Leitsatz (amtlich)
Für die Punktbewertung nach BVG§31Abs5DV § 2 ist eine Schädigungsfolge, die für sich allein keine MdE von mindestens 25 vH bedingt (hier: Verlust des Geruchssinnes), nicht wegen einer ungünstigen Beeinflussung durch Blindheit höher zu bewerten, wenn das Zusammentreffen beider Gesundheitsstörungen nach BVG§31Abs5DV § 3 Abs 1 Nr 6 berücksichtigt wird.
Normenkette
BVG § 31 Abs 5; BVG§31Abs5DV § 2 Fassung: 1970-04-20, § 3 Abs 1 Nr 6 Fassung: 1970-04-20
Verfahrensgang
Tatbestand
Der Kläger bezieht Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) entsprechend einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH und Pflegezulage der Stufe IV; als Schädigungsfolgen sind der Verlust beider Augen und des Geruchsvermögens sowie rechtsseitige Taubheit anerkannt (Bescheide vom 22. Februar 1951, 4. März 1952, 28. September 1960). Die Schwerstbeschädigtenzulage wird wegen der Höhe der Pflegezulage nach Stufe II bemessen (Bescheid vom 6. Juni 1961). Den Antrag auf eine höhere Schwerstbeschädigtenzulage vom April 1974 lehnte das Versorgungsamt ab, da sich der Zustand der Schädigungsfolgen nicht verändert habe und da auch die Gesamtpunktzahl nicht mehr als 175 betrage, berechnet mit 100 vH für Sehen, mit 30 vH für den Kopf, während je 15 vH für Gehör und Geruch unberücksichtigt blieben, zuzüglich je 30 Punkte wegen des Zusammentreffens der Blindheit mit einer weiteren Schädigungsfolge und mit dem Ausfall des Geruchssinnes (Bescheid vom 3. Oktober 1975, Widerspruchsbescheid vom 6. November 1975). Das Sozialgericht (SG) verurteilte den Beklagten, die Schwerstbeschädigtenzulage nach Stufe III zu gewähren (Urteil vom 2. Februar 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 11. Mai 1978 = Breithaupt 1979, 63): Entgegen der Auffassung des SG könne der Verlust des Riechvermögens nicht mit 30 vH zusätzlich zu anderen Ausfällen bei der Punktbewertung nach § 2 Abs 1 der Verordnung zur Durchführung des § 31 Abs 5 BVG (DV) beachtet werden. Nach dieser Vorschrift sei jeweils ein Punktwert entsprechend der durch die einzelne Schädigungsfolge für sich bedingten MdE so anzusetzen, und zwar so, als ob keine weiteren Auswirkungen beständen. Die derart errechnete Punktzahl sei wegen des Zusammentreffens verschiedener Gesundheitsstörungen allein nach § 3 DV zu erhöhen.
Der Kläger rügt mit seiner - vom LSG zugelassenen - Revision eine Verletzung des § 2 Abs 1 Satz 1 DV. Das Zusammentreffen von Blindheit und Verlust des Geruchssinnes müsse bereits bei der Punktberechnung nach dieser Vorschrift angesetzt werden, wie es das SG zutreffend getan habe. Diese Kombination von Schädigungsfolgen wirke sich funktionell besonders schwer aus. Zusätzlich sei die Gesamtpunktzahl nach § 3 Abs 1 Nr 6 DV aufzustocken.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des
Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Rechtsauffassung des LSG für zutreffend. Wenn man mit dem Kläger dem SG folgte, würde das Zusammenwirken von Blindheit und Geruchsverlust doppelt berücksichtigt.
Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung hat auf eine Anfrage erklärt, er stimme aufgrund der Rechtsentwicklung, die sich auf medizinische Kenntnisse stütze, dem angefochtenen Berufungsurteil zu.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht erfolgreich. Das LSG hat mit Recht die Klage abgewiesen.
Dem Kläger steht, wie der Beklagte zutreffend entschieden hat, nach wie vor eine Schwerstbeschädigtenzulage gemäß § 31 Abs 5 BVG nach keiner höheren Stufe als II zu; diese erhält er allein wegen des Anspruchs auf Pflegezulage nach Stufe IV (§ 5 Abs 2 Satz 2 DV zu § 31 Abs 5 BVG vom 17. April 1961 - BGBl I 453 - DV 1961 -; § 5 Abs 2 DV idF vom 20. April 1970 - BGBl I 410 - DV 1970). Die beiden alternativen Voraussetzungen (§ 1 Abs 1 DV; BSG SozR Nr 1 zu § 1 DVO zu § 31 Abs 5 BVG vom 17. April 1961) für die umstrittene Schwerstbeschädigtenzulage nach der Stufe III sind nicht gegeben: Die anerkannten Schädigungsfolgen sind nicht mit mindestens 190 Punkten zu bewerten, außerdem bezieht der Kläger nicht die Pflegezulage nach Stufe V (§ 5 Abs 1 Satz 3 und Abs 2 Satz 3 DV 1961, § 5 Abs 1 und 2 DV 1970). Eine Neufeststellung nach § 62 Abs 1 BVG wegen einer Änderung der hier maßgebenden Rechtsgrundlagen oder im tatsächlichen Zustand der Schädigungsfolgen scheidet aus. Der Beklagte hat auch im Ergebnis zu Recht einen Zugunstenbescheid nach § 40 Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung abgelehnt, der eine - hier nicht zu erkennende - Unrichtigkeit der früheren Bewertung voraussetzte (BSGE 45, 1, 5 ff = SozR 3900 § 40 Nr 9).
Der Kläger könnte bei der gegebenen Sachlage sein Prozeßziel nur dann erreichen, wenn der Verlust des Gerichtssinnes höher als in derjenigen Punktberechnung zu bewerten wäre, die der Beklagte hilfsweise vorgenommen hat und bei der er auf 175 Punkte gekommen ist. Für diese Schädigungsfolgen müßte der Ausfall des Riechvermögens für sich allein eine MdE um 30 vH darstellen und dementsprechend mit 15 Punkten anzusetzen sein. Das ist nicht der Fall.
Die genannten Bestimmungen schreiben in erster Linie grundsätzlich eine gesonderte Bewertung jeder einzelnen Schädigungsfolge vor. Davon ist auch das SG ausgegangen. Gesundheitsstörungen, die eine MdE um weniger als 25 vH bedingen, bleiben bei der Berechnung außer Betracht (§ 2 Abs 3 Satz 2 DV 1961, § 2 Abs 4 Satz 2 DV 1970). Das LSG hat aus Rechtsgründen nicht wenigstens 25 vH, was einem Hundertsatz von 30 vH entspricht (§ 31 Abs 2 BVG), gesondert für den Verlust des Geruchssinnes angesetzt. Das ist zutreffend. Nach den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen", deren Bewertungsmaßstäbe auf die Mindestvomhundertsätze für äußere Körperschäden abgestellt sind, ist seit der Neuausgabe von 1973 (S 188) diese Schädigungsfolge mit einem MdE-Grad von 15 vH zu bewerten; vorher wurde überhaupt keine MdE angenommen. Die Rechtsprechung zur Kriegsopferversorgung (Urteil des erkennenden Senats vom 6. Mai 1969 - 9 RV 600/68 - = Sozialgerichtsbarkeit 1969, 428) und auch für die gesetzliche Unfallversicherung (BSG SozR Nr 9 zu § 581 RVO; BSG vom 22. Januar 1976 - 2 RU 261/74 -; ist zu keinem günstigeren Ergebnis gelangt. Die MdE kann bei einem solchen Körperschaden ferner nicht wegen "seelischer Begleiterscheinungen", die auch zu berücksichtigen sind (§ 30 Abs 1 Satz 1 Halbs 2 BVG; BSGE 8, 209 = SozR Nr 2 zu § 30 BVG; BSGE 9, 291), allgemein höher bemessen werden (BSG, Sozialgerichtsbarkeit 1969, 428 mit ablehnender Anmerkung von Gurgel; anderer Ansicht auch Zerndt, Versorgungsbeamter 1970, 4), wenn auch der Geruchssinn für Blinde generell eine größere Bedeutung hat als für sehfähige Personen (W und J Klages, Deutsche Medizinische Wochenschrift 1967, 871, 873f). In dem genannten Vomhundertsatz ist bereits die seelische Belastung einbegriffen. Diese Festlegung hält sich an den gebotenen rechtlichen Rahmen; derartige MdE-Beträge sind auf allgemeiner Übung beruhende Satzungen, wobei nicht jeder einzelne Bestimmungsfaktor einen tatsächlichen Erwerbsausfall voraussetzen muß (BSGE 40, 120, 123 f = SozR 3100 § 30 Nr 8; BSG SozR 3100 § 30 Nr 13, S 64 f). Wegen besonderer Umstände kann im Einzelfall der nach den "Anhaltspunkten" vorgesehene Satz überschritten werden. Doch besteht im Fall des Klägers, wenn der Verlust des Riechvermögens mit Blindheit zusammentrifft, kein Anlaß, die MdE deshalb mit wenigstens 25 vH zu bewerten. Dazu nötigt auch nicht die vom Arbeits- und Sozialminister für Nordrhein-Westfalen getroffene Regelung, die dies vorsieht (vgl Rohr/Sträßer, BVG und Verfahrensrecht, Stand: September 1979, § 31, Erläuterung zu § 2 DV; Vorberg/van Nuis/Woltering, Das Recht der Kriegsgeschädigten und Kriegshinterbliebenen IV. Teil, Stand: 1978, S 149 f). Eine derart territorial begrenzte Verwaltungsanweisung ist nicht allgemein für die Auslegung und Anwendung der bundesrechtlichen Vorschrift des § 2 DV verbindlich (BSGE 40, 123).
Entgegen der Auffassung des SG ist aus Rechtsgründen die durch den Geruchsverlust bedingte MdE nicht wegen des Zusammentreffens mit Blindheit mit mindestens 25 vH zu bewerten. Die Vorschrift des § 2 DV, die allgemein mit dem Gesetz vereinbar ist (BSG SozR 3650 § 3 Nr 1), schreibt gerade ausdrücklich vor, von einer isolierten MdE-Ermittlung für jede einzelne Schädigungsfolge auszugehen. (Abs 1 Satz 1 iVm Abs 3 Satz 1 DV 1961, Abs 4 Satz 1 DV 1970)
Diese Aufgliederung ist zwar künstlich (BSG SozR 3100 § 35 Nr 6, S 23). Sie ist aber erforderlich für die daran anknüpfende - im Grunde ebenfalls "künstliche" - Punktbewertung (§ 2 Abs 4 DV 1961, § 2 Abs 5 DV 1970). Nur bei bestimmten Auswirkungen an je anderen Organsystemen werden verschiedene Schädigungsfolgen zu einer einzigen zusammengefaßt oder in besonderer Weise funktional zugeordnet, was im Fall des Klägers ohne Bedeutung ist. Aber auch diese Sonderbestimmung geht von einer vielfältigen funktionellen Aufspaltung der einzelnen Einbußen aus, wie der erkennende Senat bei einem Vergleich mit § 35 Abs 1 BVG gerade zur DV zu § 31 Abs 5 BVG betont hat (BSG SozR 3100 § 35 Nr 6 S 22). Jene Grundsatzregelung des § 2 DV genügt dem Prinzip, daß die Schwerstbeschädigtenzulage möglichst genau individuellen Funktionsausfällen gerecht werden soll, soweit sich diese im Sinn des § 31 Abs 5 BVG gesundheitlich außergewöhnlich auswirken (BSG SozR Nr 4 zu § 3 DVO zu § 31 Abs 5 BVG vom 17. April 1961).
Das Addieren der isoliert für jede einzelne Gesundheitsstörung anzusetzenden MdE-Beträge wirkt sich für den Schwerbeschädigten günstiger aus als die Bewertung einer Gesamt-MdE nach § 30 Abs 1 BVG, die die gegenseitige Beeinflussung der einzelnen Schäden berücksichtigt (Anhaltspunkte, S 23; für das Schwerbehindertenrecht: BSGE 48, 82, 84 ff = SozR 3870 § 3 Nr 4). Dies ist aber nach oben durch 100 vH begrenzt (§ 31 Abs 1 und 2 BVG) und würde den besonderen Gegebenheiten bei Schwerstbehinderten im Sinne des § 31 Abs 5 BVG nicht gerecht.
Nach dem Grundsatz, daß die Schwerstbeschädigtenzulage möglichst individuell bestimmte Funktionseinbußen ausgleichen soll, werden allein in § 3 DV "qualifizierte" Fälle des Zusammentreffens bestimmter Schädigungsfolgen in besonderer Weise geregelt. Gerade dies bestätigt, daß im übrigen, also in den nicht ausdrücklich in § 3 DV erfaßten Fällen, das funktionelle Zusammenwirken verschiedene Gesundheitsstörungen nicht nach der Grundregel des § 2 DV über die Festlegung der MdE-Sätze, nach denen sich die Punktbewertung richtet, zu berücksichtigen ist.
Falls doch nach § 2 DV bereits für einzelne Schäden ein erhöhter MdE-Betrag mit Rücksicht auf andere Schädigungsfolgen angesetzt würde, würde eine solche funktionelle Kombination, die sich in der Behinderung stärker auswirkt als jede einzelne Schädigungsfolge, unter Umständen doppelt bewertet: nach § 2 DV bei der gewöhnlichen Punktbewertung und zusätzlich nach § 3 DV bei besonderen Zuschlägen. Das verfehlte aber die unterschiedlichen Teilzwecke der beiden verschiedenartigen Berechnungsweisen und überbewertete die außergewöhnliche gesundheitliche Betroffenheit bei einzelnen Gruppen von Erwerbsunfähigen.
In Fällen wie denen des Klägers wird auch das Zusammentreffen des Geruchssinnverlustes mit Blindheit nach § 3 Abs 1 Satz 1 DV 1970 ausreichend berücksichtigt, und zwar nach Nr 6. Zwar ist nach Satz 2 grundsätzliche Voraussetzung für eine solche Erhöhung nach Satz 1 Nrn 3 bis 5, daß die zusammentreffenden Gesundheitsstörungen nach § 2 zu berücksichtigen sind; dies gilt aber gerade ausnahmsweise nicht für Fälle der Nr 6, dh für Erblindung bei gleichzeitigem Ausfall wenigstens eines weiteren Sinnesorganes. Diese Sonderregelung für die Kombination von Blindheit mit dem Ausfall von Sinnesorganen, die keine MdE von wenigstens 25 vH erreichen, zB des Geruchssinns, bestätigt, daß bei der isolierten MdE-Bewertung nach § 2 DV zusätzliche Erblindung nicht zu berücksichtigen ist. Schließlich wird den besonderen Funktionseinbußen beim Kläger durch die Höhe der Schwerstbeschädigtenzulage, die sich nach der ihm zuerkannten Stufe der Pflegezulage (§ 35 Abs 1 Satz 2 und 3 BVG) richtet (§ 5 Abs 2 DV 1970), Genüge getan.
Die vom erkennenden Senat und vom LSG für zutreffend gehaltene Auslegung des § 2 DV wird durch die Rechtsentwicklung bestätigt. Dies hat der BMA in seiner Stellungnahme dargelegt. Wohl war 1960 zum ersten Entwurf einer DV zu § 31 Abs 5 BVG (Bundesrats-BR-Drucksache 391/60) unter den in einer Anlage aufgeführten Berechnungsbeispielen (S 2) für den Verlust des Geruchssinnes eine MdE von 30 vH angesetzt, so daß sich bei gleichzeitigem Verlust beider Augen 100 plus 15 Punkte plus 30 Punkte (nach § 2), insgesamt 145 Punkte ergaben. Jedoch ist diese Bewertung später aufgrund eines Sachverständigengutachtens aufgegeben worden. 1969 ist § 3 Abs 1 DV in Satz 2 gegenüber § 3 Satz 2 DV 1961 gerade mit Rücksicht auf Fälle der vorliegenden Art dahin geändert worden, daß der Punktwert mit dem Ausfall eines weiteren Sinnesorgans ausnahmsweise auch dann zu erhöhen ist, wenn nicht alle zusammentreffenden Schädigungsfolgen nach § 2 einbezogen werden müssen (BR-Drucks 319/69). Damit wird der Sonderlage im Sinne des § 3 DV ausreichend Rechnung getragen, ohne einen doppelten Ansatz zu bewirken.
Mithin ist die Revision des Klägers nicht begründet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen