Entscheidungsstichwort (Thema)
Gewaltopfer. Mitverursachung. Abwehr eines Angriffs. Unbilligkeit der Entschädigung
Orientierungssatz
1. Bei der Auslegung des § 2 Abs 1 OEG ist zu beachten, daß nach § 1 Abs 1 S 1 OEG auch Versorgung wegen Schäden beansprucht werden kann, die durch die rechtmäßige Abwehr eines Angriffs entstehen. Das OEG verlangt also nicht, daß der Angegriffene sich versteckt oder "feige" ist; er kann vielmehr durch eigenes tätiges Verhalten den Angriff abwehren, selbst wenn dadurch Verletzungen entstehen.
2. Eine "Unbilligkeit" der Entschädigung kann nur dann vorliegen, wenn der Verletzte in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen hat, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden (vgl BSG vom 24.4.1980 9 RVg 1/79 = 97 f = SozR 3800 § 2 Nr 2). Wegen der engen Verbindung der ersten Alternative - Mitverursachung - zu den "sonstigen Umständen" - zweite Alternative - müssen diese unter besonderer Berücksichtigung der Einzelfallgestaltung eine Entschädigung mit einem solchen Gewicht als "unbillig" erscheinen lassen, daß dies dem in der ersten Alternative genannten Grund an Bedeutung annähernd gleichkommt (vgl BSG vom 7.11.1979 9 RVg 2/78 = BSGE 49, 104, 107 = SozR 3800 § 2 Nr 1).
Normenkette
OEG § 1 Abs 1 S 1, § 2 Abs 1 Alt 1, § 2 Abs 1 Alt 2
Verfahrensgang
SG Fulda (Entscheidung vom 27.05.1982; Aktenzeichen S 3d Vg 69/81) |
Tatbestand
Die Klägerinnen sind die am 1. Dezember 1931 geborene Witwe und die am 21. Dezember 1962 geborene Tochter des am 7. Januar 1929 geborenen und am 12. November 1979 gestorbenen J.H. (H.). Die Klägerin zu 2) befreundete sich 1978 mit dem Zeugen B. P. (P.), geboren am 25. Februar 1959. Die beiden betrachteten sich seit Fastnacht 1979 als verlobt. Im Mai 1979 löste die Klägerin zu 2) die Verlobung mit P. auf, angeblich weil dieser sie geschlagen habe.
P. versuchte, die Verbindung wiederaufzunehmen, und machte in der Folgezeit wiederholt Versuche, die Klägerin zu 2) zu treffen. Am 12. November 1979 klopfte P. in Abständen dreimal an die Fenster der Wohnung der Familie H. Angeblich wollte er von der Klägerin zu 2) 30,-- DM zurückverlangen, die er ihr früher einmal geliehen hatte. Auf das erste Klopfen erschien zunächst der Bruder E. der Klägerin zu 2) mit einem Beil in der Haustür; beim zweiten Klopfen kam E. zusammen mit seinem Vater, zuletzt trat der Vater allein aus dem Haus, um P. zu vertreiben. H. hatte vor dem Verlassen des Hauses zu seinem Sohn gesagt, er wolle sich bei den Eltern von P. über die Störungen beschweren. Die Klägerin zu 2) hörte, wie ihr Vater sagte: "Wenn du nicht aufhörst zu klopfen, komme ich raus, dann kriegst du ein paar hinter die Ohren, auch wenn du ein Messer hast".
Draußen begegnete H. dem P. und soll ihm Vorwürfe wegen des Klopfens gemacht, ihm Schläge angedroht und schließlich mit beiden Händen an seinen Hals gegriffen und kurz zugedrückt haben. Spuren hiervon konnten am Hals des P. nicht gefunden werden. P. will den Angriff abgewehrt haben, indem er beide Hände wegschlug. Dann versetzte er H. einen Stoß und stach mit einem Messer dreimal auf ihn ein. H. starb kurz darauf an den Stichverletzungen. Er hatte zur Tatzeit einen Blutalkoholgehalt von 1,92 %o, bei P. wurde ein solcher von 1,5 %o festgestellt. Die Jugendkammer des Landgerichts (LG) Fulda verurteilte P. wegen Totschlags nach § 212 des Strafgesetzbuches (StGB) zu einer Jugendstrafe von 4 Jahren und 6 Monaten. Sie nahm an, daß die Messerstiche über die notwendige Verteidigung gegen den Angriff von H. hinausgegangen waren.
Der Antrag der Klägerinnen auf Gewährung von Witwen- und Waisenversorgung nach dem Gesetz über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten (OEG) vom 11. Mai 1976 (BGBl I, 1181) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wurde durch Bescheid vom 25. Februar 1981 abgelehnt, weil ein Mitverschulden des getöteten H. vorliege.
Das Sozialgericht (SG) Fulda hat durch Urteil vom 27. Mai 1982 diesen Bescheid aufgehoben und den Beklagten verurteilt, den Klägerinnen Versorgung im gesetzlichen Umfang zu gewähren. In den Entscheidungsgründen wird ausgeführt: H. sei infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen Angriffs von P. gestorben. Das ergebe sich aus dem Urteil der Jugendkammer des LG Fulda vom 2. Oktober 1980. Die Voraussetzungen, unter denen nach § 2 Abs 1 OEG die Leistungen zu versagen seien, lägen nicht vor. H. habe seinen Tod nicht im Sinne des § 2 Abs 1 OEG verursacht, und es sei auch nicht wegen seines Verhaltens oder des Verhaltens der Klägerinnen unbillig, Entschädigung zu gewähren. Der Meinung des Beklagten, der eine die Entschädigung ausschließende Mitverursachung bereits darin gesehen habe, daß H. abends im Dunkeln das ihn schützende Haus verlassen habe, obwohl er gewußt habe, daß P. ein Messer habe, sei nicht zu folgen. H. habe nicht erkennen können, daß das Verlassen des Hauses für ihn eine tödliche Gefahr bedeutete. Er habe davon ausgehen können, daß allenfalls eine Gefahr für seine Tochter, die Klägerin zu 2), bestehe, nicht aber für ihn. Der Entschädigungsanspruch der Klägerinnen könne auch nicht wegen der Behauptung des P., H. habe ihn zuerst angegriffen, abgelehnt werden. Das SG halte die Behauptung von P. nicht für bewiesen. Schon die Jugendkammer des LG Fulda habe einen zweiten Angriff des H. gegen P. nicht geglaubt und nur den ersten Angriff für nicht widerlegbar gehalten. Im Verfahren nach dem OEG müßten aber Ausschließungsgründe positiv bewiesen sein, während im Strafverfahren der Grundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten" gelte. Die Aussagen von P. vor der Jugendkammer des LG Fulda und im Verfahren nach dem OEG vor dem SG stimmten nicht voll überein. Im Verfahren vor dem SG sei erstmals davon die Rede gewesen, daß P. den H. daran habe hindern wollen, zu seinen - des P. - Eltern zu gehen. Dazu komme auch, daß am Hals von P. keine Würgemale festzustellen gewesen seien. Sonstige Gründe, die eine Entschädigung ausschließen könnten, seien nicht gegeben. Auch in den Personen der Klägerinnen seien keine Umstände erkennbar, die eine Entschädigung im Sinne des § 2 Abs 1 OEG als unbillig erscheinen ließen. Daß die Klägerin zu 2) ihr Verlöbnis mit P. gelöst habe, sei eine höchstpersönliche Entscheidung, die sich der Beurteilung anderer entziehe.
Das SG hat die Revision nach § 161 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen.
Der Beklagte hat unter Beifügung einer Zustimmungserklärung der Klägerinnen Sprungrevision eingelegt und rügt die Verletzung des § 2 Abs 1 OEG. Wenn das SG einen Angriff von H. auf P. nicht für bewiesen halte, so habe es seine eigenen Ausführungen nicht beachtet; am Anfang des Tatbestandes sei nämlich wiedergegeben, daß H. einen Angriff auf P. sogar wörtlich angekündigt habe. H. habe also durch sein vorausgegangenes Verhalten eine wesentliche Mitbedingung für seinen gewaltsamen Tod gesetzt. Außerdem sei die Zubilligung von Entschädigungsleistungen an die Klägerinnen unbillig im Sinne von § 2 Abs 1 OEG. Das eigene Verhalten des Getöteten - mit bloßen Händen auf den mit einem Messer bewaffneten loszugehen - lasse die Gewährung von Leistungen als unbillig erscheinen. Dafür spreche auch, daß sich der Getötete leichtfertig in eine erkennbare Gefahr begeben habe, indem er allein und unbewaffnet das schützende Haus verlassen habe. Die Gefährlichkeit der Handlungsweise des H. ergebe sich auch daraus, daß zunächst eine mit einem Beil bewaffnete Person und dann zwei Personen das Haus verlassen hätten, bevor H. allein aus dem Haus gegangen sei. H. habe also die zuvor mit gutem Grund geübte Sorgfalt außer acht gelassen.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 27. Mai 1982 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerinnen beantragen, die Sprungrevision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Fulda vom 27. Mai 1982 als unbegründet zurückzuweisen.
Sie halten das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Beklagten ist nicht begründet.
Die Klägerin zu 2) hat zwar am 21. Dezember 1980 das 18. Lebensjahr vollendet und ist deshalb nicht mehr waisenrentenberechtigt nach § 45 Abs 1 BVG. Trotzdem ist das Rechtsmittel des Beklagten zulässig, weil jedenfalls in der Zulassung der Sprungrevision zugleich auch die Zulassung der Berufung liegt (BSGE 44, 203 und SozR 1500 § 150 Nr 15).
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Das SG hat zu Recht entschieden, daß den Klägerinnen wegen des Todes ihres Ehemannes und Vaters Versorgung nach § 1 Abs 1 und 5 OEG zusteht. Nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Das SG hat mit Recht angenommen, daß diese Voraussetzungen für den Anspruch der Hinterbliebenen erfüllt sind.
Das SG hat auch richtig erkannt, daß die Versorgung nicht nach § 2 OEG ausgeschlossen ist. Nach § 2 Abs 1 OEG sind Leistungen zu versagen, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Antragstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren.
Daß H. seinen Tod durch den Angriff des P. nicht mitverursacht hat, hat das SG zutreffend dargelegt. Bei der Auslegung des § 2 Abs 1 OEG ist zu beachten, daß nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG auch Versorgung wegen Schäden beansprucht werden kann, die durch die rechtmäßige Abwehr eines Angriffs entstehen. Das OEG verlangt also nicht, daß der Angegriffene sich versteckt oder "feige" ist; er kann vielmehr durch eigenes tätiges Verhalten den Angriff abwehren, selbst wenn dadurch Verletzungen entstehen. Das ist bei den Vorwürfen zu beachten, die der Beklagte gegen die Handlungsweise des Getöteten erhebt. Im übrigen hat das SG für das Bundessozialgericht (BSG) verbindlich festgestellt (§ 163, 161 IV SGG), daß ein tätliches Vorgehen des H. gegen P. nicht erwiesen ist. Soweit H. dem P. Ohrfeigen angedroht und Vorhaltungen gemacht haben sollte, war er dazu berechtigt, weil P. zuvor in ungerechtfertigter Weise den Hausfrieden der Familie H. gestört hatte. Dieses Verhalten des H. war als Ursache neben dem unangemessenen Zustechen des P. mit einem gefährlichen Messer unbedeutend und deshalb nicht wesentlich im Sinne der hier anzuwendenden Kausaltheorie der wesentlichen Bedingung (BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1).
Eine "Unbilligkeit" der Entschädigung kann nur dann vorliegen, wenn der Verletzte in hohem Maße vernunftwidrig gehandelt und es in grob fahrlässiger Weise unterlassen hat, eine höchstwahrscheinlich zu erwartende Gefahr von sich abzuwenden (vgl BSGE 50, 95, 97 f = SozR 3800 § 2 Nr 2). Wegen der engen Verbindung der ersten Alternative - Mitverursachung - zu den "sonstigen Umständen" - zweite Alternative - müssen diese unter besonderer Berücksichtigung der Einzelfallgestaltung eine Entschädigung mit einem solchen Gewicht als "unbillig" erscheinen lassen, daß dies dem in der ersten Alternative genannten Grund an Bedeutung annähernd gleichkommt (vgl BSGE 49, 104, 107 = SozR 3800 § 2 Nr 1). H. hat das Haus verlassen, um gegen Ruhestörungen vorzugehen, die durch das Klopfen an dem Fenster seiner Wohnung entstanden waren. Er hat dabei nicht besonders vernunftwidrig und unvorsichtig gehandelt (vgl BSG aaO; BSG 52, 281, 286 = SozR 3800 § 2 Nr 3), denn immerhin ist er erst beim dritten Klopfen allein aus der Tür getreten, nachdem bei den ersten beiden Klopfgeräuschen niemand ermittelt werden konnte. Er hat damit nur das getan, wozu er berechtigt war, um weitere Belästigungen von seiner Familie abzustellen und die ihm anvertrauten Personen zu schützen.
H. hat sich auch nicht in eine unübersehbare Gefahr begeben. Immerhin brauchte er nicht damit zu rechnen, daß der junge Mann, der früher mit seiner Tochter verlobt war und zu dem er bisher ein gutes Verhältnis hatte, mit einem Messer gegen ihn, den Unbewaffneten, vorgehen würde. Es kommt dabei nicht auf die nähere Art des Messers an. Die Frage, wie hoch die Blutalkoholkonzentration war und welche Auswirkungen sie auf die Handlungen des H. hatte, spielt hierbei keine Rolle; die Verhaltensweise des H. entsprach einer angemessenen Reaktion auf die vorausgegangenen Ereignisse. Daß es dabei zu Handgreiflichkeiten gekommen ist, kann ihm bei der Zudringlichkeit des Täters nicht angelastet werden.
Die Rügen der Revision gegen das Verfahren des SG sind nach § 161 Abs 4 SGG unbeachtlich.
Das SG hat damit zu Recht entschieden, daß den Klägerinnen Versorgung zusteht.
Die Revision des Beklagten ist als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen