Orientierungssatz
Die Unterbrechung einer in Frankreich ausgeübten und nach französischem Recht versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit durch Arbeitslosigkeit ist keine Ausfallzeit iS des AVG § 36 Abs 1 Nr 3 (= RVO § 1259 Abs 1 Nr 3). Vielmehr muß die unterbrochene Beschäftigung oder Tätigkeit grundsätzlich nach dem früheren Reichs- oder jetzigen Bundesrecht versicherungspflichtig gewesen oder wie nach dem Fremdrentenrecht bzw nach Maßgabe zwischenstaatlicher Abkommen den nach Reichs- oder Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt sein. Eine solche besondere Regelung besteht weder nach dem AllgAbk Frankreich SozSich noch nach den EWG-V 3 und EWG-V 4.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09; EWGV 3; SozSichAbk FRA; EWGV 4
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. August 1971 und des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 6. Mai 1970 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger begehrt ein höheres Altersruhegeld. Streitig ist, ob bei Berechnung seiner Rente die Zeit seiner Arbeitslosigkeit in Deutschland vom 23. Oktober 1931 bis zum 16. Mai 1934 im Anschluß an seine versicherungspflichtige Beschäftigung in Frankreich als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG - (= § 1259 Abs. 1 Nr. 3 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) zu berücksichtigen ist.
Der im Jahre 1903 geborene Kläger arbeitete nach seiner Lehre bis 1927 als Dreher in Deutschland; er wurde sodann krank und arbeitslos. Er bezog zunächst Rente und anschließend Arbeitslosenunterstützung. Vom 25. April 1930 bis zum 22. Oktober 1931 arbeitete er in Frankreich und gehörte dabei der französischen Invalidenversicherung an. Aus dieser schied er infolge Entlassung aus seinem Arbeitsverhältnis aus. Er kehrte nach Deutschland zurück und war hier vom 23. Oktober 1931 bis zum 16. Mai 1934 arbeitslos. Zunächst erhielt er wieder Arbeitslosenunterstützung, anschließend Krisenunterstützung und ab Juli 1932 bis zum Ende seiner Erwerbslosigkeit im April 1934 Wohlfahrtsunterstützung. Seit 1949 sind für ihn Pflicht- und freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung (AnV) entrichtet.
Mit Bescheid vom 2. Dezember 1968 bewilligte die Beklagte ihm ab 1. August 1968 Altersruhegeld, bei dessen Berechnung sie die Zeit seiner Arbeitslosigkeit in Deutschland im Anschluß an seine Beschäftigung in Frankreich nicht als Ausfallzeit anrechnete.
Auf die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) Gelsenkirchen mit Urteil vom 6. Mai 1970 die Beklagte verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 2. Dezember 1968 das Altersruhegeld unter Berücksichtigung der Zeit vom 23. Oktober 1931 bis zum 16. Mai 1934 als Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG zu berechnen. Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat mit Urteil vom 5. August 1971 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es ist von § 1259 RVO ausgegangen und hat - wie schon das SG - die versicherungspflichtige Beschäftigung in Frankreich als eine "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" i. S. des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO (= § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG) angesehen. Dies folge aus der Regelung des Anhangs G Teil I Buchst. B Abs. 1 der EWG-VO Nr. 3 über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer idF des Art. 6 der EWG-VO Nr. 130/63, deren Kerngehalt gerade darin liege, die versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in allen Vertragsstaaten auch als Voraussetzung für die Entstehung von Ausfallzeiten genügen zu lassen.
Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie rügt unrichtige Anwendung des § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG.
Sie beantragt,
das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 5. August 1971 sowie das Urteil des SG Gelsenkirchen vom 6. Mai 1970 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision der Beklagten ist begründet.
Die Zeit der Arbeitslosigkeit des Klägers vom 23. Oktober 1931 bis zum 16. Mai 1934 im Anschluß an seine Beschäftigung in Frankreich ist keine Ausfallzeit i. S. des Gesetzes. Da die Beklagte nach § 89 AVG eine Gesamtleistung festzustellen hatte und dabei ihre Vorschriften, also die des AVG anwenden mußte, war von § 36 AVG auszugehen, der indes inhaltlich mit § 1259 RVO übereinstimmt. Nach § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG ist für die Anerkennung einer Zeit der Arbeitslosigkeit als Ausfallzeit u. a. erforderlich, daß "eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit" durch Arbeitslosigkeit unterbrochen worden ist. An dieser Voraussetzung fehlt es, weil die Unterbrechung einer in Frankreich ausgeübten und nach französischem Recht versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit hierfür nicht genügt. Vielmehr muß die unterbrochene Beschäftigung oder Tätigkeit grundsätzlich nach dem früheren Reichs- oder jetzigen Bundesrecht versicherungspflichtig gewesen sein. Die Begriffe "versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit", wie sie in zahlreichen Bestimmungen des Rechts der gesetzlichen Rentenversicherung verwendet werden, sind nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundlegende rechtstechnische Begriffe des deutschen Rentenversicherungsrechts. Es muß sich somit um Beschäftigungen oder Tätigkeiten handeln, für die nach Reichs- oder Bundesrecht Beiträge zur deutschen Rentenversicherung abgeführt sind (BSG 16, 284 = SozR Nr. 11 zu § 1248 RVO; BSG 17, 110 = SozR Nr. 13 zu § 1248 RVO; SozR Nr. 44 zu § 1248 RVO). Etwas anderes gilt nur für solche Zeiten, die nach dem Fremdrentenrecht oder nach Maßgabe zwischenstaatlicher Abkommen den nach Reichs- oder Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichgestellt sind. Eine solche besondere Regelung, nach der die in Frankreich bei der französischen Invalidenversicherung zurückgelegten Beitragszeiten solchen Beitragszeiten für die Voraussetzungen der Anerkennung einer Zeit als Ausfallzeit gleichstehen, besteht aber weder nach dem deutsch-französischen Sozialversicherungsabkommen noch nach den EWG-Verordnungen Nr. 3 und 4. Danach sind die Versicherungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften jedes Vertrags- oder Mitgliedsstaates anrechenbar sind, nur zur Erfüllung der Wartezeit, der Aufrechterhaltung der Anwartschaft oder zum Wiederaufleben des Anspruchs zusammenzurechnen. Eine weitergehende Gleichstellung vertragsstaatlicher Versicherungszeiten hätte dagegen einer ausdrücklichen Regelung bedurft, an der es jedoch gerade fehlt. Demgemäß fällt die vom Kläger in Frankreich zurückgelegte Versicherungszeit in die französische Versicherungslast, und sie ist dementsprechend von der Beklagten bei der Berechnung des Altersruhegeldes nicht berücksichtigt worden.
Zu Unrecht haben die Vorinstanzen eine solche Gleichstellung der Regelung in der EWG-VO Nr. 3 Anh. G Teil I Buchst. B Abs. 1 idF des Art. 6 der EWG-VO Nr. 130/63 entnommen. Nach dieser Vorschrift stehen zwar "für die Entscheidung, ob Zeiten, die nach den deutschen Rechtsvorschriften Ausfallzeiten oder Zurechnungszeiten sind, als solche angerechnet werden", "die nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedsstaates entrichteten Beiträge und der Eintritt in die Versicherung eines anderen Mitgliedsstaates den Beiträgen nach den deutschen Rechtsvorschriften und dem Eintritt in die deutsche Rentenversicherung gleich". Aus dem Wortlaut ergibt sich jedoch bereits, daß diese Bestimmung sich einmal nur auf Zeiten bezieht, die nach den deutschen Rechtsvorschriften Ausfallzeiten oder Zurechnungszeiten sind, und zum anderen nur darauf, ob sie als solche anzurechnen sind. Es wird also zunächst vorausgesetzt, daß die in Betracht kommenden Zeiten nach den deutschen Rechtsvorschriften als Ausfallzeiten zu beurteilen sind. Ist dies der Fall, so sind die in den Vertragsstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten den Beitragszeiten nach deutschen Rechtsvorschriften nur für die Entscheidung gleichgestellt, ob die in § 36 Abs. 3 AVG (= § 1259 Abs. 3 RVO) vorgeschriebene sog. Halbbelegung erreicht ist. Das Gemeinschaftsrecht stellt mithin eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in einem Mitgliedsstaat einer nach den deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegten versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit nicht uneingeschränkt, also nicht in jeder Hinsicht gleich, sondern nur insoweit, als die Anrechnung einer nach dem innerstaatlichen deutschen Recht als Ausfallzeit geltenden Zeit in Frage steht (Urteile des erkennenden Senats vom 25. Juni 1971, SozR Nr. 1 zu § 29 des Fremdrentengesetzes (FRG); des 5. Senats des BSG vom 23. August 1972, SozR Nr. 48 zu § 1259 RVO). Daß die hier in Frage stehende Bestimmung des Gemeinschaftsrechts nur in diesem Sinne zu verstehen ist, hat auch bereits der Europäische Gerichtshof - EuGH - in seinem Urteil vom 5. Dezember 1967 - 14/67 - (EuGH Band XIII, 443 ff = SozR Nr. 10 zu EWG-VO Nr. 3 Art. 28) für die ähnlich liegenden Fragen der Erfüllung der besonderen Voraussetzungen des § 1251 Abs. 2 RVO für die Anrechenbarkeit von Ersatzzeiten klargestellt.
Danach will die EWG-VO Nr. 3, zu deren Bestandteil gem. Art. 50 der VO auch der Anh. G Teil I gehört, hinsichtlich der den eigentlichen Versicherungszeiten gleichgestellten Zeiten das innerstaatliche Recht weder ändern noch ergänzen, wenn es sich im Rahmen der Bestimmungen der Art. 48 bis 51 des EWG-Vertrages hält; die EWG-VO Nr. 3 verweist vielmehr auf die Voraussetzungen, die nach innerstaatlichem Recht erfüllt sein müssen, damit eine bestimmte Zeit als den eigentlichen Versicherungszeiten gleichwertig anerkannt werden kann.
Demnach ist immer zunächst nach innerstaatlichem deutschem Recht zu ermitteln, ob überhaupt eine Ausfallzeit vorliegt. Erst dann kann geprüft werden, ob sie unter Berücksichtigung der mitgliedstaatlichen Beiträge angerechnet werden kann.
Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 25. Juni 1971 (SozR Nr. 1 zu § 29 FRG) dargelegt hat, führt diese Regelung auch nicht zu unannehmbaren Ergebnissen. In der Regel werden derartige Versicherungslücken weitgehend durch die pauschale Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - und des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - AnVNG - ausgeglichen. Im übrigen hat darüber, inwieweit den Versicherten beitragslose Zeiten angerechnet werden, allein der Gesetzgeber zu entscheiden.
Wenn der Kläger schließlich meint, seine versicherungspflichtige Beschäftigung in Frankreich müsse für die Beurteilung der Frage, ob eine nach deutschem Recht versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit durch seine Arbeitslosigkeit unterbrochen worden sei, unberücksichtigt bleiben, so stehen dem die eindeutigen Regelungen in § 36 Abs. 1 Nr. 3 AVG und § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO entgegen. Das Erfordernis der "Unterbrechung" ist nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift nur dann gegeben, wenn sich die Arbeitslosigkeit der versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit unmittelbar anschließt. Die in der Rechtsprechung in besonders gelagerten Fällen hiervon zugelassenen Ausnahmen (BSG 31, 11 = SozR Nr. 29 zu § 1259 RVO; BSG 32, 229 = SozR Nr. 32 zu § 1259 RVO; SozR Nr. 44 zu § 1259 RVO und Urteil des 11. Senats vom 16. November 1972 - 11 RA 168/72 -), kommen für den hier vorliegenden Fall nicht in Betracht.
Daß die Gerichte an dieser aus dem geltenden Recht sich ergebenden Rechtslage festzuhalten haben, ergibt sich aus dem Rentenreformgesetz - RRG - vom 16. Oktober 1972 (BGBl I S. 1965). Es hat zwar für § 1259 Abs. 1 Nr. 4 RVO eine wesentliche Änderung und Ergänzung gebracht, die Bestimmung des § 1259 Abs. 1 Nr. 3 RVO aber unverändert bestehen lassen (Art. 1 § 1 Nr. 13 RRG).
Der Gesetzgeber hat es - wie die Gesetzesmaterialien zum RRG zeigen - sogar ausdrücklich abgelehnt, auf die vorgeschlagene Streichung des Erfordernisses einer vorangegangenen versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit zu verzichten (vgl. hierzu Bericht der Bundesregierung vom 2.7.1969, BT-Drucks VI/1126 S. 27, sowie deren Entwurf eines Gesetzes zur weiteren Reform der gesetzlichen Rentenversicherung, BT-Drucks. VI/2916, mit der vorgeschlagenen Neufassung des § 1259 RVO und des § 36 AVG, der das RRG aber nicht gefolgt ist).
Aus diesen Gründen ist unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen der Vorinstanzen die Klage abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen