Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz nach Unterbrechung des Heimweges. Zeitdauer. Gaststättenaufenthalt. Nähe der Gaststätte zur Wohnung. Unfallversicherungsschutz auf Wegen zu oder von der Arbeitsstätte (Unterbrechung wegen einer privaten Besorgung)

 

Orientierungssatz

1. Ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der versicherten Tätigkeit aus privaten Gründen bis zu zwei Stunden unterbrochen hat, steht auf dem anschließenden restlichen Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO (vgl BSG 1979-12-18 2 RU 53/78 = SozR 2200 § 550 Nr 42). Die Art der privaten Zwecken dienenden Verrichtung ist hierbei ohne Bedeutung; sie hat zu dem Zeitraum, nach dessen Ablauf der Versicherungsschutz wieder aufleben kann, keine Beziehung.

2. Für das Wiederaufleben eines durch einen Gaststättenaufenthalt unterbrochenen Versicherungsschutzes auf dem Weg von dem Ort der Tätigkeit ist es nicht rechtserheblich, ob der Versicherte zB eine in der Mitte des Weges oder eine nahe zu seiner Wohnung gelegene Gaststätte aufsucht.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 02.10.1980; Aktenzeichen L 7 U 899/80)

SG Mannheim (Entscheidung vom 19.03.1980; Aktenzeichen S 4 U 1420/79)

 

Tatbestand

Der Kläger fuhr am 5. April 1973 mit dem Firmenbus gegen 17.00 Uhr von seiner Arbeitsstelle in M nach seinem Wohnort. Dort traf er gegen 18.30 Uhr ein und begab sich in ein Gasthaus. Gegen 20.00 Uhr verließ er die Gaststätte. Der Gastwirt fuhr zunächst einen anderen Gast und dann den Kläger nach Hause. Der Gastwirt setzte den Kläger auf der Straßenseite gegenüber dessen Wohnung ab. Dort kam es um 20.10 Uhr zu einem Verkehrsunfall, bei dem der Kläger schwer verletzt wurde.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 11. Juni 1979 Entschädigungsleistungen ab, da sich der Kläger zumindest in dem Zeitpunkt von der betrieblichen Tätigkeit gelöst habe, als er auf dem Weg von dem Gasthaus zu seiner Wohnung nicht ausgestiegen, sondern zunächst mit zur Wohnung des anderen Gastes gefahren sei.

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 19. März 1980 die Klage abgewiesen. Es hat ua ausgeführt: Der Kläger habe sich zum Zeitpunkt des Unfalles auf einem den Versicherungsschutz unterbrechenden Abweg befunden, da er bei der Rückkehr aus der Gaststätte vor seinem Haus den Pkw des Gastwirts nicht verlassen habe, sondern mit nach S gefahren sei. Nach einer derartigen Unterbrechung lebe der Versicherungsschutz für die restliche Wegstrecke erst dann wieder auf, wenn der Ausgangspunkt des Abweges wieder erreicht werde. Als Ausgangspunkt sei hier der rechte Fahrbahnrand vor dem Haus des Klägers anzusehen, während sich der Unfall im Bereich des gegenüberliegenden Fahrbahnrandes ereignet habe.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen und ua ausgeführt (Urteil vom 2. Oktober 1980): Der Kläger habe sich von der Tätigkeit im Rahmen des Arbeitsverhältnisses und vom Unternehmen gelöst, als er nach etwa eineinhalbstündiger Fahrt mit dem Firmenbus den Wohnort erreicht habe und vor der Gaststätte ausgestiegen sei, von der aus er bei der geringen Ausdehnung des eigentlichen Kernorts M, der jetzt einschließlich sämtlicher Vororte nur 4.900 Einwohner habe, die Wohnung bequem zu Fuß habe erreichen können. Obwohl seit dem Eintreffen des Klägers am Wohnort noch keine zwei Stunden vergangen gewesen seien, habe für die Fahrt von der Gaststätte zur Wohnung der Versicherungsschutz nicht wieder aufleben können.

Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und zur Begründung ausgeführt: Er habe nach der Unterbrechung des Weges von dem Ort seiner Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz gestanden. Er sei auch nicht alkoholbedingt verkehrsuntüchtig gewesen.

Der Kläger beantragt,

die Urteile des Sozialgerichts Mannheim vom

19. März 1980 und des Landessozialgerichts

Baden-Württemberg vom 2. Oktober 1980 sowie

den Bescheid der Beklagten vom 11. Juni 1979

aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm

wegen der Folgen des Unfalles vom 5. April 1973

die Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung,

insbesondere Verletztenrente in gesetzlicher Höhe

zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Aus allen Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) ergebe sich zwar, daß eine zeitliche Unterbrechung für sich allein nicht zur Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit führe. Diese Rechtsprechung beinhalte andererseits aber nicht, daß in jedem Falle des Unterschreitens der zeitlichen Grenze von zwei Stunden ausnahmslos der Versicherungsschutz wieder auflebe. Das Unterschreiten der Zeitgrenze sei nicht das allein maßgebliche Kriterium für das Bestehen eines rechtlichen Zusammenhanges mit dem später fortgesetzten Weg. Eine solche schematische Anwendung der zeitlichen Abgrenzung verbiete sich schon deshalb, weil es sich insoweit lediglich um einen Grundsatz handele. Das LSG habe aus den besonderen Umständen des vorliegenden Falles insgesamt den Schluß gezogen, daß der Kläger sich mit dem Aufsuchen der Gaststätte endgültig seiner Feierabendbeschäftigung zugewandt habe. Ein weiteres Kriterium für die endgültige Lösung von der Betriebstätigkeit liege in der anschließenden Autofahrt bis nach S und zurück. Zudem sei der Kläger völlig betrunken und somit alkoholbedingt verkehrsuntüchtig gewesen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist insofern begründet, als die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Der Kläger stand am Unfalltag auf der Fahrt von dem Ort seiner Tätigkeit gemäß § 550 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz. Der durch die versicherte Tätigkeit begründete Versicherungsschutz war zunächst durch den Gasthausaufenthalt und den danach eingeschobenen Abweg mit dem Auto des Gastwirtes unterbrochen. Diese Unterbrechungen haben jedoch nicht zu einer endgültigen, den Verlust des Versicherungsschutzes für den Heimweg bewirkenden Lösung vom Betrieb geführt, weil sie zusammen (vgl BSG SozR 2200 § 550 Nr 6; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S. 487 d) nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - höchstens - eindreiviertel Stunden gedauert haben. Das LSG hat nicht verkannt, daß nach der Rechtsprechung des Senats (s BSG SozR 2200 § 550 Nr 12 und 42), der sich der 8. Senat des BSG angeschlossen hat (SozR aaO Nr 27), ein Versicherter, der den Weg von dem Ort der versicherten Tätigkeit bis zu zwei Stunden unterbrochen hat, auf dem anschließenden restlichen Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO steht. Mit dieser neueren Rechtsprechung wird im Rahmen einer bestimmten Zeitdauer vermieden, für die Beurteilung des Wiederauflebens des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit zwischen den für die Unterbrechung in Betracht kommenden zahlreichen privaten Gründen differenzieren zu müssen; zugleich wird ein von den Versicherten sicher zu beurteilendes Kriterium maßgebend, so daß sie im Regelfall zeitlich abschätzen können, bis wann sie nach einer lediglich privaten Zwecken dienenden Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit wieder unter Versicherungsschutz stehen. Die Art der privaten Zwecken dienenden Verrichtung ist hierbei ohne Bedeutung;, sie hat zu dem Zeitraum, nach dessen Ablauf der Versicherungsschutz wieder aufleben kann, keine Beziehung. Dies gilt, wie hier, sowohl für einen privaten Gasthausaufenthalt als auch für die - erneute - Unterbrechung des Weges von dem Ort der Tätigkeit, um eine andere Person mit zu deren Wohnung zu bringen. Dem Versicherungsschutz des Klägers auf dem weiteren Heimweg steht nicht, wie das LSG und die Beklagte meinen, entgegen, daß der Kläger eine nicht weit von seiner Wohnung gelegene Gaststätte aufsuchte. Der Senat hat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1979 (SozR aaO Nr 42) den Versicherungsschutz ebenfalls nicht schon deshalb verneint, weil sich der Versicherte nach Beendigung seiner Nachbarschaftshilfe und vor dem Zurücklegen eines - nur - 200 m langen Heimweges noch aus dem privaten Bereich zuzurechnenden Gründen bei dem Nachbar aufgehalten hatte; der Senat hat es auch für diesen Fall aus den oben wiederholten Gründen als entscheidend angesehen, ob der Versicherte nach der beendeten Arbeit den Heimweg um mehr als zwei Stunden verzögert hatte. Der Senat vermag auch nicht zu erkennen, inwiefern es für das Wiederaufleben eines durch einen Gaststättenaufenthalt unterbrochenen Versicherungsschutzes auf dem Weg von dem Ort der Tätigkeit rechtserheblich sein soll, ob der Versicherte zB eine in der Mitte des Weges oder eine nahe zu seiner Wohnung gelegene Gaststätte aufsucht. Die vom LSG vertretene Gegenmeinung würde wiederum dazu führen, im Einzelfall nicht mehr abschätzen zu können, ob - nach der Entfernung beurteilt - der Besuch dieser Gaststätte noch zum Wiederaufleben des Versicherungsschutzes auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit führen könnte, jener aber schon nicht mehr. Auch hierbei ist, wie der Senat in seinem Urteil vom 18. Dezember 1979 (aaO) noch einmal ausgeführt hat, zu berücksichtigen, daß im Grundsatz der Versicherungsschutz nach jeder Unterbrechung auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit gemäß § 550 Abs 1 RVO wieder auflebt, es sei denn, daß aus der Dauer und der Art der Unterbrechung auf eine endgültige Lösung des Zusammenhanges zwischen der versicherten Tätigkeit und dem Weg von dem Ort der Tätigkeit geschlossen werden kann. Diesen Grundsatz berücksichtigt auch die neuere Rechtsprechung des BSG. Andererseits werden dadurch Fälle, in denen bei Unterschreitung der Zeitdauer von zwei Stunden der Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit nicht mehr anzunehmen wäre, ebenso auf nur durch besondere Umstände gekennzeichnete Ausnahmen beschränkt, wie in den Fällen, in denen auch bei Überschreitung der Zeitdauer von zwei Stunden der Versicherungsschutz auf dem weiteren Weg von dem Ort der Tätigkeit anzunehmen wäre. Eine derartige Ausnahme liegt nach der Rechtsprechung des Senats jedoch nicht in der Entfernung einer aufgesuchten Gaststätte von der Wohnung.

Der Kläger hatte mit dem Aussteigen aus dem Auto des Gastwirtes und dem Betreten des Verkehrsraumes vor seiner Wohnung, wie das LSG nicht verkannt hat, die Unterbrechung des Weges von dem Ort seiner Tätigkeit beendet (s ua BSGE 20, 219, 221; BSG SozR Nr 28 zu § 543 RVO aF, Nr 35 zu § 548 RVO; Brackmann aaO S. 486 v ff). Von seiner Rechtsauffassung aus hat das LSG jedoch entgegen dem Vorbringen der Revision nicht geprüft, ob der Unfall des Klägers wesentlich allein auf den Alkoholgenuß zurückzuführen ist und deshalb der Unfall nicht im ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit steht (vgl ua BSGE 12, 242, 245; 43, 293, 295; Brackmann aaO S. 487 q - mit weiteren Nachweisen). Das LSG hat lediglich das Urteil des Amtsgerichts und Zeugenaussagen aus dem Strafverfahren gegen den Pkw-Fahrer wiedergegeben, der den Kläger angefahren hat. Die noch notwendigen tatsächlichen Feststellungen im sozialgerichtlichen Verfahren kann das BSG als Revisionsgericht nicht treffen.

Die Sache war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1661136

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