Entscheidungsstichwort (Thema)
Rehabilitation. Beratungspflicht. Herstellungsanspruch. Fehlen von Urteilsgründen
Leitsatz (amtlich)
- Wird in einem Urteil auf einen vom Kläger vorgetragenen eigenständigen Weg zur Begründung des geltend gemachten Anspruchs nicht eingegangen, so fehlen Urteilsgründe iS von § 551 Nr 7 ZPO.
- Das Arbeitsamt ist im Rahmen beruflicher Rehabilitation verpflichtet, den Rehabilitanden zur Stellung eines Antrags auf medizinische Rehabilitation anzuregen, sobald Anhaltspunkte vorhanden sind, daß auch diese Möglichkeit zur Eingliederung in das Erwerbsleben geprüft werden sollte.
Normenkette
SGG §§ 146, 150 Nr. 2 a.F., §§ 62, 136 Abs. 1 Nr. 6, § 202; ZPO § 551 Nr. 7; RehaAnglG §§ 4-5; SGB I § 14; RVO § 1241d Abs. 3-4
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Oktober 1993 aufgehoben, soweit die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen worden ist.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger infolge unzureichender Betreuung und dadurch bedingter späterer Rentenantragstellung aufgrund eines Herstellungsanspruchs schon von einem früheren Zeitpunkt an Erwerbsunfähigkeitsrente (EU-Rente) beanspruchen kann. Der Kläger bezieht die EU-Rente aufgrund eines Antrages von August 1988 seit 1. September 1988. Als Datum des Versicherungsfalles wurde der 6. März 1983 zugrunde gelegt. Er begehrt, ihm die Rente bereits ab 1. April 1983 zu zahlen. In der Revisionsinstanz steht im Vordergrund die Frage, ob das Landessozialgericht (LSG) die Berufung des Klägers zu Unrecht als unzulässig verworfen hat, indem es einen Verfahrensfehler des Sozialgerichts ≪SG≫ (Fehlen von Urteilsgründen zur Frage des Herstellungsanspruchs) verneint hat.
Der Kläger ist Jurist. Er hat am 31. Januar 1975 die große Staatsprüfung abgelegt. Danach war er wiederholt arbeitsunfähig erkrankt und im übrigen – ausgenommen kurze Zwischenbeschäftigungen – arbeitslos.
Am 21. August 1981 beantragte der Kläger beim zuständigen Arbeitsamt Göttingen (AA) Leistungen zur beruflichen Rehabilitation (Reha). Hierzu war er vom AA gemäß § 105a Abs 2 Satz 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) aufgefordert worden. Die daraufhin vom AA eingeschaltete Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) verneinte diesem gegenüber sowohl ihre Zuständigkeit für die beantragte Reha (wegen Fehlens der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen) als auch das Vorliegen von Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit. Es bestanden jedoch beim Kläger Unklarheiten über den Inhalt des Antrags. Er bat deshalb die BfA um Entscheidung über die Rente. Diese antwortete mit Schreiben vom 13. Oktober 1982, daß ein Rentenantrag bisher nicht gestellt worden sei und er deshalb einen solchen stellen müsse, wenn er sich berufs- oder erwerbsunfähig fühle.
Ein solcher Antrag wurde aber zunächst nicht gestellt. Vielmehr wurde nach Angaben des Klägers der Reha-Antrag am 16. April 1985 auf Anraten des AA zurückgenommen. 1987 folgten dann neue Anträge auf Förderung einer EDV-Schulung. Ein Rentenantrag wurde erst im August 1988 gestellt. Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 7. Juli 1989 Rente wegen EU ab 1. September 1988, wobei der Eintritt des Versicherungsfalls mit dem 6. März 1983 angenommen wurde. Das Begehren des Klägers, die Rente bereits von einem früheren Zeitpunkt an zuzubilligen, blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 20. November 1989, Urteil des SG Hildesheim vom 22. Mai 1992).
Gegen das Urteil des SG legte der Kläger Berufung ein und begründete diese ua wie folgt:
“Das Sozialgericht Hildesheim hat mein gesamtes späteres Vorbringen hinsichtlich des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs … unberücksichtigt gelassen.” …
Er nahm damit Bezug darauf, daß er im Verfahren vor dem SG von Anfang an beanstandet hatte, er sei nicht über die Bedeutung der verschiedenen möglichen Anträge informiert worden. In einem besonderen Schriftsatz vom 27. März 1991 – der sich als zusätzliche Klage in der Sache S 5 J 49/91 befindet – hatte er ausführlich dargelegt, daß ihm ein Herstellungsanspruch wegen unzureichender Beratung zustehe, aus dem sich ein früherer Rentenbeginn ergebe. Die Beklagte hatte dazu mit Schriftsatz vom 6. Mai 1991 Stellung genommen.
Das LSG hat mit Urteil vom 14. Oktober 1993 die Berufung, soweit hier entscheidungserheblich, als unzulässig verworfen. Es hat entschieden, daß die Berufung gemäß dem in diesem Fall noch anzuwendenden § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der bis 28. Februar 1993 geltenden Fassung (aF) nicht statthaft sei. Die Berufung sei auch nicht nach § 150 Nr 2 SGG aF ausnahmsweise zulässig, denn der Kläger habe keine begründete Verfahrensrüge erhoben. Seine Rüge, ihm sei das rechtliche Gehör versagt worden, indem sein Vorbringen zum Vorliegen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht zur Kenntnis genommen worden sei, sei nicht begründet. Das Gericht habe sich erkennbar mit seinen diesbezüglichen Schriftsätzen befaßt. In den Urteilsgründen müsse nicht auf das gesamte Vorbringen der Beteiligten eingegangen werden.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend: Das LSG habe nicht durch Prozeßurteil entscheiden dürfen, sondern nur durch Sachurteil. Die Nichtbehandlung der Frage des Herstellungsanspruchs im Urteil zeige, daß das SG sich inhaltlich mit diesem Teil des Vorbringens nicht befaßt habe.
Zur Sache selbst trägt er vor: Bereits 1981 sei ein sog Borderline-Syndrom festgestellt worden. Dies hätte hinreichend Veranlassung gegeben, ihn dahin zu beraten, einen Rentenantrag zu stellen. Da dies nicht geschehen sei, stehe ihm wegen unzureichender Beratung durch das AA ein Herstellungsanspruch gegen die Beklagte zu.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 7. Juli 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. November 1989 zu verurteilen, ihm die Rente wegen EU bereits ab 1. April 1983 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält einen Herstellungsanspruch nicht für begründet, da dem Kläger die Möglichkeit eines Rehabilitations- oder Rentenantrags hinlänglich bekannt gewesen sei.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist zulässig und auch im Sinne der Zurückverweisung begründet.
Das LSG hat zu Unrecht die Berufung als unzulässig angesehen. Sie war gemäß § 150 Nr 2 SGG aF zulässig, da der Kläger einen wesentlichen Mangel des Verfahrens erster Instanz in ausreichender Weise gerügt hatte.
Die Rüge des Klägers, sein Vortrag zum Herstellungsanspruch sei im Urteil des SG übergangen worden, ist sowohl als Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG) als auch als Rüge des Fehlens von Urteilsgründen (§ 136 Abs 1 Nr 6 SGG sowie § 202 SGG iVm § 551 Nr 7 der Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫) zu verstehen. Er hat einen Tatbestand hervorgehoben, der beide Rügen ausfüllen könnte.
Diese Rüge war zumindest insoweit begründet, als damit das Fehlen von Urteilsgründen beanstandet worden ist.
Das LSG hat zutreffend darauf hingewiesen, daß der Kläger mit Schriftsatz vom 27. März 1991 eingehend seine Auffassung über das Vorliegen eines Herstellungsanspruchs dargelegt hat. Diesen Schriftsatz hat das SG zwar formal in der Weise behandelt, daß es ihn der Beklagten zur Stellungnahme zugeleitet hat. Es ist dem LSG auch einzuräumen, daß nach den Umständen des Falles naheliegt, daß der Vorsitzende des SG das Vorbringen des Klägers zur Kenntnis genommen hat. Damit ist aber nicht einmal die Verletzung des rechtlichen Gehörs ausgeschlossen worden; denn es fehlen (mangels Erörterung im Urteil) ausreichende Hinweise, daß auch die ehrenamtlichen Richter von dem Vorbringen des Klägers Kenntnis erhalten haben. Diese Frage kann hier aber letztlich dahinstehen, denn jedenfalls läßt der Inhalt des Urteils in keiner Weise erkennen, daß das SG sich inhaltlich mit diesem Teil der Darlegung des Klägers befaßt hat. Weder in der Darstellung des Tatbestandes noch in den Entscheidungsgründen wird der für das Verfahren zentral bedeutsame Gesichtspunkt des Herstellungsanspruchs auch nur andeutungsweise behandelt.
Damit ist der Tatbestand des § 136 Abs 1 Nr 6, § 202 SGG iVm § 551 Nr 7 ZPO erfüllt. § 551 Nr 7 ZPO ist nicht erst dann verletzt, wenn überhaupt keine Gründe vorliegen, sondern auch dann, wenn einzelne geltend gemachte Ansprüche oder Angriffs- oder Verteidigungsmittel nicht behandelt worden sind (BGHZ 39, 333, 337; BSG NJW 1966, 566), sofern diese Mittel geeignet waren, den mit der Revision erstrebten Erfolg herbeizuführen. Dies ist hier der Fall.
Der Herstellungsanspruch, der sich auf einen Beratungsfehler der Bundesanstalt für Arbeit stützt, kann (zumindest in den Grenzen des § 44 Abs 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) dazu führen, daß der Kläger so gestellt wird, als hätte er bereits früher einen Rentenantrag gestellt (oder einen Antrag auf medizinische Reha), und dementsprechend eine Zahlung von EU-Rente für weiter zurückliegende Zeiträume begründen. Da andere wirksame Rechtsgründe, die das Begehren des Klägers stützen könnten, nicht erkennbar sind, somit der Herstellungsanspruch eigentlich der einzige erfolgversprechende Ansatz für die Begründung der Klage war, durfte dieser Teil keinesfalls im Urteil ausgespart werden. Es handelt sich hier nicht um einen unter vielen Gesichtspunkten, die unter Umständen unbehandelt bleiben können.
Der Verfahrensmangel “fehlende Urteilsgründe” ist auch im Berufungsverfahren ordnungsgemäß gerügt worden. Die Berufung war damit nach § 150 Nr 2 SGG aF zulässig. Das LSG hätte in der Sache entscheiden müssen und kein Prozeßurteil fällen dürfen.
Da sich das LSG – von seinem Standpunkt aus zu Recht – nicht in der Sache mit dem vom Kläger geltend gemachten Anspruch befaßt, also auch keine entsprechenden Tatsachenfeststellungen getroffen hat, was im Revisionsverfahren nicht nachgeholt werden kann (vgl § 163 GG), ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Bei der erneuten Entscheidung wird darüber zu befinden sein, ob der vom Kläger geltend gemachte Herstellungsanspruch darauf gestützt werden könnte, daß es das AA versäumt hat, den Kläger in der Zeit ab März 1983 anzuregen, einen Antrag auf medizinische Rehabilitation zu stellen; durch einen solchen Antrag wäre im Falle des Scheiterns der medizinischen und beruflichen Rehabilitation zugleich der Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente gesichert gewesen (§ 1241d Abs 3 und 4 RVO). Dabei ist unbeachtlich, daß das AA für die medizinische Rehabilitation nicht zuständig war; denn einen Herstellungsanspruch können Versäumnisse einer anderen Behörde immer dann begründen, wenn deren Aufgabenbereich den streitigen Anspruch berührt (vgl BSG SozR 3-2200 § 14 Nr 9 S 27 mwN).
Insoweit könnten folgende tatsächlichen Umstände von Bedeutung sein, die das LSG noch im einzelnen festzustellen haben wird: Nach dem Akteninhalt war bereits vor 1983 die medizinische Beurteilung der Leistungsfähigkeit des Klägers unsicher. Die Arbeitsamtsärztin Dr. B.… hielt bei einer Begutachtung am 26. März 1981 leichte bis mittelschwere Tätigkeiten ganztags ohne Schichtarbeit für zumutbar, ebenfalls Bürotätigkeiten und Tätigkeiten in juristischen Berufen. In einem Teamgespräch vom 6. Mai 1981 wurde dann aber eine “Phase psychischer Beeinträchtigung von Krankheitswert” festgestellt.
Die Ärztin Dr. B.… korrigierte entsprechend ihre Beurteilung dahin, daß keine regelmäßige Lohntätigkeit, höchstens eine von zwei bis drei Stunden täglich, in Betracht käme. Demgegenüber kam der (nach einem auf § 105a AFG gestützten Ersuchen des AA von der BfA beauftragte) Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. W.… in seinem Gutachten vom 10. November 1981 zu dem Ergebnis, daß der Kläger bei Vermeidung psychischer Belastungen noch ganztags einsatzfähig sei. Einer Umschulung sei er nicht gewachsen.
Dem schloß sich dann am 2. Juli 1982 auch die Arbeitsamtsärztin Dr. B.… ohne kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieses Gutachtens an.
Im März 1983 scheiterte eine etwa dreimonatige Tätigkeit bei der Universitätsbibliothek G.… Nach Ansicht des Betriebsarztes benötigte der Kläger psychische Betreuung, die von dort nicht gestellt werden konnte.
In einem weiteren Gutachten vom 26. April 1983 kam Frau Dr. B.… gleichwohl zu dem Ergebnis, daß Berufsunfähigkeit nicht vorliege; der Zustand sei unverändert. Sie schlug allerdings eine Überprüfung durch den Psychologischen Dienst vor. Diese fand am 6. Mai 1983 statt. Der Psychologe gutachtete, daß der Kläger in psychischer Hinsicht nicht mehr auf dem Arbeitsmarkt einsatzfähig sei. Wenn überhaupt könne nur über eine Reha-Maßnahme geholfen werden. Diese Beurteilung gab indes, soweit erkennbar, weder Anlaß, medizinische Rehabilitationsmaßnahmen anzuregen, noch änderte sich die Leistungsbeurteilung der Arbeitsverwaltung. Noch in ihrem Gutachten vom 2. September 1988 kam die Ärztin Dr. B.… zu dem Ergebnis, daß der Kläger noch mittelschwere Ganztagstätigkeiten verrichten könne, und es wurde sogar ab 11. Januar 1988 eine Ausbildung zum Fachmann für Datenbanken und Expertensysteme gefördert, die der Kläger aber schon am 24. April 1988 wegen Überforderung abbrach. Erst ein im Rentenverfahren erstattetes Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie H.… vom 16. Februar 1989 ergab dann die Feststellung von Erwerbsunfähigkeit.
Soweit die Feststellungen des LSG nichts anderes ergeben, könnte hiermit eine Situation gegeben gewesen sein, die das AA verpflichtete, den Kläger zu einem Antrag auf medizinische Rehabilitation anzuregen. Es dürfte spätestens ab März 1983 zweifelhaft geworden sein, ob die bisherige Beurteilung der Leistungsfähigkeit dem Leidenszustand des Klägers gerecht wurde.
Bei der Prüfung, inwieweit durch das AA Beratungs- und Betreuungspflichten gegenüber dem Kläger verletzt wurden, ist zu berücksichtigen, daß der Kläger sich in der Zeit, in der er seiner Ansicht nach vom AA unzureichend betreut wurde, in einem Verfahren der beruflichen Rehabilitation befand. Deshalb richten sich die Rechte und Pflichten des AA nach den Bestimmungen und Grundsätzen des Rehabilitationsrechts. Diese gehen noch über die allgemeinen Beratungspflichten (§ 14 des Ersten Buches Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – ≪SGB I≫) hinaus; sie umfassen insbesondere die Verpflichtung, aktiv auf einen Reha-Erfolg hinzuwirken.
Rehabilitation ist nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) grundsätzlich ein einheitliches und ganzheitliches, auf ein Ziel (Eingliederung in das Arbeitsleben) ausgerichtetes Verfahren (vgl BSG SozR 2200 § 1237 Nr 15 S 24; SozR 2200 § 1237a Nr 2 S 4 f; jeweils mwN). Es wird durch den Antrag des Versicherten in Gang gesetzt mit der Folge, daß es nunmehr Sache des Rehabilitationsträgers ist, alle erforderlichen Maßnahmen einzuleiten, bis das Ziel der Rehabilitation erreicht ist oder keine weiteren Erfolge zu erwarten sind (vgl BSG SozR 2200 § 1237a Nr 12; SozR 3-2200 § 1236 Nr 3 S 10 f). Dabei beschränkt sich die Verpflichtung des Rehabilitationsträgers nicht auf die Einleitung, Koordinierung und Durchführung derjenigen Maßnahmen, für die er selbst zuständig ist. Vielmehr hat er von sich aus aktiv darauf hinzuwirken, daß auch die erforderlichen oder auch nur zweckmäßig erscheinenden Maßnahmen, die außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs liegen, rechtzeitig eingeleitet und sachgerecht mit den eigenen Aufgaben koordiniert werden. Diese Verpflichtung ist die notwendige Folge eines gegliederten Leistungssystems (vgl Mrozynski. NZA 1996, 57). Das Gesetz über die Angleichung der Leistung zur Rehabilitation (RehaAnglG) bringt diesen Grundsatz, der sich eigentlich schon aus dem Ziel der Rehabilitation ergibt, dadruch zum Ausdruck, daß es einige dieser Verpflichtungen beispielhaft auflistet. So hat zB der unzuständige Rehabilitationsträger nach § 4 Abs 2 RehaAnglG dem zuständigen Träger Mitteilung zu machen, wenn er feststellt, daß im Einzelfall medizinische, berufsfördernde oder ergänzende Maßnahmen angezeigt erscheinen. Anträge auf Einleitung der Maßnahmen sind unverzüglich an den zuständigen Träger weiterzuleiten. Nach § 4 Abs 3 RehaAnglG hat der zuständige Träger gleichzeitig mit der Einleitung einer medizinischen Maßnahme zur Rehabilitation, während ihrer Durchführung und nach ihrem Abschluß zu prüfen, ob durch geeignete berufsfördernde Maßnahmen die Erwerbsfähigkeit des Behinderten erhalten, gebessert oder wiederhergestellt werden kann. § 5 Abs 1 RehaAnglG verpflichtet die Rehabilitationsträger zu enger Zusammenarbeit. Nach § 5 Abs 3 RehaAnglG ist in allen geeigneten Fällen, insbesondere wenn das Rehabilitationsverfahren mehrere Maßnahmen umfaßt oder andere Träger oder Stellen daran beteiligt sind, ein Gesamtplan zur Rehabilitation aufzustellen, der umfassend alle Maßnahmen, die im Einzelfall erforderlich sind, um eine vollständige und dauerhafte Eingliederung zu erreichen, so koordiniert, daß die Maßnahmen nahtlos ineinandergreifen.
Zu der notwendigen ganzheitlichen Wahrnehmung der Rehabilitationsaufgabe gehört es nicht nur, wie § 4 Abs 2 RehaAnglG dies vorsieht, den zuständigen Rehabilitationsträger auf einen bestehenden Rehabilitationsbedarf aufmerksam zu machen, sondern auch den zu betreuenden Versicherten aufzuklären und zu überzeugen, daß es angezeigt ist, medizinische Rehabilitationsmaßnahmen zu prüfen (und er dazu einen Antrag stellen muß), wenn sich dies im Rahmen der beruflichen Rehabilitation herausstellt. Die im RehaAnglG festgelegten Pflichten in bezug auf die Zusammenarbeit von Trägern prägen zugleich das Sozialrechtsverhältnis zum Versicherten; denn es geht dabei um seinen Anspruch auf Rehabilitation. Der dem Versicherten gegenüber bestehenden Pflicht zur Eingliederung in das Arbeitsleben würde es widersprechen, Maßnahmen beruflicher Rehabilitation fortzuführen (oder zu reduzieren), ohne zuvor, uU durch Einschaltung des zuständigen Trägers, zu klären, ob Maßnahmen medizinischer Rehabilitation angebracht sind. Dazu gehört dann auch, nachdrücklich darauf hinzuwirken, daß notwendige Anträge gestellt werden, die es dem zuständigen Träger ermöglichen, die medizinischen Maßnahmen durchzuführen, die erforderlich sind, um den Erfolg der beurflichen Rehabilitation zu ermöglichen oder zu sichern. Dies gilt besonders, wo angesichts des Leidenszustandes des Versicherten möglicherweise Zweifel angebracht sind, ob der Rehabilitand die Erfordernisse überschaut und in der Lage ist, die Rehabilitation ohne Hilfe und Rat selbst zu steuern.
Falls das LSG auf der Grundlage dieser Überlegungen zu dem Ergebnis kommt, daß dem Kläger wegen unzureichender Betreuung im Rahmen des Rehabilitationsverfahrens (unterlassene Anregung eines Antrags auf medizinische Rehabilitation) ein Herstellungsanspruch gegen die Beklagte zusteht, könnte dahinstehen, ob – wie der Kläger meint – ein Herstellungsanspruch auch daraus herzuleiten wäre, daß das AA ihm nicht zu einem Rentenantrag geraten hat. Hinsichtlich der Begründetheit eines solchen Anspruchs könnten Zweifel angebracht sein, da die BfA den Kläger mit Schreiben vom 30. Oktober 1982 ausdrücklich darauf hingewiesen hatte, daß bisher kein Rentenantrag vorliege und bei Bedarf ein solcher gestellt werden müsse. Eine Hinweispflicht des AA könnte darüber hinaus deshalb zweifelhaft sein, weil es der Motivation zur erfolgreichen Durchführung beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen entgegenwirken und damit deren Erfolg gefährden könnte, wenn man das AA als verpflichtet ansehen würde, in vergleichbaren Fällen stets auch einen Rentenantrag anzuregen. Ob ein Herstellungsanspruch auch dadruch begründet sein könnte, daß möglicherweise Mängel der Abklärung des Gesundheitszustandes durch den Medizinischen Dienst des AA vorlagen, die mittelbar zu einer unzureichenden Beratung geführt haben, kann beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens ebenfalls dahinstehen. Ebenso erübrigen sich zur Zeit Hinweise, in welchem Umfang aufgrund eines Herstellungsanspruchs rückwirkend Leistungen gewährt werden könnten.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
Haufe-Index 956135 |
Breith. 1996, 929 |