14 Abs 6 (S 23) lediglich das Additionsverbot, nicht aber die Erklärung, auch andere Rechenmethoden seien für die Bildung einer Gesamt-MdE ungeeignet (so erst die Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter, 1977, 3 Abs 8, S 11). Hieraus ist jedoch nach Meinung des Senats keineswegs zu folgern, die in der Praxis mancher Versorgungsämter vorkommende Zuhilfenahme mathematischer Methoden bei Feststellung der für die Beschädigtenrente maßgebenden Gesamt-MdE sei legitim und deshalb für das Schwerbehindertenrecht zu übernehmen. Vielmehr sollte umgekehrt eine solche, dem geltenden Versorgungsrecht zuwiderlaufende Verwaltungspraxis abgestellt werden.
Da bereits nach dem vorher Gesagten das Urteil des LSG in rollern Umfang zu bestätigen ist, kommt es auf die von dem LSG ausgeführte Hilfsbegründung an. Der Senat kann deshalb zu der Frage, ob § 31 Abs 2 BVG im Recht der Schwerbehinderten anzuwenden ist, nicht eingehen, denn diese Frage wird für die vorliegende Entscheidung nicht mehr erheblich. Das LSG hat ohne Rechtsirrtum angenommen, daß die Gesamt-MdE des Klägers 50 vH beträgt. Für diese Feststellung durfte sich das LSG auf das Gutachten von Dr. G... stützen. Dr. G... hat in einer zwar knappen, aber noch ausreichend nachvollziehbaren Weise dargetan, wie und warum er die Gesamtheit der Behinderungen des Klägers mit 50 vH bewertet hat. Bei der Feststellung einer Gesamt-MdE um 50 vH erhebt sich also gar nicht erst die Frage einer Auf- oder Abrundung nach § 31 Abs 2 BVG, wie sie sich dem SG stellte, das von einer MdE um 55,2 vH ausging.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen