Orientierungssatz

Unvorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts bei Änderung der senatsinternen Geschäftsverteilung: Das Gericht ist nicht vorschriftsmäßig besetzt, wenn der Anspruch auf den gesetzlichen Richter verletzt wird. Eine derartige Verletzung ist gegeben, wenn die durch die senatsinterne Geschäftsverteilung vorgenommene Konkretisierung des gesetzlichen Richters unbeachtet bleibt. Ist ein Richter wegen Befangenheit abgelehnt worden und wird erst dann die Geschäftsverteilung im Senat wegen Sachzusammenhangs geändert, liegt kein sachgerechter Grund vor, einen an der Mitwirkung an sich vorgesehenen Richter durch einen anderen auszuwechseln. Ein sachgerechter Grund liegt auch nicht darin, daß dadurch die zu treffende Entscheidung über das Ablehnungsgesuch entfällt.

Das Gericht ist nach unsachgerechter Änderung der senatsinternen Geschäftsverteilung auch dann unvorschriftsmäßig besetzt, wenn es in der Besetzung entscheidet, wie sie bei einer erstrebten Ablehnung eines Richters rechtmäßig gewesen wäre.

 

Normenkette

GVG § 21g Abs 2 Halbs 2 Fassung: 1972-05-26; SGG § 202 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 551 Nr 1 Fassung: 1950-09-12; GG Art 101 Abs 1 S 2 Fassung: 1949-05-23; SGG § 60 Fassung: 1953-09-03

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 19.12.1979; Aktenzeichen L 3 U 70/79)

SG Mainz (Entscheidung vom 02.02.1979; Aktenzeichen S 3 U 63/77)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten in der Sache darüber, ob Beitragsforderungen der Klägerin teilweise Masseschulden und teilweise bevorrechtigte Konkursforderungen sind. Ferner ist ua streitig, ob die Klägerin bezüglich des Konkursvorrechts rückständiger Beiträge berechtigt ist, Feststellungsklage zu erheben. Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben beide Fragen bejaht.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Beklagte ua geltend, das LSG Rheinland-Pfalz habe das ihn beschwerende Urteil nicht mit der gesetzlich bestimmten Richterbank beschlossen. Der nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats zuständige Berichterstatter hätte nicht ausgewechselt werden dürfen, solange über das Ablehnungsgesuch gegen ihn noch nicht entschieden war.

Der Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Sache zur erneuten

Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und einen Vorlegungsbeschluß an den

Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe wegen der Rechtswegfragen

zu erlassen,

weiter hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen nach Art 100 GG und dem

Bundesverfassungsgericht wegen der Klärung des verfassungsrechtlichen

Aspekts vorzulegen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung

zurückzuverweisen.

Sie regt an zu überprüfen, ob über das Ablehnungsgesuch stillschweigend entschieden worden ist.

 

Entscheidungsgründe

Der Vortrag des Beklagten enthält die schlüssige Rüge der unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts. Die Rüge ist begründet; sie führt zur Aufhebung des Urteils vom 19. Dezember 1979 und zur Zurückverweisung der Sache.

Der absolute Revisionsgrund der unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts nach § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm § 551 Nr 1 der Zivilprozeßordnung -ZPO- (vgl Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 2. Aufl 1981, § 162 RdNr 10) greift jedenfalls immer dann durch, wenn der Anspruch auf den gesetzlichen Richter, wie er in Art 101 Abs 1 Satz 2 Grundgesetz (GG) verbürgt ist, verletzt worden ist. Eine derartige Verletzung ist auch gegeben, wenn die durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts vorgenommene Konkretisierung des gesetzlichen Richters unbeachtet bleibt. Gleiches gilt für die gemäß § 6 SGG iVm § 21g Abs 1 und 2 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) vorgeschriebene senatsinterne Geschäftsverteilung.

Im vorliegenden Fall hat der nach der Geschäftsverteilung des Senats zuständige Berichterstatter an der angefochtenen Entscheidung nicht mitgewirkt. Dies ist von dem Vorsitzenden des Senats in seiner zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung erlassenen  Anordnung "wegen Sachzusammenhangs" mit einem anderen Rechtsstreit begründet und in der Äußerung vom 25. Mai 1981 dahingehend konkretisiert worden, ein anderer Richter des Senats habe in einer gleichgelagerten Sache seine Bearbeitung bereits abgeschlossen gehabt. "Sachzusammenhang" mit einem anderen Rechtsstreit ist auch nach der senatsinternen Geschäftsverteilung kein Grund dafür, einen an der Mitwirkung an sich vorgesehenen Richter durch einen anderen auszuwechseln. § 21g Abs 2 zweiter Halbsatz GVG läßt nur in den dort ausdrücklich vorgesehenen Fällen (Überlastung, ungenügend Auslastung, Wechsel oder dauernde Verhinderung einzelner Mitglieder des Spruchkörpers) eine Änderung der geltenden Geschäftsverteilung zu. "Sachzusammenhang" mit einem Rechtsstreit, für den ein anderer Berichterstatter ernannt ist, rechtfertigt die hier vorgenommene Umverteilung der Geschäfte somit nicht. Der Bundesgerichtshof (BGH) ist allerdings der Auffassung, daß bei einer Abweichung vom senatsinternen Geschäftsverteilungsplan im Einzelfall, die Revision nur auf eine willkürliche oder sonst mißbräuchliche Nichteinhaltung der von dem Vorsitzenden gemäß § 21g Abs 2 GVG bestimmten Grundsätze gestützt werden kann (BGHSt 29, 162). Der Vorsitzende könne im Einzelfall von ihnen abweichen, wenn hierfür ein sachlicher Grund vorliege. Auf die Voraussetzungen, unter denen der Vorsitzende nach § 21g Abs 2 zweiter Halbsatz GVG die Anordnung ändern kann, sei er bei einer Abweichung "im Einzelfall" nicht beschränkt. Es kämen sowohl alle Umstände in Betracht, die eine Vertretung rechtfertigten, wie Krankheit, Urlaub, Abordnung, vorübergehende Arbeitsüberlastung, als auch andere Umstände, die im laufenden Geschäftsjahr auftreten und bei strikter Einhaltung der "Grundsätze" zu Verzögerungen in der Bearbeitung von Geschäften, teilweisem Leerlauf im Spruchkörper, ungleichgewichtiger Auslastung der Mitglieder des Spruchkörpers und vermeidbarem doppelten Arbeitsaufwand führen würden. Der Vorsitzende sei gehalten, darauf zu achten, daß die Arbeit im Spruchkörper geordnet, stetig und sinnvoll ablaufe (vgl BGHSt 21, 250, 254; 29, 162, 163). Es kann dahinstehen, ob dieser Rechtsauffassung in diesem Umfang zu folgen ist und welchen Sinn und Zweck dann noch die in § 21g Abs 2 Halbsatz 1 GVG vorgesehene allgemeine senatsinterne Geschäftsverteilung und vor allem die Aufzählung der Gründe hätte, aus denen diese Anordnung im Laufe des Jahres nur geändert werden kann. Jedenfalls ist unter Beachtung der hier maßgebenden besonderen Umstände des vorliegenden Falles davon auszugehen, daß kein sachlicher Grund vorgelegen hat, daß der nach der senatsinternen Geschäftsverteilung als Berichterstatter bestimmte Richter an dem Urteil nicht mitgewirkt hat. Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob der Sachzusammenhang bei verschiedenen Sachen überhaupt ein Grund für eine - vom BGH für zulässig erachtete - Abweichung von der senatsinternen Geschäftsverteilung im Einzelfall bilden kann. Im vorliegenden Fall ist zu beachten, daß der Sachzusammenhang der hier in Betracht kommenden Sachen dem Berufungsgericht schon vor, spätestens aber bei der Ladung zur mündlichen Verhandlung bekannt war, ohne daß der Vorsitzende die senatsinterne Geschäftsverteilung geändert hat oder von ihr abgewichen ist. Dies geschah vielmehr erst, nachdem der Berichterstatter wegen Befangenheit abgelehnt worden war. über dieses Gesuch hat der Senat nicht entschieden. Vielmehr hat der Vorsitzende zwei Tage vor der mündlichen Verhandlung die hier gerügte Anordnung getroffen, aufgrund der der betreffende, in der senatsinternen Geschäftsverteilung an sich vorgesehene Richter an der Entscheidung nicht mitgewirkt hat. Unter diesen Umständen vermag auch der vom Senatsvorsitzenden angeführte Umstand die Maßnahme nicht zu rechtfertigen, der Berichterstatter sei mit der Bearbeitung der Sache nicht fertigt gewesen; denn es ist nicht ersichtlich, weshalb der neue Berichterstatter die Sache innerhalb der kurzen Zeit bis zur mündlichen Verhandlung ganz durcharbeiten konnte und der dritte Berufsrichter in der Lage war, sich in der verbleibenden sehr kurzen Zeit noch in die Sache einzuarbeiten, während es dem Mitglied des Senats, das auch nach der Äußerung des Senatsvorsitzenden die Sache wenigstens schon zum Teil bearbeitet hatte, nicht mehr möglich gewesen sein soll, die Sache - mit weniger Arbeitsaufwand- zu Ende vorzubereiten. Unter Berücksichtigung aller Umstände hat demnach kein sachgerechter Grund vorgelegen, daß der nach der senatsinternen Geschäftsverteilung, zum Berichterstatter bestimmte Richter an der Entscheidung nicht mitgewirkt hat. Ein sachgerechter Grund liegt auch nicht darin, daß dadurch die vom Senat zu treffende Entscheidung über das Ablehnungsgesuch entfiel.

Dem absoluten Revisionsgrund der unvorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts steht nicht entgegen, daß das LSG den Rechtsstreit in der Besetzung entschieden hat, wie sie bei einer vom Beklagten erstrebten Ablehnung des nach der senatsinternen Geschäftsverteilung bestimmte Berichterstatters wegen Befangenheit rechtmäßig gewesen wäre. Hätte das LSG dem Ablehnungsantrag nicht stattgegeben, wäre der nach der senatsinternen Geschäftsverteilung bestimmte Berichterstatter einer der gesetzlichen Richter gewesen. Das Ablehnungsgesuch hatte noch keinen unmittelbaren Einfluß auf die (weitere) Zuständigkeit dieses Richters (s aber § 60 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 47 ZPO). Über die Begründetheit des Ablehnungsgesuchs und damit über die Ausschließung des Richters hatte das LSG zu entscheiden (§ 60 Abs 1 Satz 2 SGG). Erst nach Vorliegen einer rechtskräftigen Entscheidung über das Ablehnungsgesuch hätte festgestanden, ob der zuerst ernannte Berichterstatter von der Mitwirkung an der Entscheidung ausgeschlossen war (BGHSt 25, 122, 125 f). Diese Entscheidung war daher im gegebenen Falle in der dafür vorgesehenen Form zunächst herbeizuführen.

Da der Beklagte seinem gesetzlichen Richter entzogen worden ist, war wie geschehen zu entscheiden. Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung - auch über eine ggf beantragte Revisionszulassung - die nach dem Urteil ergangenen Entscheidungen des BSG berücksichtigen können, nach denen von der Verfassungsmäßigkeit der hier im Streit stehenden konkursrechtlichen Vorschriften auszugehen (BSGE 49, 276; 50, 262; davon ausgehen auch BGH MDR 1981, 667 und BSG Urteil vom 5. Juni 1981 - 10 RAr 4/81 - zur Veröffentlichung vorgesehen) und in denen auch über die Unzulässigkeit einer Feststellungsklage einer Berufsgenossenschaft bezüglich rückständiger Beiträge als Masseschulden entschieden ist (BSGE 50, 262).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1647148

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