Entscheidungsstichwort (Thema)
Überprüfung der örtlichen Zuständigkeit des Sozialgerichts im Berufungsverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Enthält die Satzung einer Berufsgenossenschaft eine Bestimmung über deren Sitz (§ 671 Nr 1 RVO), so ist dieser auch im Rahmen des § 57 Abs 3 SGG maßgebend.
2. Bezirksverwaltungen, welche nach dem Inhalt der Satzung unselbständige und an Weisungen gebundene Verwaltungsstellen sind, haben keinen eigenen Sitz.
3. Der Ort der Verwaltung einer juristischen Person gilt nur dann als deren Sitz, wenn in den maßgebenden Bestimmungen (Gesetz, Satzung, Vertrag) eine entsprechende Regelung fehlt (§ 202 SGG, § 17 Abs 1 S 2 ZPO).
Orientierungssatz
Es ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die örtliche Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts in entsprechender Anwendung der §§ 512a, 549 Abs 2 ZPO im Berufungs- und Revisionsverfahren dann nicht mehr überprüft wird, wenn das SG sie angenommen hat (vgl BSG 1959-07-30 2 RU 174/58 = BSGE 10, 233, 237). Das LSG nimmt jedoch eine Überprüfung im Ergebnis zu Recht vor, weil es bei der Überprüfung der Einhaltung der Klagefrist (§ 87 SGG) ua darauf ankommt, ob die Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Bescheid richtig ist (§ 66 SGG). Dabei wird die örtliche Zuständigkeit des SG nur inzidenter als Zwischenfrage behandelt.
Normenkette
SGG § 57 Abs 3 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 17 Abs 1 S 2 Fassung: 1950-09-12, §§ 512a, 549 Abs 2; SGG § 87 Abs 1 S 1, § 66 Abs 1 S 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Die in Österreich wohnende Klägerin erstrebt im sozialgerichtlichen Verfahren die Wiedergewährung von Verletztenrente. Streitig ist in erster Linie, ob sie gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten vom 24. November 1978 rechtzeitig Klage erhoben hat.
Der Bescheid wurde dem 24 Jahre alten Sohn der Klägerin in deren gemeinsamer Wohnung durch Einschreibe-Rückschein am 5. Dezember 1978 ausgehändigt. In der Rechtsbehelfsbelehrung heißt es ua, eine Klage sei innerhalb von drei Monaten bei dem für den Wohnsitz zuständigen "umstehend bezeichneten" Sozialgericht (SG) in Mainz einzureichen. Die am 28. März 1979 datierte Klageschrift ging am 30. März 1979 bei der Bezirksverwaltung Nürnberg der Beklagten ein.
Das SG hat die Klage durch Urteil vom 30. Januar 1980 abgewiesen, weil sie verspätet erhoben worden sei. Die Zustellung sei ordnungsgemäß erfolgt; Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Die Klage sei im übrigen auch unbegründet. Dieses Urteil hat das Landessozialgericht (LSG) aufgehoben und die Sache an das SG zurückverwiesen (Urteil vom 28. Januar 1981). Für die Klage sei das SG Nürnberg örtlich zuständig. Der in der Satzung der Beklagten bestimmte Sitz - Mainz - sei nicht ohne weiteres auch der für die örtliche Zuständigkeit des SG maßgebende Sitz im Sinne von § 57 Abs 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Hierbei komme es vielmehr auf die tatsächlichen Verhältnisse an. Da die satzungsmäßig bestimmten Bezirksverwaltungen der Beklagten mit selbständiger Entscheidungsbefugnis ausgestattet seien und auch jeweils einen eigenen Geschäftsführer hätten, richte sich die örtliche Zuständigkeit für eine Klage gegen die Beklagte nach dem Ort der Zweigniederlassung. Dies werde durch das von der Beklagten gegenüber den Gerichten geübte Verhalten bestätigt; die Hauptverwaltung vertrete die Beklagte nicht einmal vor dem LSG.
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt. Sie trägt vor, daß ihre Bezirksverwaltungen kraft ausdrücklicher Bestimmung in der Satzung nur Verwaltungsstellen ohne eigene Rechtspersönlichkeit seien. Die Befugnis, förmliche Entscheidungen zu erteilen, liege nicht bei den Bezirksverwaltungen, sondern bei den vom Vorstand gebildeten Rentenausschüssen. Der Widerspruchsausschuß bestehe ohnehin nur bei der Hauptverwaltung. Die Geschäftsführer der Bezirksverwaltungen leiteten ihre Befugnisse nur von denen des satzungsmäßig ausgestatteten Hauptgeschäftsführers ab. Das SG habe daher richtig angenommen, daß die Rechtsbehelfsbelehrung der Beklagten zutreffend und die Klage verspätet erhoben worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben
und die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts
zurückzuweisen,
hilfsweise, die Sache an das Landessozialgericht
zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden.
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Die Beklagte und das SG haben zutreffend angenommen, daß das SG Mainz für die Entscheidung des Rechtsstreits örtlich zuständig ist.
Zwar ist grundsätzlich davon auszugehen, daß die örtliche Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts in entsprechender Anwendung der §§ 512a, 549 Abs 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) im Berufungs- und Revisionsverfahren dann nicht mehr überprüft wird, wenn das SG sie angenommen hat (BSGE 10, 233, 237). Im vorliegenden Rechtsstreit hat das LSG jedoch eine Überprüfung im Ergebnis zu Recht vorgenommen, weil es bei der Überprüfung der Einhaltung der Klagefrist (§ 87 SGG) ua darauf ankommt, ob die Rechtsbehelfsbelehrung in dem angefochtenen Bescheid richtig ist (§ 66 SGG). Dabei ist die örtliche Zuständigkeit des SG nur inzidenter als Zwischenfrage behandelt worden.
Mit dem LSG und den Beteiligten ist davon auszugehen, daß die in dem angefochtenen Bescheid enthaltene Rechtsbehelfsbelehrung unrichtig ist, wenn das SG Mainz für die Entscheidung des Rechtsstreits örtlich nicht zuständig ist (§ 66 Abs 1 SGG). Dann wäre die Klage nicht verspätet erhoben (§ 66 Abs 2 SGG). Infolgedessen hat das LSG zu Recht überprüft, ob die örtliche Zuständigkeit des SG Mainz gemäß § 57 Abs 3 SGG gegeben ist. Nach dieser Vorschrift ist wegen des ausländischen Wohnsitzes der Klägerin das SG örtlich zuständig, in dessen Bezirk die Beklagte ihren Sitz hat. Das LSG hat sich bei seiner Entscheidung von der Erwägung leiten lassen, der "Sitz" einer Berufsgenossenschaft (BG) im Sinne von § 57 Abs 3 SGG sei etwas Tatsächliches. Es komme darauf an, wo die Verwaltung einer mit selbständiger Entscheidungsbefugnis ausgestatteten Stelle geführt werde. Der satzungsmäßig bestimmte Sitz sei nicht allein ausschlaggebend. Dieser Auffassung vermag der Senat sich nicht anzuschließen.
Der Gesetzgeber hat in § 57 SGG zwischen dem Sitz und dem Wohnsitz bzw Aufenthaltsort unterschieden. Juristische Personen haben einen Sitz, natürliche Personen dagegen einen Wohnsitz oder Aufenthaltsort (vgl Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl 1981, § 57 Randnoten 6 - 8). Beim Wohnsitz und Aufenthaltsort handelt es sich um etwas Tatsächliches, nämlich den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bzw den Ort faktischer Anwesenheit. Im Gegensatz dazu wird der Sitz einer juristischen Person in erster Linie durch Gesetz, Satzung oder Vertrag bestimmt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 9. Aufl § 2380; Meyer-Ladewig aaO § 57 Rdn 8; Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 39. Aufl, § 17 Anm 2 Buchst a; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 57 Rdn 7; vgl zB § 671 Nr 1, § 1328 RVO; § 94 Abs 1 Satz 2 SGB IV; § 57 BGB für den eingetragenen Verein, §§ 13, 106 HGB für die OHG, § 23 AktG). Er ist demgemäß nicht in erster Linie etwas Tatsächliches. Vielmehr können der Verwaltungssitz und der Ort des satzungsmäßig bestimmten Sitzes verschieden sein (vgl hierzu Bandasch -Herausgeber-, Gemeinschaftskommentar zum Handelsgesetzbuch, 3. Aufl, § 33 Randnote 2). Es ist anerkannt, daß beim Auseinanderfallen von Verwaltungssitz und Rechtssitz im Verhältnis zu Dritten der Rechtssitz maßgebend ist (vgl für den Vereinssitz Reichert/Dannecker/Kühn, Handbuch des Vereins- und Verbandsrechts, 2. Aufl, Randnote 168). Hiervon gehen auch die vom LSG herangezogenen Vorschriften der ZPO aus. Nach dem gem § 202 SGG entsprechend anwendbaren (s Brackmann aaO) § 17 Abs 1 Satz 2 ZPO gilt der Verwaltungssitz nur dann als Sitz der juristischen Person, "wenn sich nichts anderes ergibt". Damit ist zum Ausdruck gebracht, daß der Ort des Verwaltungshandelns nur sekundär als Sitz "gilt", wenn nämlich durch Gesetz oder Satzung ein Sitz nicht bestimmt ist. Ebenso geht die in dem angefochtenen Urteil zitierte Meinung von Peters-Sautter-Wolff (Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 57 Anm 3d) hiervon aus. Danach ist nur dann der Ort, an dem die Verwaltung geführt wird, maßgebend, wenn der "Sitz nicht durch eine Rechtsnorm festgelegt und auch zulässigerweise nicht sonst bestimmt" ist. Nach alledem ist bei einer juristischen Person der rechtlich bestimmte Sitz maßgebend. Fehlt es an einer solchen Festlegung, kommt es auf den Ort an, an welchem die juristische Person handelt.
Die Beklagte hat ihren satzungsmäßig bestimmten Sitz in Mainz (§ 1 Abs 1 der Satzung). Grundlage dieser Bestimmung ist § 671 Nr 1 RVO, wonach die Satzung eine Bestimmung über den Sitz der BG enthalten muß. Demnach ist auch im Rahmen des § 57 Abs 3 SGG der Sitz der Beklagten in Mainz.
Die Bestimmung des Sitzes der Beklagten in ihrer Satzung ist nicht lückenhaft. Der Gesamtheit der Satzungsregelungen ist nicht zu entnehmen, daß die Festlegung des Sitzes der Beklagten nicht für die Bezirksverwaltungen gelten soll. Es fehlt nicht an einer Regelung bezüglich des Sitzes für die Verwaltungsstellen der Beklagten, so daß auch insoweit nicht auf den sekundär maßgeblichen Sitz des Ortes Abzustellen ist, an welchem die Verwaltung geführt wird. Die Beklagte weist vielmehr mit Recht darauf hin, daß nach § 5 Abs 2 ihrer Satzung die Bezirksverwaltungen Verwaltungsstellen ohne eigene Rechtspersönlichkeit sind (vgl RVA AN 22, 361, 362; Brackmann aaO § 511). Daraus folgt, daß die Satzung keine Lücke enthält, welche die Annahme gestatten könnte, die Bezirksverwaltungen der Beklagten hätten einen für die Gerichtszuständigkeit maßgeblichen eigenen Sitz.
In der Rechtsprechung ist zwar mitunter der sekundäre Sitz als maßgebend angesehen worden (vgl zB BVerwG Verw Rspr Bd 7 Nr 29; Hess LSG SGb 1968 S 383 mit zustimmender Anmerkung von Glücklich; Hamburgisches OVG Verw Rspr Bd 27 Nr 89). In den diesen Streitigkeiten zugrundeliegenden Fällen handelte es sich aber entweder um selbständige, an Weisungen nicht gebundene Stellen (BVerwG aaO) oder es fehlte an einem rechtlich bestimmten Sitz der jeweiligen Stelle. War dies anders, ist der rechtliche Sitz der juristischen Person als maßgeblich angesehen worden (vgl zB BVerwGE 10, 161; LSG NRW, SGb 1956 S 197 f mit Anmerkung von Hastler; vgl ferner Brackmann aaO; Eyermann/Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Aufl, § 52 Rdn 10; Redeker-v. Oertzen, VwGO, 6. Aufl, § 52 Rdn 8).
Für die Beklagte ist jedoch, wie angeführt, ein Sitz bestimmt. Ihre Bezirksverwaltung ist eine unselbständige, an Weisungen gebundene Verwaltungsstelle; die Rentenausschüsse sind Ausschüsse der BG und nicht der Bezirksverwaltung.
Das SG und die Beklagte sind zutreffend davon ausgegangen, daß das SG Mainz für die Entscheidung des Rechtsstreits örtlich zuständig ist. Die der Klägerin erteilte Rechtsbehelfsbelehrung ist insoweit richtig.
Der Senat vermochte nicht zu entscheiden, ob die Klage rechtzeitig erhoben worden ist, weil das LSG - aus seiner Sicht folgerichtig - die hierzu erforderlichen Feststellungen nicht getroffen hat.
Das Berufungsurteil mußte aufgehoben und die Sache nach § 170 Abs 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückverwiesen werden.
Fundstellen
BSGE, 203 |
Breith. 1982, 541 |