Leitsatz (redaktionell)
Der Empfänger einer Vorschußzahlung kann nicht darauf vertrauen im Vorschußzeitraum eine Rente mindestens in Höhe der Vorschußleistung oder doch in einem heranreichenden Betrag zu erhalten. Für solche Erwartungen bietet die Bewilligung von Vorschüssen keine Grundlage. Ihr Empfänger muß sogar mit der vollständigen Rückzahlung der Vorschußleistungen rechnen.
Normenkette
AVG § 78 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1299 Alt. 3 Fassung: 1957-02-23
Tenor
Die Revision des Klägern gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. August 1961 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte Vorschußzahlungen auf die Rente bei der späteren Rentenfeststellung ausgleichen darf, wenn die Höhe der festgestellten Rente hinter der des Vorschusses zurückbleibt.
Der Kläger beantragte in Oktober 1957 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Am 27. Februar 1958 wurde er zur Durchführung eines Heilverfahrens in stationäre Krankenhausbehandlung eingewiesen. Am 1. März 1958 bewilligte ihm die Beklagte auf seine Bitte rückwirkend vom Antragsmonat (Oktober 1957) "bis zur Erteilung eines rechtsmittelfähigen Rentenbescheides mit dem ausdrücklichen Vorbehalt der späteren Verrechnung (§ 78 AVG) einen jederzeit widerruflichen Vorschuß von monatlich 170,-- DM", wobei sie darauf hinwies, daß die Höhe noch keinen Schluß auf die endgültige Höhe der Rente zulasse. Im Januar 1959 teilte die Beklagte dem Kläger mit, daß ihm bis zum Ende des Heilverfahrens nur ein Übergangsgeld zustehe; sie setzte dieses ven Antragsmonat an fest, rechnete den bis Februar 1959 angelaufenen Betrag auf den Rentenvorschuß an, der danach noch insgesamt 2.009,50 DM betrug, und zahlte vom März 1959 (statt des Vorschusses) nur noch das Übergangsgeld. Nachdem der Kläger am 18. März 1959 aus den Heilverfahren entlassen worden war, stellte die Beklagte durch Bescheid vom 6. Mai 1959 die Rente wegen Berufsunfähigkeit fest; zugleich bestimmte sie, daß "zur Abtragung der Überzahlung" die seit den Entlassungstage zu gewährende Nachzahlung einbehalten und außerdem die laufende Rente (von monatlich 165,80 DM) um monatlich 50,-- DM gekürzt werde. Die Kürzung ermäßigte sie später auf 25,-- DM; sie wurde in den folgenden Rentenbescheiden vom 2. Juni 1960 und 14. August 1961 beibehalten.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage, mit der sich der Kläger gegen die "Rückforderung" der Überzahlung von 2.009,50 DM wandte, als unbegründet ab. Auch die zugelassene Berufung des Klägers war ohne Erfolg. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) war der Ansicht, daß die Beklagte keinen Rückforderungsanspruch in Sinne des § 80 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) geltend mache, sondern rechtmäßig gezahlte Vorschußleistungen, wie von vornherein vorgesehen, auf das Übergangsgeld und die Rente verrechne; hierzu sei sie befugt und verstoße auch nicht gegen Treu und Glauben (Urteil vom 23. August 1961).
Der Kläger hat die zugelassene Revision eingelegt mit dem Antrag,
das Urteil des LSG aufzuheben und nach seinem Klageantrag zu erkennen.
Er hält die Rechtsauffassung des LSG für unzutreffend und weist besonders darauf hin, daß die Beklagte den Vorschuß "auf die Rente" und nicht auf das Übergangsgeld gewährt habe; hilfsweise rügt er eine Verletzung des § 80 AVG.
Die Beklagte hat die Zurückweisung der Revision beantragt.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Der angefochtene Bescheid vom 6. Mai 1959 enthält mehrere Regelungen. Er setzt die dem Kläger zustehende Rente fest, verlangt den Ausgleich der Vorschußleistungen, die sich nunmehr als ungedeckt erweisen (2.009,50 DM), und vollzieht ihn durch Aufrechnung mit einer Nachzahlung sowie der laufenden Rente. Mit der Klage wendet sich der Kläger nur gegen das Ausgleichsverlangen, von dem die Wirksamkeit der Aufrechnungen abhängt, und das er für ungerechtfertigt und unbillig hält. Dieses Ausgleichsverlangen der Beklagten ist durch die späteren Rentenbescheide vom 2. Juni 1960 und 14. August 1961 nicht berührt, sondern wiederholt worden.
Die hiernach vorliegende Klage auf Aufhebung (§ 54 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) des Bescheides vom 6. Mai 1959, soweit die Beklagte darin die Ausgleichsforderung geltend macht, ist zwar, wie später noch auszuführen ist, ohne Vorverfahren zulässige aber nicht begründet. Die Beklagte hat dem Kläger an 1. März 1958 einen Vorschuß auf die Rente gewährt. Diese Mitteilung war ein Verwaltungsakt, der nicht angefochten und bindend geworden ist (§ 77 SGG). In seinem ebenfalls am 7. Dezember 1962 erlassenen Urteil in dem Rechtsstreit 1 RA 227/59 hat der Senat bereits dargelegt, daß die Gewährung von Rentenvorschüssen zwischen dem Empfänger und dem Versicherungsträger ein öffentlich-rechtliches Verhältnis eigener Art entstehen läßt, das von vornherein auf eine Übergangszeit, nämlich bis zur Rentenfeststellung, begrenzt ist und alsdann Ausgleichspflichten der Beteiligten auslöst, wenn Vorschuß und Rente sich nicht decken. Die Ausgleichspflicht trifft hier den Kläger, weil der Vorschuß hinter der Rente zurückbleibt. Er kann sich demgegenüber weder auf guten Glauben noch auf den Wegfall einer Bereicherung berufen; die Ausgleichspflicht ist davon unabhängig, sie ergibt sich aus Begriff und Wesen der Vorschußleistung und richtet sich auf vollen Ausgleich des zuviel Erhaltenen unbeschadet dessen, ob die Differenz in der Höhe der Beträge oder allein oder außerdem im Leistungszeitraum besteht. Der Hinweis des Klägers, daß der Vorschuß "auf die Rente" gewährt worden sei, kann zu keiner anderen Beurteilung führen. Die teilweise Anrechnung des Vorschusses auf das Übergangsgeld, die in Januar 1959 vorgenommen wurde, ist vom Kläger nicht angefochten und daher nicht im Streit. Andererseits bedeutet ein "Vorschuß auf die Rente" aber auch keine teilweise Gewährung dieser Rente; der Empfänger kann nicht darauf vertrauen, im Vorschußzeitraum eine Rente mindestens in Höhe der Vorschußleistung oder doch in einem heranreichenden Betrag zu erhalten; für solche Erwartungen bietet die Bewilligung von Vorschüssen keine Grundlage. Ihr Empfänger muß einen Mehrempfang in Rechnung stellen und unter Umständen sogar mit der vollständigen Rückzahlung der Vorschußleistungen rechnen, weil bis zur endgültigen Feststellung der Rente noch alles offen ist.
Die Ausgleichspflicht kann allerdings nach Treu und Glauben aus besonderen Gründen ganz oder teilweise entfallen. Verlangt der Versicherungsträger den Ausgleich von Leistungen, die er - wie hier - für den Empfänger erkennbar als Rentenvorschüsse gezahlt hat, so liegt in diesem Vorgehen jedoch regelmäßig kein Verstoß gegen Treu und Glauben; vielmehr handelt im allgemeinen der Empfänger treuwidrig, der die Herausgabe des zuviel Erhaltenen verweigert. Eine Ausnahme könnte dann gelten, wenn der Versicherungsträger die Rentenfeststellung ungebührlich hinausgezögert und die Rentenvorschüsse übermäßig lange Zeit wie endgültige Leistungen gewährt hätte. In einem solchen Falle (Rentenfeststellung nach über 2 1/2 Jahren) hat das Bundessozialgericht den für die Vergangenheit verlangten Ausgleich als unzulässige Rechtsausübung angesehen (BSG 7, 226). Solche außergewöhnlichen Umstände haben hier nicht Vorgelegen. Die Vorschüsse konnten zu keinen Zeitpunkt vom Kläger als endgültige Rentenleistungen betrachtet werden, sie sind im März 1958 bewilligt und ihre Einstellung ist schon im Januar 1959 verfügt werden; die endgültige Rentenfeststellung ist dann wenige Monate später nachgefolgt. Treu und Glauben können daher der Ausgleichsforderung der Beklagten oder ihrer Geltendmachung hier nicht entgegenstehen.
An der Entscheidung des Rechtsstreits in diesem Sinne ist der Senat auch nicht aus prozessualen Gründen gehindert. Vor der Erhebung der Klage bedurfte es keines Vorverfahrens nach §§ 78 ff SGG. Die Geltendmachung der Ausgleichsforderung war nicht von Ermessen des Versicherungsträgers abhängig. § 80 AVG ist, entgegen der Meinung des Klägers, nicht verletzt. Er betrifft die Rückforderung von Leistungen, die der Vorsicherungsträger vor rechtskräftiger Entscheidung nach dem Gesetz zahlen mußte oder die er zu Unrecht gezahlt hat. Darunter fällt die hier streitige Ausgleichsforderung nicht. Zur Vorschußleistung war der Versicherungsträger nach dem Gesetz nicht verpflichtet, er hat sie aber auf Grund eines bindend gewordenen Verwaltungsaktes und daher rechtmäßig gezahlt. Der die Vorschußleistungen bewilligende Verwaltungsakt ist von der Beklagten nicht rückwirkend beseitigt (zurückgenommen oder widerrufen) worden; die Beklagte brauchte das auch nicht zu tun, weil die Auslösung der Ausgleichspflicht davon nicht abhing, im Gegenteil die Wirksamkeit der Vorschußbewilligung voraussetzte; dieser ist demnach auch nicht nachträglich die Rechtsgrundlage entzogen worden. Mithin wäre allenfalls eine entsprechende Anwendung des § 80 AVG zu erwägen; trotz ähnlicher Interessenlage besteht hierfür jedoch kein zwingender Grund, weil in den besonderen Fällen, in denen eine sachgemäße Ermessensausübung zum Absehen von Ausgleichsforderungen führen könnte, auch die Grundsätze von Treu und Glauben dem Anspruch entgegenständen, die vom Gericht zu berücksichtigen sind und daher dem Betroffenen eine stärkere Rechtsstellung bieten als die nur in beschränktem Umfang gerichtlich nachprüfbaren Ermessenserwägungen.
Die Revision ist nach alledem als unbegründet zurückzuweisen (§§ 170 Abs. 1 Satz 1, 124 Abs. 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen