Leitsatz (redaktionell)
Die Inhaftierung eines in der Gruppe 2 der Belasteten eingestuften Angehörigen der ehemaligen SS stellt keinen versorgungsrechtlich geschützten Tatbestand dar.
Normenkette
BVG § 1 Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20, § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 14. September 1960 wird zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Im Jahre 1957 beantragte der Kläger die Gewährung von Versorgung wegen Trigeminusneuralgie und Nervenleiden infolge einer Mund- und Kiefer-Nebenhöhlenbehandlung mit zahlreichen Operationen. Er war in der Zeit von 1945 bis April 1948 wegen seiner früheren Zugehörigkeit zur ehemaligen allgemeinen SS und in Vollzug seiner Einstufung in die Gruppe II der Belasteten durch die Lagerspruchkammer und die Berufungskammer in Internierungs- und Arbeitslagern eingewiesen worden und führt die geltend gemachten Schäden auf diese Unterbringungen zurück. Auf wiederholte Gnadengesuche hatte der Hessische Ministerpräsident am 19. Mai 1953 einen Bescheid erteilt, in dem u.a. folgendes ausgeführt ist:
"Gemäß Art. 54 des Befreiungsgesetzes in Verbindung mit § 8 des Zweiten Gesetzes zum Abschluß der politischen Befreiung in Hessen wird der Betroffene mit sofortiger Wirkung in die Gruppe der Mitläufer eingereiht.
Das Verfahren ist somit abgeschlossen.
Rechtsansprüche für die zurückliegende Zeit können aus diesem Gnadenerweis nicht hergeleitet werden..."
Das Versorgungsamt lehnte den Anspruch ab, weil der Kläger seine Schädigungen nicht während seiner Internierung durch die Besatzungsmacht, sondern erst in der Zeit nach Juni 1947 während der Verbüßung der durch Urteil der Lagerspruchkammer Darmstadt verhängten Arbeitslagerhaft erlitten habe, so daß keine Schädigungen durch Maßnahmen alliierter Truppen im Zuge der Internierung vorgelegen hätten; im übrigen seien die Fristen der §§ 56, 57 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) versäumt. Der Widerspruch blieb erfolglos. Die Klage wurde abgewiesen, weil der Kläger ausweislich des allein maßgebenden rechtskräftigen Spruchs der zuständigen Spruchkammer in die Gruppe II eingestuft worden sei; der Gnadenerweis ändere nichts an der rechtskräftigen Einstufung, sondern mildere nur ihre Folgen.
Mit der Berufung machte der Kläger ua geltend, daß er schon 1936 aus der SS ausgeschieden sei; er habe daher nach den Richtlinien der Besatzungsmächte 1945 nicht verhaftet werden dürfen. Wenn im Entnazifizierungsberufungsverfahren die Gründe seines Ausscheidens aus der SS im Jahre 1936 und seine politische Tätigkeit bis zu diesem Zeitpunkt genau festgestellt und überprüft worden wären, hätte er nach den Vorschriften des Befreiungsgesetzes nicht in die Gruppe der Belasteten eingestuft werden dürfen. Außerdem sei sein Entnazifizierungsverfahren erst durch den Gnadenerlaß vom 19. Mai 1953 abgeschlossen worden. Da er durch diesen Gnadenerlaß in die Gruppe der Mitläufer eingestuft worden sei, müsse diese Entscheidung auch für die zurückliegende Zeit gelten. Durch Urteil vom 14. September 1960 hat das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurückgewiesen, weil der Kläger nicht zu dem anspruchsberechtigten Personenkreis nach dem BVG gehöre. Es hat auf Grund der Akten der Vollstreckungsstelle der Spruchkammer Wiesbaden und der Gnadenakte des Hess. Ministerpräsidenten festgestellt, daß die Einstufung in die Gruppe der Belasteten hauptsächlich darauf beruht habe, daß dem Kläger die Denunzierung von Vorgesetzten vorgeworfen worden sei. Auf diese Einstufung komme es an. Der Gnadenerweis vom 19. Mai 1953 habe das rechtskräftige Berufungsurteil und die gesetzlichen Vorschriften, auf denen es beruht habe, nicht berührt; er habe nur die unmittelbare Rechtsfolge der Einstufung dahin abgeändert, daß eine Zugehörigkeit zur Gruppe der Mitläufer begründet worden sei, und zwar - entsprechend seinem Wortlaut - nur mit sofortiger Wirkung. Damit seien das rechtskräftige Urteil der Berufungskammer und daher auch die Einweisung in das Arbeitslager bestehen geblieben. Dieses Urteil hätte nur im Wege des Wiederaufnahmeverfahrens beseitigt werden können; erst das Gesetz zum Abschluß der politischen Befreiung in Hessen vom 8. November 1954 habe das Wiederaufnahmeverfahren durch das Gnadenverfahren ersetzt. Das LSG hat die Revision zugelassen, weil der Frage grundsätzliche Bedeutung zukomme, ob durch eine Begnadigung die rechtskräftige Einstufung in die Gruppe der Belasteten rückwirkend mit der Rechtsfolge entfalle, daß die Internierung nachträglich als schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG anzusehen sei.
Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,
unter Aufhebung der Urteile des Landessozialgerichts in Darmstadt vom 14. September 1960 und des Sozialgerichts in Wiesbaden vom 15. Februar 1960 sowie der Bescheide vom 21. Januar 1959 und 24. September 1958 das beklagte Land zu verurteilen, die Leiden des Klägers: Trigeminus-Neuralgie, Nervenleiden infolge acht schwerer Operationen einer Mund- und Kiefer-Nebenhöhlenverbindung, Operation bis zur Orbita, als Schädigungsfolge anzuerkennen und ihm eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50% ab 1. August 1957 zu gewähren.
Er rügt mit näherer Begründung wiederum, daß er zu Unrecht 1945 von der Besatzungsmacht verhaftet und das Entnazifizierungsverfahren erst durch den Gnadenakt beendet worden sei.
Der Beklagte beantragt, zu erkennen:
Die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 14. September 1960 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Revision ist durch Zulassung statthaft. Da sie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden ist, ist sie zulässig. Sie ist aber nicht begründet.
Das LSG hat ua festgestellt, daß der Kläger von der Lagerspruchkammer und der Berufungskammer hauptsächlich wegen der Denunzierung von Vorgesetzten in die Gruppe II eingestuft worden ist. Die Revision greift diese und die übrigen im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht an. Die Feststellungen binden daher nach § 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG - das Revisionsgericht.
Nach der Auffassung des Berufungsgerichts hat der Gnadenerweis vom 19. Mai 1953 die rechtskräftige Verurteilung durch die Lagerspruchkammer und die Berufungskammer nicht beseitigt, das LSG ist daher zu dem Ergebnis gekommen, daß eine besondere Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG nicht gegeben sei und der Kläger daher nicht zu dem nach dem BVG zu versorgenden Personenkreis gehöre. Dies ist frei von Rechtsirrtum.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), welcher sich der Senat anschließt, ist die Internierung und Einweisung in ein Arbeitslager auf Anordnung der Besatzungsmacht nur dann als ein schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG anzusehen, wenn der Internierte politisch geringer belastet war als ein Hauptschuldiger oder Belasteter nach dem Befreiungsgesetz der amerikanischen Besatzungszone (BSG 4, 234 ff). Hier war der Kläger durch die Lagerspruchkammer und die Berufungskammer in die Gruppe der Belasteten eingereiht worden. Er fällt also unter die Personengruppe, gegen die auch nach der deutschen, in den Befreiungsgesetzen zum Ausdruck gekommenen Rechtsauffassung die Einweisung in ein Arbeitslager als Sühnemaßnahme verhängt werden durfte. Der Kläger ist zwar von der Besatzungsmacht verhaftet worden. Diese Maßnahme entsprach aber, wie gerade dargelegt, auch der deutschen Rechtsauffassung. Sie wäre auch etwa in derselben Art von einer unabhängigen deutschen Verwaltung getroffen worden. Hiernach kann allein die Internierung des Klägers durch die Besatzungsmacht und die Einweisung in ein Arbeitslager keine schädigenden Vorgänge nach § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG darstellen.
Es war weiter zu prüfen, ob die angefochtene Entscheidung etwa deshalb auf einer unrichtigen Gesetzesanwendung beruht, weil diese Eingruppierung des Klägers durch den Gnadenerlaß vom 19. Mai 1953 als von Anfang an unrichtig anzusehen wäre. Dies hat das LSG zu Recht verneint. Durch den Gnadenerweis ist der Kläger "mit sofortiger Wirkung in die Gruppe der Mitläufer" eingestuft worden. Der Wortlaut des Erlasses ist hinsichtlich dieser Entscheidung klar und eindeutig. Er schließt Wirkungen für die zurückliegende Zeit aus. Dies wird noch dadurch klargestellt, daß ausdrücklich ausgeführt worden ist, Rechtsansprüche für die zurückliegende Zeit könnten aus dem Gnadenerweis nicht hergeleitet werden. Demgegenüber weist der Kläger zu Unrecht auf den Satz hin, das Verfahren sei durch den Gnadenerweis abgeschlossen. Das LSG hat vielmehr zutreffend entschieden, daß vorliegend der Gnadenerweis vom 19. Mai 1953 nicht dem auf Grund des Hessischen Befreiungsgesetzes durchgeführten Verfahren zugerechnet werden kann. Das wäre nur dann möglich, wenn das Gnadenverfahren an Stelle des Wiederaufnahmeverfahrens getreten wäre. Das Hessische Befreiungsgesetz kannte aber ein Wiederaufnahmeverfahren. Zwei darauf gestützte Anträge des Klägers blieben auch erfolglos. Erst durch das weitere Gesetz vom 8. November 1954 ist das Wiederaufnahmeverfahren durch das Gnadenverfahren ersetzt worden. Schon aus diesem Grunde kann der Gnadenerweis nicht dem durch Gesetzesvorschriften geregelten Verfahren bei der Durchführung des Hessischen Befreiungsgesetzes zugerechnet werden. Es bleibt somit nur übrig, den Gnadenerweis als das anzusehen, was er seinem Wesen nach ist, nämlich als eine Anordnung der Verwaltung, einen Verwaltungsakt. Durch diesen Verwaltungsakt ist das rechtlich geordnete Verfahren bei der Durchführung des Befreiungsgesetzes nicht etwa abgeschlossen worden, sondern der Kläger ist unabhängig von diesem im Rechtszug abgeschlossenen Verfahren in eine andere der durch dieses Gesetz vorgesehenen Kategorien eingereiht worden. In diesem Sinn ist das Wort "Verfahren" in Abs. 2 des Gnadenerlasses auszulegen.
Diese Auslegung des Gnadenerlasses nach seinem Wortlaut wird - wie das LSG ebenfalls zutreffend angenommen hat - durch das Wesen eines Gnadenerweises gestützt. Geschichtlich ist das Gnadenrecht zuerst im Kriminalstrafrecht entwickelt worden. Dort ist der staatlichen Strafgewalt als Gegenstück die Befugnis gegenüber gestellt worden, daß eine Kriminalstrafe nicht verhängt und eine verhängte Strafe nicht vollstreckt wird (Löwe/Rosenberg, Komm. z. Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 20. Aufl. 1956 Bd. 2 Vorbem. 13 zum Zweiten Titel S. 48). Auch hier ist es angängig, den Gnadenerlaß vom 19. Mai 1953 nach den Grundsätzen zu beurteilen, welche für das Gnadenrecht im Strafrecht entwickelt sind. Wie bereits ausgeführt, ist ein Gnadenerweis ein den Begnadigten begünstigender Verwaltungsakt. Er läßt den Bestand des rechtskräftigen Urteils unberührt und gibt nach der sich immer mehr durchsetzenden Restitutionstheorie im Wege eines gegenteiligen Verwaltungsaktes nur die Möglichkeit, alle unmittelbaren Rechtsfolgen der Verurteilung, soweit sie Strafcharakter haben, so zu beseitigen, als ob sie gar nicht eingetreten seien (Löwe/Rosenberg, aaO, Vorbem. 11 b S. 46). Hier kann zwar zweifelhaft sein, ob die Eingruppierung als Belasteter Strafcharakter hat. Dies kann jedoch dahingestellt bleiben; denn auf jeden Fall hat das LSG den Gnadenerweis nach seinem Wortlaut unangefochten festgestellt und hat seinen Willen bedenkenfrei ermittelt. In diesem Zusammenhang sind die weiteren - ebenfalls unangefochtenen - Feststellungen des Berufungsgerichts über die Gründe, welche die Einstufung in die Gruppe der Belasteten gerechtfertigt haben, belangvoll. Schon diese besonderen, von der Vorinstanz festgestellten tatsächlichen Verhältnisse lassen nicht den Schluß zu, daß die ursprüngliche Einstufung als verfehlt oder gar als Unrecht angesehen worden wäre und daß daher aus solchen Erwägungen die Begnadigung die Wirkungen der rechtskräftigen Verurteilung auch für die Vergangenheit hätte beseitigen wollen. Vielmehr ist der Gnadenerweis, der klassischen Auffassung entsprechend, als ein Akt der Milde anzusehen, beruhend auf dem Mitleid mit dem Kläger, weil er durch die Folgen der Inhaftierung schwerer getroffen worden ist als nach dem Hessischen Befreiungsgesetz beabsichtigt gewesen war. Dementsprechend sind auch die Ausführungen im angefochtenen Urteil über die Wirkungen des Gnadenerlasses seinem Wesen nach bedenkenfrei.
Mithin ist der Kläger bis zum Gnadenerweis in die Gruppe der Belasteten eingestuft gewesen, so daß weder die Einweisung in ein Arbeitslager noch die vorangegangene Verhaftung als schädigender Vorgang im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG gewertet werden können. Die allgemeinen Ausführungen der Revision über das Unrecht das dem Kläger nach seiner Auffassung widerfahren sei, sind nicht geeignet, gegenüber den vom LSG angestellten bedenkenfreien Erwägungen ins Gewicht zu fallen; sie können vor allem die von der Besatzungsmacht angeordnete Internierung des Klägers und seine spätere Festhaltung nicht zu einer besonderen Gefahr im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG machen.
Da sonach das angefochtene Urteil zutreffend ist, war die Revision nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen