Orientierungssatz
Die Wehrübung eines 1909 geborenen Versicherten vom 1935-03-29 bis 1935-05-28 kann erst ab dem 1935-05-21 (Inkrafttreten des WehrG) zur Anrechnung als Ersatzzeit führen. Eine weitere Berücksichtigung bereits vor diesem Zeitpunkt aufgrund des Gesetzes für den Aufbau der Wehrmacht vom 1935-03-16 ist nicht möglich (vgl BSG vom 1974-12-18 12 RJ 162/73 = SozR 2200 § 1251 Nr 8 und BSG vom 1976-08-19 11 RA 130/75).
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; WehrG § 4 Fassung: 1935-05-21, § 7 Abs. 1 Buchst. b Fassung: 1935-05-21, § 10 Fassung: 1935-05-21, § 20 Fassung: 1935-05-21, § 38 Abs. 1 Fassung: 1935-05-21, § 7 Abs. 1 Buchst. a Nr. 4 Fassung: 1935-05-21
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 5. November 1975 aufgehoben, soweit die Beklagte verpflichtet worden ist, bei der Berechnung des Altersruhegeldes des Klägers die Zeit vom 29. März bis 20. Mai 1935 als Ersatzzeit zu berücksichtigen. Insoweit wird die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 14. Januar 1975 zurückgewiesen.
Im übrigen wird die Revision der Beklagten hinsichtlich ihrer Verurteilung zur Anrechnung einer Ersatzzeit vom 21. bis 28. Mai 1935 zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist jetzt nur noch streitig, ob eine vom Kläger in der Zeit vom 29. März bis 28. Mai 1935 abgeleistete Wehrübung bei der Berechnung seines Altersruhegeldes als Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) rentensteigernd zu berücksichtigen ist.
Der am 4. Februar 1909 geborene Kläger war nach seinem - ohne Referendarexamen beendeten - Studium der Rechtswissenschaften von April 1933 bis März 1936 als Steuersupernumerar (Beamter auf Widerruf) bei einem Finanzamt tätig. Die anschließende Beschäftigung bis Februar 1938 als Steuerpraktikant gilt gemäß § 99 des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes (AKG) als nachversichert. Vom 1. Dezember 1973 an wurde der Kläger als selbständiger Steuerberater antragsgemäß nach § 2 Abs. 1 Nr. 11 AVG versicherungspflichtig. Die Beklagte bewilligte ihm ab 1. März 1974 das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (Bescheid vom 16. September 1974).
Mit der hiergegen erhobenen Klage begehrte der Kläger die zusätzliche Anrechnung einer dreimonatigen Beitragszeit im Jahre 1929 und einer von Oktober bis Dezember 1938 geleisteten Wehrübung als Ersatzzeit. Das Sozialgericht (SG) verpflichtete die Beklagte, das Altersruhegeld des Klägers neu zu berechnen und hierbei die Zeit vom 26. Oktober bis 22. Dezember 1938 als weitere Ersatzzeit zu berücksichtigen; im übrigen wies es die Klage ab (Urteil vom 14. Januar 1975).
Mit der hiergegen eingelegten und zunächst gegen die Nichtberücksichtigung der behaupteten Beitragszeit im Jahre 1929 gerichteten Berufung machte der Kläger zuletzt nur noch geltend, es müsse auch die von ihm des weiteren abgeleistete Wehrübung vom 29. März bis 28. Mai 1935 als Ersatzzeit rentensteigernd angerechnet werden. Diesem Berufungsbegehren gab das Landessozialgericht (LSG) im wesentlichen mit folgender Begründung statt: Die Frage, ob die vom Kläger erstmals im Berufungsverfahren geltend gemachte weitere Ersatzzeit anerkannt werden müsse, sei Bestandteil der Überprüfung der Rechtmäßigkeit des vom Kläger angefochtenen Bescheides. Das Berufungsbegehren sei daher zulässig. Die Berufung sei auch begründet. Durch die vom Kläger beigebrachte Bestätigung der Oberfinanzdirektion Kiel vom 28. Februar 1975 sei die weitere Wehrübung vom 29. März bis 28. Mai 1935 nachgewiesen. Diese sei aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG geleistet worden. Die gesetzliche Grundlage sei das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 gewesen, weil dieses bereits die allgemeine Wehrpflicht eingeführt habe. Das Wehrgesetz vom 21. Mai 1935 enthalte nur die nähere Konkretisierung der schon aufgrund des genannten Gesetzes vom 16. März 1935 gegebenen allgemeinen Wehrpflicht. Die Anrechnung der Ersatzzeit sei auch nach § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AVG geboten, weil in den Dreijahreszeitraum dieser Vorschrift die nachversicherte Tätigkeit des Klägers als Steuerpraktikant falle. Nach § 9 Abs. 5 a AVG stehe eine Beschäftigung oder Tätigkeit, für die im Wege der Nachversicherung Beiträge nachentrichtet worden seien, der - in § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AVG genannten - rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit gleich. Dies müsse auch für die fiktive Nachversicherung gemäß § 99 AKG nach deren Sinn und Zweck gelten (Urteil vom 5. November 1975).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Kiel vom 14. Januar 1975 zurückzuweisen.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen vor dem Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) vertreten.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist zum Teil begründet.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Berufung zulässig ist. Insoweit kann nicht rechtserheblich sein, daß der Kläger seine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage auf Gewährung einer höheren Rente im Laufe des Berufungsverfahrens nicht mehr auf die zusätzliche Berücksichtigung einer Beitragszeit, sondern einer - erstmals geltend gemachten - Ersatzzeit gestützt hat. Hierbei handelt es sich lediglich um eine andere Begründung für das im Kern unverändert gebliebene Klagebegehren (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 22.9.1976 - 1 RA 109/75), die im Ergebnis eine auch noch im Berufungsverfahren statthafte Erweiterung oder Beschränkung des Klageantrags auf Zahlung einer höheren Rente betrifft (§ 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG).
In der Sache hat das LSG zu Unrecht für die bereits vom 29. März 1935 an geleistete Wehrübung die Voraussetzungen des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG bejaht. Nach dieser Vorschrift sind Ersatzzeiten die Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Wie das BSG wiederholt entschieden hat, bestand die gesetzliche Wehrpflicht in diesem Sinne seit dem 21. Mai 1935 (so übereinstimmend BSG-Urteilevom 18.12.1974 SozR 2200 § 1251 Nr. 8, 18.12.1975 - 12 RJ 130/75 und 19.8.1976 - 11 RA 130/75). An diesem Tag ist das Wehrgesetz (WehrG) verkündet worden (RGBl I 609) und gleichzeitig in Kraft getreten (§ 38 Abs. 1 WehrG). Der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht bereits durch das Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht vom 16. März 1935 (RGBl I 375) kommt - entgegen der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts - in diesem Zusammenhang keine entscheidende Bedeutung zu. Da dieses Gesetz lediglich den Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht beinhaltet (§ 1) und keine Konkretisierung des von der Wehrpflicht erfaßten Personenkreises enthält (vgl. § 3), kann jedenfalls kein Versicherter zur Ableistung der gesetzlichen Wehrpflicht im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG bereits durch das Gesetz vom 16. März 1935 aaO herangezogen worden sein. Der erkennende Senat sieht deshalb keinen Anlaß, abweichend von der genannten bisherigen Rechtsprechung des BSG militärischen Dienst aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht auch schon - wie es das LSG will - für die Zeit vom 16. März 1935 an zu bejahen.
Der Revision der Beklagten muß allerdings der Erfolg versagt bleiben, soweit das LSG über die rentensteigernde Berücksichtigung der vom Kläger geleisteten Wehrübung auch für die Zeit seit Inkrafttreten des WehrG am 21. Mai 1935 entschieden hat.
Denn ab diesem Zeitpunkt war der 1909 geborene Kläger gemäß § 4 WehrG wehrpflichtig. Er war aufgrund seines Alters Angehöriger der Ersatzreserve (§ 10 WehrG) und hatte als solcher die Wehrpflicht durch den Wehrdienst im Beurlaubtenstande zu erfüllen (§ 7 Abs. 1 Buchst. b WehrG). Unter Beachtung der §§ 7 Abs. 1 Buchst. a Nr. 4, 20 WehrG leistete der Kläger sonach die vom LSG gemäß § 163 SGG für das Revisionsgericht bindend festgestellte Wehrübung ab 21. Mai 1935 als Wehrpflichtiger. Insoweit ist diese Wehrübung eine Ersatzzeit im Sinne des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG (vgl. dazu übereinstimmend die Urteile des BSG vom 18.12.1974 und 19.8.1976 aaO).
Der Ansicht der Beklagten, der militärische Dienst sei auch für die Zeit vom 21. Mai 1935 an lediglich dann aufgrund gesetzlicher Wehrpflicht geleistet worden, wenn für den Versicherten eine konkrete Verpflichtung zur Dienstleistung bestanden habe, kann nicht zugestimmt werden. Eine derartige Einschränkung findet - wie das BSG bereits im Urteil vom 19. August 1976 aaO betont hat - in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG keine Stütze, weil dort nur darauf abgestellt wird, ob die gesetzliche Wehrpflicht die Grundlage des militärischen Dienstes gewesen ist. Dies muß hier aber für die Zeit vom 21. Mai 1935 an bejaht werden.
Auch der Hinweis der Beklagten auf die Urteile des BSG vom 29. Oktober 1969 (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO) und 1. März 1974 (SozR 2200 § 1251 Nr. 3) rechtfertigen keine andere Entscheidung. Diese Urteile betreffen nur Zeiten des vor der Einführung der gesetzlichen Reichsarbeitsdienstpflicht geleisteten freiwilligen Arbeitsdienstes, für die eine unmittelbare Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG ohnehin nicht in Betracht kommt (vgl. hierzu auch Urteil des erkennenden Senats vom 31.3.1976 - 1 RA 59/75).
Bezüglich der Zeit vom 21. bis 28. Mai 1935 hat das LSG auch ohne Rechtsfehler und von der Revision unbeanstandet angenommen, daß die Voraussetzung für die Anrechnung als Ersatzzeit gemäß § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AVG erfüllt ist, weil insoweit die nach § 99 AKG als nachversichert geltende Zeit vom 27. März 1936 bis 10. Februar 1938 einer innerhalb von drei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit aufgenommenen rentenversicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit im Sinne des § 28 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a AVG gleichsteht. Für tatsächlich nachversicherte Zeiten folgt dies bereits aus § 124 Abs. 4 AVG (ebenso Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Viertes und Fünftes Buch, Anm. 8 zu § 1251, 14. Ergänzung 1. Jan. 1975). Für Zeiten, für die - wie hier - eine fiktive Nachversicherung eingreift, kann nichts anderes gelten (ebenso Eicher/Haase/Rauschenbach, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 5. Aufl., Anm. 17 zu § 1251 RVO/§ 28 AVG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen