Entscheidungsstichwort (Thema)

Versorgungsschutz. Freizeitbeschäftigung. wehrdiensteigentümliche Verhältnisse

 

Leitsatz (amtlich)

Soldaten, denen befohlen worden ist, ihre Freizeit im Kasernenbereich zu verbringen, können auch bei einer Freizeitbeschäftigung unter wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen stehen und damit versorgungsgeschützt sein.

 

Orientierungssatz

1. In der Regel wird während der Freizeit kein militärischer Dienst geleistet (vgl BSG vom 15.11.1977 10 RV 97/76 = SozR 3200 § 81 Nr 11 mwN). Das gilt im Normalfall auch dann, wenn sich eine eigenverantwortlich gewählte Freizeitbeschäftigung im Rahmen des dienstlich Erwünschten hält, wie zB die körperliche Ertüchtigung des Soldaten, mit der dieser auch der allgemeinen Verhaltenspflicht der Soldaten gemäß § 17 Abs 4 Soldatengesetz nachkommt. Allerdings können, wenn im Einzelfall zwischen der Art der Freizeitbeschäftigung und dem Wehrdienst eine besondere Verknüpfung besteht, auch Tätigkeitsabschnitte im Urlaub und in der Freizeit als Wehrdienst iS des zweiten Schädigungstatbestandes des § 81 Abs 1 SVG gewertet werden (vgl ua BSG 17.11.1981 9 RV 20/81 = Breith 1982, 610).

2. Wehrdiensteigentümliche Verhältnisse sind die mit den besonderen Gegebenheiten des Dienstes verknüpften Lebensbedingungen, die typische Merkmale des Dienstes aufweisen und sich außerdem deutlich von denjenigen des Zivillebens abheben (vgl BSG vom 17.11.81 9 RV 20/81 = Breith 1982, 610, mwN). Mit diesem Tatbestand erfaßt die Soldatenversorgung alle nicht näher bestimmbaren Einflüsse des Wehrdienstes, die sich ua auch aus der besonderen Rechtsnatur des Wehrdienstverhältnisses mit seiner Beschränkung der persönlichen Freiheit des Soldaten ergeben. Zum Vergleich sind die normalen Umstände und Verhaltensweisen sowie die durchschnittlichen Gefährdungen im Zivilleben maßgebend, aus denen der Soldat durch die Ableistung des Wehrdienstes herausgerissen worden ist (vgl BSG vom 17.5.1977 10 RV 19/76 = BSG SozR 3100 § 1 Nr 15 mwN), es sei denn, der Einzelfall lege der Natur der Sache nach den Vergleich mit gruppenspezifischen Merkmalen nahe (vgl BSG vom 11.6.1974 9 RV 122/73 = BSGE 37, 282, 285 = SozR 3200 § 81 Nr 1).

 

Normenkette

SVG § 81 Abs 1; SG § 17 Abs 4

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.05.1983; Aktenzeichen L 4 V 85/82)

SG Koblenz (Entscheidung vom 27.04.1982; Aktenzeichen S 7 V 11/82)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt Versorgung nach dem Soldatenversorgungsgesetz (SVG).

Während seiner Bundeswehrdienstzeit 1977/78 stand er eines als dienstfrei geltenden Samstags unter dem Kompaniebefehl, den Kasernenbereich nicht zu verlassen, weil er am nächsten Tag ins Manöver ziehen mußte. Er befolgte diesen Befehl und verbrachte den Tag ua damit, daß er im eigens dafür eingerichteten Gymnastikraum der Kaserne Bodenturnen betrieb. Dabei fiel er auf seine linke Schulter und zog sich eine Schultereckgelenkssprengung zu.

Das Versorgungsamt lehnte es ab, Folgen einer Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen, weil der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls keinen Wehrdienst ausgeübt habe (Bescheid vom 20. Juli 1981, Widerspruchsbescheid vom 4. Januar 1982). Klage und Berufung haben keinen Erfolg gehabt (Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 27. April 1982 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 17. Mai 1983). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe die sportlichen Übungen aus eigener Initiative und nicht für Zwecke der Bundeswehr ausgeübt. Derartiges Betreiben von Sport sei im Zivilleben weit verbreitet. Der Unfall sei deshalb weder während der Ausübung des Wehrdienstes erlitten noch durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 81 Abs 1 SVG. Es sei allein den wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen zuzurechnen, daß die am Verlassen der Kaserne gehinderten Soldaten zur Ausfüllung und Überbrückung der Bereitschaftszeit auf die Benutzung der in der Kaserne angebotenen Sporteinrichtungen angewiesen seien. Der Unfall sei deshalb durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden.

Der Kläger beantragt, die angefochtenen Urteile und Bescheide aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, bei ihm einen "Zustand nach traumatischer Schultereckgelenkssprengung links" als Wehrdienstbeschädigung anzuerkennen und vom 1. Februar 1981 ab Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von mindestens 25 vH zu gewähren.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er meint, Sport sei nicht typisch für den Wehrdienst, sondern werde auch im zivilen Leben von großen Teilen der Bevölkerung betrieben.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Aufgrund des hier anzuwendenden SVG idF der Bekanntmachung vom 18. Februar 1977 (BGBl I 337) erhält ein Soldat, der eine Wehrdienstbeschädigung erlitten hat, gem § 80 SVG nach Beendigung des Wehrdienstverhältnisses Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Wehrdienstbeschädigung ist eine gesundheitliche Schädigung, die durch eine Wehrdienstverrichtung (1.), durch einen während der Ausübung des Wehrdienstes erlittenen Unfall (2.) oder durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse (3.) herbeigeführt worden ist (§ 81 Abs 1 SVG).

Das LSG hat zunächst zutreffend dargelegt, daß die geltend gemachte Schultereckgelenkssprengung nicht durch eine Wehrdienstverrichtung herbeigeführt worden ist. Denn es fehlen Anhaltspunkte dafür, daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls mit seinem aktiven Handeln eine dienstliche Aufgabe erfüllte, die ihm durch soldatische Pflicht und militärische Grundsätze, durch allgemeine Dienstvorschriften oder durch besonderen Befehl gestellt worden war (Bundessozialgericht -BSG- SozR 3200 § 81 Nr 7). Seine Übungen im Bodenturnen dienten auch nicht unmittelbar dienstlichen Zwecken (vgl BSG SozR 3200 § 81 Nr 8 und Urteil vom 17. November 1981, VersorgB 1982, 35 = Breithaupt 1982, 610 = USK 813 2O). Vielmehr erlitt der Kläger die gesundheitliche Schädigung bei einer persönlich ausgesuchten sportlichen Übung.

Nach den wenigen Feststellungen des LSG läßt sich nicht entscheiden, ob der Kläger dabei Wehrdienst ausübte. Jedenfalls war der Sport des Klägers nicht eigens aufgrund ministeriellen Erlasses Wehrdienst. Dieses Turnen erfolgte nämlich auch nicht nach den Vorschriften der Verwaltung im Rahmen des Dienstplans und es beruhte weder auf einer dienstlichen Anordnung noch wurde es aus dienstlichen Gründen genehmigt und von einer befugten Aufsichtsperson verantwortlich geleitet (vgl Erlaß BMVtdg vom 8. Juni 1962, VMBl 1962 S 295). Der Kläger war statt dessen schon den ganzen Tag über vom planmäßigen Dienst befreit. Er durfte nur den Kasernenbereich nicht verlassen, weil am nächsten Tag ein Manöver angesetzt war. In der Regel wird während der Freizeit kein militärischer Dienst geleistet (BSG SozR 3200 § 81 Nr 11 mwN). Das gilt im Normalfall auch dann, wenn sich eine eigenverantwortlich gewählte Freizeitbeschäftigung im Rahmen des dienstlich Erwünschten hält, wie zB die körperliche Ertüchtigung des Soldaten, mit der dieser auch der allgemeinen Verhaltenspflicht der Soldaten gemäß § 17 Abs 4 Soldatengesetz (SoldatenG) nachkommt (vgl BSG, Urteil vom 17. November 1981, aaO). Allerdings können, wenn im Einzelfall zwischen der Art der Freizeitbeschäftigung und dem Wehrdienst eine besondere Verknüpfung besteht, auch Tätigkeitsabschnitte im Urlaub und in der Freizeit als Wehrdienst im Sinne des zweiten Schädigungstatbestandes des § 81 Abs 1 SVG gewertet werden (vgl BSGE 7, 75, 76; SozR Nr 80 zu § 1 BVG, Urteil vom 17. November 1981, aaO). Der vom LSG nicht in seinen weiteren Einzelheiten aufgeklärte Kompaniebefehl könnte dafür ebenso Anhaltspunkte bieten wie andere mögliche Befehle, die damit in Zusammenhang stehen. Das kann hier aber dahingestellt bleiben.

Der Gesundheitsschaden des Klägers ist nämlich - entgegen der Meinung des LSG - durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden. Darunter sind die mit den besonderen Gegebenheiten des Dienstes verknüpften Lebensbedingungen zu verstehen, die typische Merkmale des Dienstes aufweisen und sich außerdem deutlich von denjenigen des Zivillebens abheben (vgl BSG, Urteil vom 17. November 1981, aaO, mwN). Mit diesem Tatbestand erfaßt die Soldatenversorgung alle nicht näher bestimmbaren Einflüsse des Wehrdienstes, die sich ua auch aus der besonderen Rechtsnatur des Wehrdienstverhältnisses mit seiner Beschränkung der persönlichen Freiheit des Soldaten ergeben (§§ 6 ff SoldatenG). Zum Vergleich sind die normalen Umstände und Verhaltensweisen sowie die durchschnittlichen Gefährdungen im Zivilleben maßgebend, aus denen der Soldat durch die Ableistung des Wehrdienstes herausgerissen worden ist (BSG SozR 3100 § 1 Nr 15 mwN), es sei denn, der Einzelfall lege der Natur der Sache nach den Vergleich mit gruppenspezifischen Merkmalen nahe (BSGE 37, 282, 285 = SozR 3200 § 81 Nr 1). Letzteres ist hier auszuscheiden.

Unter den Eigentümlichkeiten des Wehrdienstes fällt vor allem die Einschränkung der persönlichen Freiheit ins Gewicht, die sich auch darin zeigt, daß der Soldat durch seinen Dienst für die Dauer seines Wehrdienstverhältnisses aus seinem bürgerlichen Leben herausgenommen und von dem Ort ferngehalten wird, an dem sich der räumliche Schwerpunkt seiner bürgerlichen Lebensinteressen befindet. Allein diese Grundbedingung schafft die weitere Eigentümlichkeit, daß der Dienstpflichtige durch den Wehrdienst in seiner Freizeitgestaltung und Bewegungsfreiheit eingeengt wird. Sein Lebensrhythmus wird durch den Wehrdienst grundlegend geändert. Hier muß er nunmehr zwangsweise nicht nur während der Dienstzeit und der Freizeitpausen dazwischen - das entspräche etwa der Situation im Arbeitsleben - mit einer größeren Zahl fremder, individuell sehr verschiedener Menschen zusammenleben, sondern auch während seiner Freizeit (vgl BSG SozR Nr 80 zu § 1 BVG, Urteil vom 17. November 1981, aaO). Die Besonderheiten des Wehrdienstes, die die Freiheit des Soldaten zur eigenverantwortlichen Freizeitgestaltung einschränken, können ihn auch in der Freizeit zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen.

Zwang herrscht im Kasernenbereich auch dann, wenn die Auswahl unter den Beschäftigungsmöglichkeiten so gering ist, daß ihre Wahrnehmung im Einzelfall dem Anbieter, also der Bundeswehr, und nicht dem handelnden Soldaten zuzurechnen ist. Das ist bei denjenigen Freizeitangeboten in der Kaserne der Fall, die dem Soldaten Gelegenheit geben, sich für die allgemeinen Zwecke der Bundeswehr zu ertüchtigen. Denn diesem Angebot muß sich gerade der Soldat in einem wesentlichen Ausmaß anpassen, der bestrebt ist, seine allgemeinen Verhaltenspflichten zu erfüllen. Wehrdiensteigentümlich sind dann sowohl die psychologischen Zwänge als auch die beschränkten Wahlmöglichkeiten. Diese Zusammenhänge müssen jedenfalls dann berücksichtigt werden, wenn der Soldat aufgrund seines Wehrdienstverhältnisses einen ganzen, weiterhin als dienstfrei geltenden Tag lang durch einen Befehl gezwungen wird, das Kasernengelände nicht zu verlassen. Dadurch ist er einer Situation ausgesetzt, die sich von den normalen Umständen des Zivillebens mit seinen gewöhnlichen Verhaltensweisen deutlich abhebt. Es kommt nicht darauf an, daß man gewöhnlich auch im Zivilleben Sport treiben und dabei verunglücken kann. Entscheidend ist statt dessen, daß das Versagen von Samstagausgang durch Kompaniebefehl, das nach Nr V 2c des Erlasses "Erzieherische Maßnahmen" vom 19. März 1970 (VMBl 1970, 242) auch als erzieherische Maßnahme verhängt werden kann, bei gleichzeitiger völliger Entbindung vom Dienst eine Lebenssituation im Kasernenbereich schafft, die gewöhnlich im zivilen Arbeitsleben nicht anzutreffen ist. Eine derartige Kasernierung an einem dienstfreien Tag läßt dem Soldaten zwar eine große Zahl von Möglichkeiten offen, die zu verbringende Aufenthaltszeit eigenverantwortlich negativ unter Verstoß gegen die auch dem dienstfreien Soldaten obliegenden Pflichten zu gestalten. Aber sie gibt ihm nur eine stark beschränkte Anzahl von Möglichkeiten, sich positiv im von der Bundeswehr erwünschten Sinne zu verhalten. Arbeitsfreie Zeit im Zivilleben als freier Bürger läßt sich damit grundsätzlich nicht vergleichen.

Nimmt ein Soldat wie der Kläger unter solchen Voraussetzungen ein offizielles Freizeitangebot in der Kaserne an, dann sind es regelmäßig die wehrdiensteigentümlichen Verhältnisse, die ihn dazu wesentlich bestimmen. Die psychologische Zwangssituation und der Mangel an Auswahlmöglichkeiten schließen es aus, sein Verhalten als allein eigenverantwortliche Gestaltung privater Freizeit zu werten, die vom Soldatenversorgungsschutz nicht erfaßt wird. Unfallschäden, wie sie der Kläger erlitten hat, sind deshalb durch die dem Wehrdienst eigentümlichen Verhältnisse herbeigeführt worden, also eine Wehrdienstbeschädigung.

Da das LSG - von seiner Rechtsmeinung aus folgerichtig - weder die genaue Bezeichnung der Schädigungsfolgen noch den Grad der dadurch bedingten Minderung der Erwerbsfähigkeit festgestellt hat, muß es diese Feststellungen nachholen.

Das Berufungsurteil war somit aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1655965

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