Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 27.09.1993) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. September 1993 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten um die Frage, unter welcher Voraussetzung Pflegezulage nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) gewährt werden muß, wenn die Hilfebedürftigkeit infolge der Schädigungsleiden erst durch ein Nichtschädigungsleiden sich zur Hilflosigkeit entwickelt hat.
Der Kläger hat im Krieg den rechten Oberschenkel verloren und leidet dadurch auch an chronisch verbildenden Veränderungen im linken Kniegelenk. Wegen dieser Leiden und Verschleißerscheinungen des linken Hüft- und Kniegelenkes wird ihm seit 1984 eine schädigungsbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 % zuerkannt. 1989 beantragte er, ihm Pflegezulage zu gewähren. Er wies darauf hin, daß er wegen Darmkrebs operiert worden sei und einen künstlichen Darmausgang habe. Er bedürfe jetzt ständig fremder Hilfe bei fast allen Verrichtungen des täglichen Lebens.
Die Versorgungsverwaltung lehnte den Antrag nach Einholung eines Sachverständigengutachtens und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme ab (Bescheid vom 28. Dezember 1989). Der Kläger bedürfe nur bei wenigen Handreichungen fremder Hilfe. Im Klageverfahren hat der Kläger darauf hingewiesen, daß das Versorgungsamt inzwischen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich Hilflosigkeit (Merkzeichen „H”) anerkannt habe (Bescheid vom 25. Oktober 1991). Außerdem sei er durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung für schwerpflegebedürftig erklärt worden (Gutachten vom 8. Mai 1991). Auch die vor dem Sozialgericht (SG) gehörten ärztlichen Sachverständigen sind zu dem Ergebnis gekommen, daß der Gesamtzustand des Klägers keine dauernde fremde Hilfe in erheblichem Umfang erfordere. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil des SG Koblenz vom 18. Oktober 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat nach weiteren ärztlichen Äußerungen dieses Urteil bestätigt (Urteil vom 27. September 1993). Das LSG führt unter Schilderung der Ergebnisse der meisten Gutachten aus, daß der Kläger zwar in beachtlichem Umfang der Hilfe bedürfe, aber nicht hilflos iS des § 35 BVG sei. Der Meinung der Gutachter, auf der die Zuerkennung von „H” durch das Versorgungsamt und die Feststellung der Schwerpflegebedürftigkeit durch die Krankenkasse beruhe, könne nicht gefolgt werden. Im übrigen führt das LSG aus, es könne offenbleiben, ob der Kläger hilflos sei, denn jedenfalls wären die Schädigungsfolgen keine annähernd gleichwertige Ursache für den Zustand der Hilflosigkeit.
Der Kläger hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt und beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, Pflegezulage ab dem Folgemonat der Implantation eines Anus-praeter zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit der Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Die Haupt-und die Hilfsbegründung des LSG sind nicht geeignet, den Anspruch des Klägers auf Pflegegeld nach § 35 BVG abzulehnen.
Entgegen der Hauptbegründung des LSG bewirken die schädigungsbedingten und die schädigungsunabhängigen Behinderungen des Klägers zusammen einen Pflegebedarf, der als Hilflosigkeit im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG bewertet werden muß, so daß jedenfalls ein Tatbestandsmerkmal für den Anspruch auf Pflegegeld erfüllt ist. Das folgt aus der Feststellung des Versorgungsamts, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme derjenigen Nachteilsausgleiche erfüllt sind, die bei Hilflosigkeit in Anspruch genommen werden können. Das Versorgungsamt hat damit, wie das nach § 3 Abs 1 Nr 2 Ausweisverordnung-Schwerbehindertengesetz vorgeschrieben ist, festgestellt, daß der Kläger „hilflos im Sinne des § 33b des Einkommensteuergesetzes (EStG) oder entsprechender Vorschriften ist”. § 35 BVG ist eine § 33b EStG entsprechende Vorschrift, denn beide Vorschriften stellen für die Hilflosigkeit die gleichen Voraussetzungen auf (§ 35 Abs 1 Satz 1 BVG, § 33b Abs 3 EStG). Daran hat sich durch das Pflegeversicherungsgesetz vom 26. Mai 1994 (BGBl I, 1014) nichts geändert. Beide Vorschriften sind gleichlautend neu gefaßt worden. Der Kreis der Anspruchsberechtigten sollte damit auch nicht eingeschränkt oder erweitert werden (BT-Drucks 12/5262 S 164, 172).
Es besteht kein Grund anzunehmen, das Versorgungsamt sei befugt, die Hilflosigkeit einer Person unterschiedlich zu beurteilen, je nachdem, ob es über die Hilflosigkeit nach Schwerbehindertengesetz (SchwbG) iVm § 33b EStG oder über das Pflegegeld nach § 35 BVG entscheidet. Die Entscheidungen des Versorgungsamts über die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme eines Nachteilsausgleichs sind Statusentscheidungen. Diese sind bei der Prüfung inhaltsgleicher Tatbestandsvoraussetzungen für in anderen Gesetzen geregelte Nachteilsausgleiche für die hierfür jeweils zuständigen anderen Verwaltungsbehörden bindend (vgl BVerwGE 90, 65; BSG SozR 3100 § 35 Nr 16). Diese Statusentscheidungen bewirken in erster Linie aber auch die Selbstbindung der Versorgungsämter (vgl BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 4).
Auch der Hilfsbegründung des LSG kann nicht gefolgt werden. Das LSG unterstellt hier zutreffend, daß der Kläger hilflos auch im Sinne des § 35 Abs 1 Satz 1 BVG ist. Nicht zutreffend ist aber begründet, die Hilflosigkeit sei nicht infolge der Schädigung eingetreten, was Voraussetzung für den Pflegegeldanspruch ist. Das LSG hat zwar zu Recht ausgeführt, daß die Hilflosigkeit nicht auf die Schädigung zurückzuführen wäre, wenn die Schädigungsfolgen keine annähernd gleichwertige Ursache für den Zustand der Hilflosigkeit wären. Dieser allgemeine Rechtssatz reicht aber nicht aus, die sich hier stellende Kausalitätsfrage zu beantworten. Wenn, wie hier, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse aus Rechtsgründen davon ausgegangen werden muß, der Beschädigte sei hilflos, ist vor der Kausalitätsprüfung zunächst zu entscheiden, für welchen Zustand die Schädigung kausal sein muß. In Betracht kommt der tatsächliche Zustand, der als Zustand der Hilflosigkeit bewertet werden muß und der Zustand, der nach Auffassung der Tatsacheninstanz vorliegen müßte, um Hilflosigkeit zu begründen.
Der Schädigung als kausal zugerechnet werden darf auch im Rahmen des § 35 BVG nur der tatsächliche Zustand des Beschädigten. Das hat der Senat bereits entschieden (vgl Urteil vom 26. Februar 1986 – 9a RV 59/83 – in Versorgungsbeamter 1986, 95, SozSich 1986, 291). Der Beschädigte, dem Hilflosigkeit aus Rechtsgründen zugute kommen muß, ist so zu behandeln, als sei der Maßstab für die Hilflosigkeit herabgesetzt. Er ist nicht so zu behandeln, als leide er an schwererwiegenden Behinderungen. Beim Zusammenwirken von Schädigungsfolgen und Nichtschädigungsfolgen ist zu prüfen, wodurch der tatsächliche Zustand der Behinderung, der unterhalb der Grenze der Hilflosigkeit liegen mag, herbeigeführt worden ist. Das LSG hat nicht zu erkennen gegeben, welchen Prüfungsmaßstab es angelegt hat. Es ist möglich, daß es nicht den tatsächlichen Behinderungszustand, sondern einen schwererwiegenden Zustand der Hilflosigkeit im Auge gehabt hat. Es hätte dann an den ursächlichen Beitrag der Schädigungsfolgen zu hohe Anforderungen gestellt.
Das LSG hat deshalb nach Zurückverweisung die Kausalitätsprüfung klarzustellen oder nachzuholen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen