Entscheidungsstichwort (Thema)
Feststellung des gesundheitlichen Merkmals "außergewöhnliche Gehbehinderung"
Leitsatz (amtlich)
1. Als "außergewöhnlich gehbehindert" iS des gesundheitlichen Merkmals "aG" (= außergewöhnliche Gehbehinderung) ist der Ohnhänder nicht allein wegen dieser Behinderung anzusehen.
2. Zur Gestaltung der Schwerbehindertenausweise, zur Gültigkeitsdauer und zum Verwaltungsverfahren in der Übergangszeit.
Orientierungssatz
1. Die Beurteilungsmaßstäbe der allgemeinen Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO (StVOVwV) vom 22. Juli 1976 (BAnz 1976, Nr 142, 3), die ua Parkerleichterungen für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung vorsieht, sind für eine Ausnahmegenehmigung aufgrund eines Schwerbehindertenausweises nicht ausschlaggebend. Die Vergünstigungsmerkmale sind ausschließlich nach Schwerbehindertenrecht festzustellen.
2. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt dann vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maß eingeschränkt ist (so im Ergebnis auch Urteil des LSG München 1978-06-08 L 12 Vs 22/77 = Breith 1979, 725 ff).
Normenkette
SchwbG § 3 Abs 1 S 1; SchwbG § 3 Abs 4; SchwbG § 3 Abs 5 S 1; SchwbG § 3 Abs 5 S 4; StVO § 46; StVOVwV; SchwbG § 3 Abs 5 S 2
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 26.08.1980; Aktenzeichen L 8 Vs 118/79) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 09.10.1979; Aktenzeichen S 1 Vs 341/77) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Feststellung des gesundheitlichen Merkmals "aG" (= außergewöhnliche Gehbehinderung) nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG).
Er bezieht Pflegezulage der Stufe III sowie Versorgungsrente wegen Erwerbsunfähigkeit. An Schädigungsfolgen sind ua anerkannt: Verlust des linken Armes im oberen Drittel, völlige Versteifung des rechten Handgelenks, Aufhebung der Drehfähigkeit des Unterarmes, Teilverlust der Finger 2 bis 5 und völlige Gebrauchsunfähigkeit der rechten Hand durch Verkrüppelung. Der Kläger ist Inhaber des Führerscheins der Klasse III und IV. Ihm ist die Fahrerlaubnis unter gewissen Auflagen erteilt worden.
Der Kläger macht zur Begründung seines Antrages vom Oktober 1976 geltend, er sei einem Ohnhänder gleichgestellt. Der Präsident des niedersächsischen Verwaltungsbezirks Oldenburg habe ihm 1969 eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 der Straßenverkehrsordnung (StVO) erteilt, die gewisse Parkerleichterungen zugestehe. Die Versorgungsverwaltung entsprach diesem Antrag nicht, da Ohnhänder nicht zu dem Personenkreis gehörten, die eine solche Vergünstigung beanspruchen könnten (Bescheid vom 14. November 1977).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen (Urteil vom 9. Oktober 1979). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen und ausgeführt: Der Kläger sei nach der Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO (Vwv-StVO) und den "Anhaltspunkten für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem SchwbG" nicht außergewöhnlich gehbehindert. Hierfür sei Voraussetzung, daß sich der Schwerbehinderte "dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb des Kraftfahrzeugs bewegen könne." Die Gleichstellung mit einem Ohnhänder bewirke schwerste Beeinträchtigungen in der Greiffähigkeit, jedoch nicht in der Gehfähigkeit. Der Kläger könne sich auch nicht auf die unter dem Vorbehalt des jederzeitigen Widerrufs erteilte Ausnahmegenehmigung vom 5. Mai und 2. Juli 1969 berufen, da sie unter anderen rechtlichen Voraussetzungen ergangen sei.
Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 3 Abs 4 SchwbG und des einschlägigen Straßenverkehrsrechts. Eine außergewöhnliche Gehbehinderung - so meint er - erfordere weder eine Fuß- noch eine Beinschädigung. Vielmehr genüge es, daß sich der Leidenszustand in entsprechender Weise auf die Bewegungsfähigkeit auswirke. Dabei sei der Begriff "bewegen" nicht mit der Bedeutung "gehen" gleichzusetzen. Die Bezeichnung "bewegen" erfasse alle Vorgänge, die den Ablauf des normalen Bewegungsverhaltens des Behinderten außerhalb des Kraftfahrzeugs beträfen. Beweisend hierfür sei, daß zu dem berechtigten Personenkreis auch solche Behinderten rechneten, die keine Schädigungen am Gehapparat aufzuweisen hätten, beispielsweise Blinde oder schwer Herz- und Lungenkranke. Der Kläger könne weder Parkscheiben noch Parkuhren bedienen, sei beim Verlassen und Besteigen des Kraftfahrzeugs - zumal bei engen Parkboxen - behindert, könne keinen Regenschirm tragen oder entsprechende Schutzkleidung anlegen und sei auch unfähig, das zum Lebensbedarf erforderliche Einkaufsgut über weitere Strecken zu tragen. Zudem sei beim Kläger als Pflegezulageempfänger der Stufe III außergewöhnliche Pflege erforderlich, deren er ständig bedürfe.
Der Kläger beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung der angefochtenen
Entscheidung zu verurteilen, das gesundheitliche
Merkmal "aG" festzustellen und das entsprechende
Merkzeichen im Schwerbehindertenausweis einzutragen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision hat keinen Erfolg. Die Vorinstanzen haben beim Kläger im Ergebnis zu Recht eine außergewöhnliche Gehbehinderung verneint.
Anspruchsgrundlage für das Begehren des Klägers ist § 3 Abs 1 Satz 1, Abs 4 und Abs 5 Satz 1 des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (SchwbG) vom 24. April 1974 (BGBl I S 981) - Bk. vom 1974-04-29 BGBl I 1005 - idF des Art 2 des 8. Anpassungsgesetzes KOV (AnpG-KOV) vom 14. Juni 1976 (BGBl I S 1481) sowie idF der Bek. vom 1979-10-08 (BGBl I S 1649). Danach stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden neben einer Behinderung und dem Grad einer auf ihr beruhenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme einer Vergünstigung sind. Auf Antrag des Behinderten geben sie nach Abs 5 S 1 aufgrund einer solchen unanfechtbar gewordenen Entscheidung einen entsprechenden Ausweis aus.
Ein solcher Schwerbehindertenausweis mit dem Merkzeichen "aG" ist Grundlage für die Inanspruchnahme der Ausnahmegenehmigung nach § 46 StVO. Nach Abs 1 Nr 4a, 4b und 11 dieser Vorschrift können die Straßenverkehrsbehörden in bestimmten Ausnahmefällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen, so etwa hinsichtlich des Parkens, zulassen. Das LSG hält den Kläger nicht für außergewöhnlich gehbehindert. Es hat dabei seine Entscheidung auf die allgemeine Verwaltungsvorschrift zu § 46 StVO (Vwv-StVO) vom 22. Juli 1976 (Bundesanzeiger 142 S 3) gestützt, die ua Parkerleichterungen für Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung vorsieht. Eine solche Ausnahmegenehmigung will der Kläger offenbar mit Hilfe des begehrten Schwerbehindertenausweises auch für die Zukunft erhalten. Indes sind dafür die Beurteilungsmaßstäbe der Vwv-StVO nicht ausschlaggebend. Allein ein solcher Schwerbehindertenausweis, für dessen Ausstellung ausschließlich die Versorgungsbehörden zuständig sind (vgl auch Ausschußbericht BT-Drucks 7/4960 S 6 zu Art 1a Nr 1b), dient nach § 3 Abs 5 S 2 SchwbG dem Nachweis für die Inanspruchnahme von Vergünstigungen der bezeichneten Art (vgl Änderung des Wortlauts durch Art I Nr 2 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung Schwerbehinderter im öffentlichen Personenverkehr vom 9. Juli 1979 (BGBl I S 1649). Infolgedessen sind solche Vergünstigungsmerkmale ausschließlich nach Schwerbehindertenrecht festzustellen.
Davon ist der Gesetzgeber ausgegangen. Er hat die Bundesregierung in § 3 Abs 5 letzter Satz SchwbG ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Vorschriften über die Gestaltung der Ausweise, ihre Gültigkeitsdauer und das Verwaltungsverfahren zu erlassen. Da eine solche Verordnung noch nicht ergangen ist, gelten bis zu deren Inkrafttreten nach Art III § 5 Abs 3 des Gesetzes vom 24. April 1974 idF des Art 3 des 8. AnpG-KOV weiterhin die Richtlinien für die Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte vom 11. Oktober 1965 (GMBl S 402). Sie sind nach der Vereinbarung mit den Ländern nunmehr in der Fassung der Richtlinien des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung über Ausweise für Schwerbeschädigte und Schwerbehinderte mit dem Stand vom Januar 1977 anzuwenden (Bundesversorgungsblatt 1977, Beilage zu Heft 3/4).
Nach Abschnitt IV Abs 4 dieser Richtlinien sind außergewöhnlich gehbehindert Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorkprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind. Ihr Zustand allein berechtigt zur Eintragung des Merkzeichens "aG". Ein anderer Bewertungsmaßstab der außergewöhnlichen Gehbehinderung als im Straßenverkehrsrecht ist damit nicht verbunden. Dafür spricht zum einen, daß sich der in den Richtlinien genannte Personenkreis vollinhaltlich mit demjenigen deckt, der auch in Abschnitt II Ziff 1 der Vwv-StVO genannt ist. Zum anderen sollen beide entsprechend ihrer Zweckbestimmung die Parkerleichterung ermöglichen. Mithin sind die Anspruchsvoraussetzungen gleich. Dem steht nicht entgegen, daß im Unterschied zu den Richtlinien zum SchwbG die Vwv-StVO eine Definition der außergewöhnlichen Gehbehinderungen dahin enthält, daß es sich um Personen handelt, "die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können". Der unmittelbar anschließende Wortgebrauch "hierzu zählen" sowie der in den Richtlinien und in den Vwv-StVO angeführte identische Personenkreis machen deutlich, daß eine abweichende Regelung nicht gemeint sein kann.
Eine außergewöhnliche Gehbehinderung liegt, wie das LSG zu Recht erkannt hat, dann vor, wenn die Möglichkeit der Fortbewegung in einem hohen Maß eingeschränkt ist (so im Ergebnis auch Urteil des Bayerischen LSG in Breithaupt 1979 S 725 ff). Das läßt sich bereits aus der Wortdeutung schließen. Sie stellt auf die Behinderung beim Gehen ab. Die enumerative Aufzählung der Behindertengruppen in den Richtlinien bestätigt diese Auffassung. Bei ihnen liegen vornehmlich Schädigungen der unteren Extremitäten in einem erheblichen Ausmaß vor, die bewirken, daß Beine und Füße die ihnen zukommende Funktion der Fortbewegung nicht oder nur unter besonderen Erschwernissen erfüllen. Indes ist die erheblich eingeschränkte Gehfähigkeit zumindest nicht ausschließlich mit jeder unmittelbaren Gehbehinderung verknüpft. Wenn die Richtlinien auch bei sonstigen Erkrankungen eine Gleichstellung mit dem genannten Personenkreis zulassen, kommt es dabei nicht entscheidend auf die vergleichbare allgemeine Schwere des Leidens an, sondern allein darauf, daß die Auswirkungen funktionell gleichzuachten sind. Der Leidenszustand muß also ebenfalls die Möglichkeit der Fortbewegung auf das schwerste behindern. Die "Anhaltspunkte für die ärztliche Begutachtung Behinderter nach dem SchwbG" (Ausgabe 1977) geben hierfür brauchbare Hinweise. Darin wird eine Gleichbehandlung für gerechtfertigt gehalten etwa bei Herzschäden der Stufe IV (mit Leistungsbeeinträchtigung bereits in Ruhe und bei langdauernden Dekompensationserscheinungen) oder bei Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkungen der Lungenfunktion schweren Grades (Atemnot bereits bei leichter Belastung oder Ruhe; statische und dynamische Meßwerte der Lungenfunktion um mehr als 2/3 niedriger als die Sollwerte). Eine so zu verstehende Behinderung des Klägers haben nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG weder der Versorgungsarzt noch der vom Sozialgericht gehörte Sachverständige bestätigt.
Dem Kläger ist zuzugeben, daß ein Ohnhänder - einem solchen ist er gleichgestellt - in der Bewegungsfähigkeit eingeschränkt ist. Ohne Zweifel unterstützen die Arme normalerweise die Gehbewegungen, wie sich auch der Körper insgesamt beim Gehen in Bewegung befindet. Jedoch kann nicht jede Bewegungsbehinderung des Körpers eine außergewöhnliche Gehbehinderung im genannten Sinn bewirken, sondern nur eine solche, die unmittelbar die Fortbewegung in schwerster Weise beeinträchtigt. Demzufolge hat die Rechtsprechung in einem ähnlichen Falle eine unzureichende Gehfähigkeit, die Anspruchsvoraussetzung für eine orthopädische Versorgung war (Lieferung eines Krankenfahrstuhls), nicht allein schon bei Blindheit oder anderen Störungen außerhalb der Beine, sondern erst in Verbindung mit einer Oberschenkelamputation angenommen (BSG SozR Nr 1 zu § 4 DVO zu § 13 BVG vom 1964-10-30; 3610 § 4 Nr 1; Urteil vom 1981-03-09 - 9 RV 47/80 - bezüglich Greiffähigkeit). Aus diesem Grund genügt die gewiß schwere Behinderung eines Ohnhänders oder eines ihm Gleichzuerachtenden nicht für die Annahme einer außergewöhnlichen schweren Gehbehinderung.
Wenn die Revision auf mannigfaltige Behinderungen verweist, die durch die Gleichstellung mit einem Ohnhänder verursacht sind, so etwa beim Bedienen von Parkuhren, Verlassen und Besteigen des Kraftfahrzeuges, beim Einkaufen oder bei Regenwetter, dann handelt es sich nicht um solche, die für die Gehbehinderung der genannten Art typisch sind. Vielmehr erfordern die genannten Erschwernisse entweder ständige Begleitung, was nach den Richtlinien bei Blinden, Ohnhändern und Querschnittsgelähmten ohnehin anzunehmen ist, oder es liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vor, was zur unentgeltlichen Beförderung im Personenverkehr berechtigt. Die letztgenannte Voraussetzung ist nach den Richtlinien gegeben, wenn jemand infolge einer Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß bewältigt werden (so auch § 58 Abs 1 Satz 1 SchwbG). Für diese genannten gesundheitlichen Merkmale sind die Merkzeichen "B" bzw "BN" und "G", nicht aber "aG" vorgesehen.
Eine Besitzstandwahrung bleibt außer Betracht. Die vom Präsidenten des niedersächsischen Verwaltungsbezirks Oldenburg bewilligte Ausnahmegenehmigung ist nach § 46 StVO, somit also nach einer anderen gesetzlichen Vorschrift, erteilt worden. Die Anerkennung einer außergewöhnlichen Gehbehinderung nach dem SchwbG war damit nicht verbunden. Im übrigen können die nach § 3 Abs 4 SchwbG ausgestellten Bescheinigungen nur bis zum Ablauf ihres derzeitigen Geltungszeitraumes als Nachweis dienen (Art III § 5 bs 3 idF des Art 3 des 8. AnpG-KOV).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen