Leitsatz (amtlich)

Im Ausland zurückgelegte Zeiten, die der deutsche Versicherungsträger nach mehreren 2seitigen Sozialversicherungsabkommen für die Entstehung des Rentenanspruchs zu berücksichtigen hat, müssen zusammengerechnet werden, wenn erst auf diese Weise die Wartezeit erfüllt wird.

 

Normenkette

RVO § 1263 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 40 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09; SozSichAbk CHE Art. 11 Abs. 1 Fassung: 1964-02-25; ArblVAbk GBR Art. 21 Nr. 1 Buchst. a Fassung: 1960-04-20

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 14. Januar 1971 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die außergerichtlichen Kosten der Revisionsinstanz zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob den Klägern Waisenrente zusteht.

Die Mutter der Kläger, die am 16. Juni 1969 gestorben ist, hat nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) zur deutschen Rentenversicherung 32 Monatsbeiträge, zur schweizerischen Alters- und Hinterlassenen-Versicherung 15 Monatsbeiträge und zur britischen Sozialversicherung 27 Monatsbeiträge entrichtet. Die Beklagte wies den Antrag der Kläger vom Juli 1969 auf Waisenrente mit Bescheid vom 27. August 1969 ab, weil mit den deutschen und den schweizerischen Beiträgen die Wartezeit nicht erfüllt sei und die britischen Beiträge nach dem deutsch-schweizerischen Sozialversicherungsabkommen nicht berücksichtigt werden dürften. Während des Verfahrens hat die Beklagte die Zahlung von Waisenrente nochmals abgelehnt, da auch die deutschen und die britischen Beiträge zur Erfüllung der Wartezeit nicht ausreichten (Bescheid vom 17. März 1970). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben, das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 14. Januar 1971). Es ist davon ausgegangen, daß der Bescheid vom 17. März 1970 nicht durch § 96 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), sondern durch eine Klageerweiterung Gegenstand des Rechtsstreits geworden ist, und hat zur Sache ausgeführt, die Beklagte sei verpflichtet, die deutschen, schweizerischen und britischen Versicherungszeiten zusammenzurechnen. Das Zustimmungsgesetz des Art. 59 Abs. 2 des Grundgesetzes (GG) mache den Inhalt der völkerrechtlichen Verträge zu innerstaatlichem Recht. Deshalb müßten auf die Wartezeit die Versicherungszeiten des § 27 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und diejenigen Zeiten, die nach einem internationalen Sozialversicherungsabkommen zu berücksichtigen seien, gleichermaßen angerechnet werden.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat form- und fristgerecht Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung der §§ 44, 40 Abs. 2, 27 AVG, Art. 2 Nr. 2 letzter Halbsatz des deutsch-schweizerischen Sozialversicherungsabkommens und des § 96 SGG. Sie meint, das LSG verkenne das Wesen zwischenstaatlicher Vereinbarungen. Diese regelten ausschließlich das Verhältnis der Bundesrepublik zu den jeweiligen Vertragspartnern und wirkten sich deshalb nur auf Versicherungszeiten aus, die nach den Rechtsvorschriften der beiden Vertragsstaaten zurückgelegt seien; nur deren Zusammenrechnung ordne das jeweilige Abkommen an. Dadurch würden die Versicherungszeiten des anderen Vertragsstaates aber nicht zu deutschen Versicherungszeiten. Der Standpunkt des Berufungsgerichts mache Vereinbarungen der Bundesrepublik Deutschland über eine multilaterale Zusammenrechnung von Versicherungszeiten, wie sie in den Verordnungen Nr. 3 und 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und dem Rheinschifferabkommen enthalten seien, überflüssig. Die Zusammenrechnung der in mehreren Staaten zurückgelegten Versicherungszeiten ohne multilaterale Vereinbarung könne zu einer Belastung des anderen Vertragsstaates führen, die bei Abschluß des Vertrages nicht beabsichtigt gewesen sei. Art. 2 Nr. 2 letzter Halbsatz des deutsch-schweizerischen Sozialversicherungsabkommens bestimme deshalb, daß als innerstaatliche Rechtsvorschriften im Sinne des Abkommens nicht die Rechtsvorschriften gelten, die sich für einen Vertragsstaat aus zwischenstaatlichen Vereinbarungen oder überstaatlichem Recht ergeben oder zu deren Ausführung dienen.

Sie beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Koblenz vom 31. August 1970 die Klage abzuweisen.

Die Kläger beantragen,

die Revision zurückzuweisen.

Sie verteidigen das angefochtene Urteil.

II

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Es kommt nicht darauf an, ob das Berufungsgericht zu Recht § 96 SGG nicht angewendet hat. Auf einer Verletzung dieser Vorschrift kann die angefochtene Entscheidung nicht beruhen, weil das LSG über den Bescheid der Beklagten vom 17. März 1970 sachlich entschieden hat.

Auch die übrigen Revisionsrügen der Beklagten greifen nicht durch. Den Klägern steht nach § 44 Abs. 1 Satz 1 AVG die begehrte Waisenrente zu, da ihre verstorbene Mutter die Wartezeit von 60 Kalendermonaten (§ 40 Abs. 2 i. V. m. § 23 Abs. 3 AVG) erfüllt hat. Den nach Bundesrecht entrichteten 32 Monatsbeiträgen sind die in der Schweiz und in Großbritannien zurückgelegten Versicherungszeiten von 42 Kalendermonaten hinzuzurechnen. Nach Art. 11 Abs. 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der schweizerischen Eidgenossenschaft über Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 (BGBl II 1965, 1293) werden für die Erfüllung der Wartezeit die nach den schweizerischen Rechtsvorschriften zurückgelegten und für den Erwerb des Leistungsanspruchs anzurechnenden Beitragszeiten und ihnen gleichgestellte Zeiten berücksichtigt, wenn mindestens eine Beitragszeit von 12 Kalendermonaten nach den deutschen Rechtsvorschriften zurückgelegt und auf die Wartezeit anzurechnen ist. Nach den Feststellungen des LSG liegen diese Voraussetzungen vor. Art. 21 Nr. 1 a des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Nordirland über Soziale Sicherheit vom 20. April 1960 (BGBl II 1961, 241) stellt für die Entscheidung, ob eine Person die Wartezeit erfüllt hat, alle seit dem 5. Juli 1948 nach den Rechtsvorschriften des Vereinigten Königreichs zurückgelegten Beitragszeiten den deutschen Versicherungszeiten gleich. Die Beklagte hat somit die schweizerischen und die britischen Versicherungszeiten bei der Prüfung der Wartezeit anzurechnen.

Beide Verträge sind hinsichtlich der genannten Anrechnungsbestimmungen unmittelbar geltendes Recht, wenn auch der Beklagten zuzugeben ist, daß damit die ausländischen Zeiten nicht zu deutschen Versicherungszeiten werden. Wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, macht das Zustimmungsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG den völkerrechtlichen Vertrag zu einem innerstaatlichen Gesetz, das für den einzelnen Rechte und Pflichten erzeugt (vgl. Wannagat, Lehrbuch des Sozialversicherungsrechts, 1965, S. 409). Deshalb kann der Versicherte die Anwendung aller zwischenstaatlichen Sozialversicherungsabkommen bis zur Erfüllung der Wartezeit verlangen, soweit im Einzelfall die Voraussetzungen vorliegen. Der Versicherungsträger ist nicht berechtigt, nur einen der Verträge bei der Feststellung der Leistungsvoraussetzungen heranzuziehen; er muß sie beide zugleich anwenden, wenn die Anrechnung aller ausländischen Zeiten zur Entstehung des Rentenanspruchs erforderlich ist.

Die Zusammenrechnung von deutschen, schweizerischen und britischen Beitragszeiten bei Prüfung der Wartezeit wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß nach Art. 2 Abs. 5 des deutsch-britischen Abkommens dieses Abkommen auf Änderungen und Ergänzungen der die soziale Sicherheit betreffenden Rechtsvorschriften, die sich aus einem Gegenseitigkeitsabkommen über soziale Sicherheit mit einem oder mehreren anderen Ländern oder aus einer Rechtsvorschrift der EWG ergeben, nur Anwendung findet, wenn die beiden Vertragsparteien dies vereinbaren, und daß nach Art. 2 des deutschschweizerischen Abkommens sich dieses Abkommen nur auf Rechtsvorschriften über die soziale Sicherheit bezieht, soweit sie sich nicht aus zwischenstaatlichen Verträgen oder überstaatlichem Recht ergeben oder deren Ausführung dienen. Ähnliche Bestimmungen enthalten die meisten deutschen Sozialversicherungsabkommen. Den genannten Vorschriften kann nicht entnommen werden, daß dem deutschen Versicherungsträger die gleichzeitige Anwendung zweier Sozialversicherungsabkommen untersagt ist (anderer Ansicht RVO-Gesamtkommentar, Internationales Sozialversicherungsrecht, Anm. 3 zu Art. 2 des deutsch-schweizerischen Vertrages). Beide Bestimmungen besagen nur, daß sich die im Abkommen getroffenen Regelungen grundsätzlich allein im Verhältnis der beiden Vertragsstaaten zueinander auswirken, nicht aber zugleich auf das Abkommen eines Vertragspartners mit einem dritten Staat erstrecken. Dadurch wird verhindert, daß die Regelung einer zwischenstaatlichen Vereinbarung, die ein Vertragspartner mit einem anderen Staat geschlossen hat und die durch das Zustimmungsgesetz innerstaatliches Recht geworden ist, von dem anderen Vertragspartner bei der Durchführung des Vertrages berücksichtigt werden muß, obwohl er mit dem dritten Staat kein Abkommen getroffen hat. Der schweizerische Versicherungsträger muß also nicht in Großbritannien zurückgelegte Zeiten über das deutsch-schweizerische Sozialversicherungsabkommen berücksichtigen. Ein weiteres Sozialversicherungsabkommen mit einem anderen Staat darf den Vertragspartner nicht belasten. Das kann aber entgegen der Behauptung der Beklagten hier nicht geschehen, wenn lediglich der deutsche Versicherungsträger die britischen, schweizerischen und deutschen Zeiten für die Berechnung der Wartezeit kumulativ berücksichtigen muß. An einer über die konkreten Abmachungen hinausgehenden Beschränkung der Anwendung zwischenstaatlicher Sozialversicherungsabkommen ist keiner der Vertragspartner interessiert. Wie weitere Sozialversicherungsabkommen eines Vertragspartners sich auf die Rechte des Versicherten und seiner Hinterbliebenen auswirken, ist daher in den zweiseitigen Verträgen nicht geregelt. Deshalb kann es auch nicht Gegenstand eines zweiseitigen Abkommens sein, wie zu verfahren ist, wenn anrechnungsfähige ausländische Versicherungszeiten zusammentreffen. Der Hinweis der Revision auf Art. 27 der Verordnung Nr. 3 der EWG über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer (BGBl II 1959, 473), der die Zusammenrechnung der nach den Rechtsvorschriften von zwei oder mehr Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten vorschreibt (ebenso Art. 15 Abs. 1 des revidierten Abkommens über die soziale Sicherheit der Rheinschiffer vom 13. Februar 1961 - BGBl II 1969, 1359), geht deshalb fehl; an diesen Abkommen sind mehr als zwei Staaten beteiligt; der Inhalt mehrerer zweiseitiger Abkommen ist in ihnen zusammengefaßt (vgl. Wannagat, aaO, S. 407).

Gegen die Zusammenrechnung der deutschen, schweizerischen und britischen Beitragszeiten spricht auch nicht, daß § 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) im vorliegenden Fall nicht gilt. Das FRG ist schon deshalb nicht anwendbar, weil die Mutter der Kläger die Voraussetzungen des § 1 a bis d FRG nicht erfüllte und die Ausnahmefälle des § 17 FRG nicht vorliegen. § 15 Abs. 1 FRG bestimmt nur, welche Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten gleichgestellt werden. Die Zusammenrechnung mehrerer in verschiedenen Staaten zurückgelegter Zeiten folgt aus ihrer Anrechnungsfähigkeit; sie entspricht einem allgemein gültigen Grundsatz und wird deshalb nicht ausdrücklich vom Gesetz vorgeschrieben. Sie erübrigt sich, wenn die Wartezeit bereits durch die Versicherungszeiten, die in zwei Staaten zurückgelegt sind, erfüllt ist und die Fremdzeiten die Höhe des Rentenanspruchs nicht beeinflussen. Dennoch müssen die Zeiten zusammengerechnet werden, die nach mehreren zweiseitigen Sozialversicherungsabkommen für die Entstehung der Leistung zu berücksichtigen sind, wenn erst auf diese Weise die Wartezeit erreicht wird.

Die Revision muß zurückgewiesen werden, da das Urteil des LSG nicht zu beanstanden ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 90

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