Leitsatz (amtlich)

Die Ausgabe einer Wertmarke an außergewöhnlich Gehbehinderte nur gegen eine Kostenbeteiligung (§ 57 Abs 1 S 3 SchwbG idF des HBegleitG 1984, nunmehr § 59 SchwbG) ist mit dem GG vereinbar.

 

Orientierungssatz

Umwandlung einer Freifahrt in eine Freifahrt mit Kosteneigenbeteiligung - verfassungskonforme Auslegung der Freifahrtregelung - weiter Gestaltungsspielraum bei Schaffung einer gerechten Sozialordnung - Grenzen bei Willkür - Finalitätsprinzip im SchwbG - Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, des Eigentumsschutzes - Sozialstaatsprinzip.

 

Normenkette

SchwbG § 57 Abs 1 S 5 Nr 1 Fassung: 1983-12-22, § 57 Abs 1 S 5 Nr 2 Fassung: 1983-12-22, § 57 Abs 1 S 5 Nr 3 Fassung: 1983-12-22, § 59 Abs 1 S 5 Fassung: 1986-08-26; GG Art 3 Abs 1; GG Art 14; GG Art 20 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 14.11.1985; Aktenzeichen L 11 Vs-E 40/85)

SG Berlin (Entscheidung vom 21.03.1985; Aktenzeichen S 48 Vs-E 123/85)

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke, die zur unentgeltlichen Teilnahme am Personennahverkehr berechtigt.

Bei der im Jahre 1899 geborenen Klägerin sind mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) - nunmehr: Grad der Behinderung - von 90 vH anerkannt. 1. Zustand nach zweimaliger Operation wegen Hüftgelenks- arthrose links (Implantation eines künstlichen Hüft- gelenks), Hüftgelenksarthrose rechts, Varuskniegelenks- arthrose beiderseits, leichte Streckhemmung linkes Ellenbogengelenk, degenerative Wirbelsäulenveränderungen mit Reizzuständen, Krampfadern; 2. allgemeine Gefäßsklerose, Herzminderleistung, cerebrale und periphere Durchblutungsstörungen, Lungenemphysem, Atemfunktionsstörung; 3. leichte Schalleitungsschwerhörigkeit beiderseits.

Die Versorgungsbehörde hat außerdem die Merkzeichen "B" (= Notwendigkeit einer ständigen Begleitung bei Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel), "aG" (= außergewöhnliche Gehbehinderung) sowie "RF" (= Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und Ermäßigung der Telefonhauptanschlußgebühren) zuerkannt. Das Merkzeichen "H" (= Hilflosigkeit) lehnte sie dagegen ab.

Den im Mai 1984 gestellten Antrag der Klägerin, ihr die Wertmarke kostenlos auszugeben, lehnte die Versorgungsbehörde ab. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat dies ua damit begründet, daß die Klägerin nicht zu dem in § 57 (nunmehr: § 59) des Gesetzes zur Sicherung der Eingliederung Schwerbehinderter in Arbeit, Beruf und Gesellschaft (Schwerbehindertengesetz -SchwbG-) begünstigten Personenkreis gehöre, der von der Kostenbeteiligung ausgenommen sei. Es verstoße nicht gegen Grundrechte, wenn der Gesetzgeber nur bestimmte Personengruppen von dieser Kostenbeteiligung befreie. Weder sei dadurch die Menschenwürde (Art 1 des Grundgesetzes -GG-) oder das Freiheitsrecht des Schwerbehinderten (Art 2 GG) noch der Gleichheitsgrundsatz des Art 3 GG verletzt. Der Gesetzgeber sei nicht gehindert gewesen, den Besitzstand von Kriegsbeschädigten, deren Behinderung Ausdruck eines Sonderopfers sei, zu wahren und diese weiterhin von Kosten bei der Inanspruchnahme des Nahverkehrs zu befreien.

Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 57 Abs 1 SchwbG. Bei verfassungskonformer Auslegung stünde ihr, wie auch Blinden und Hilflosen, die Freifahrt im Nahverkehr ohne Eigenbeteiligung zu. Die Besserstellung dieses genannten Personenkreises in § 57 Abs 1 Satz 5 Ziffer 1 bis 3 SchwbG verstoße gegen den in Art 3 GG normierten Gleichheitsgrundsatz. Die erheblich und außergewöhnlich Gehbehinderten seien ebenso schwer betroffen. § 57 Abs 1 SchwbG verstoße auch gegen das Sozialstaatsgebot des Art 20 GG, das sich im Finalitätsprinzip für das Vergünstigungswesen für Schwerbehinderte (§ 45 SchwbG; nunmehr: § 48 SchwbG) konkretisiere. Danach dürfe das Recht auf unentgeltliche Beförderung nicht willkürlich auf bestimmte Personenkreise begrenzt werden. Bei verfassungskonformer Auslegung sei § 57 Abs 1 SchwbG nicht als abschließende Regelung zu verstehen. Sie umfasse gleichermaßen den Personenkreis der erheblich und außergewöhnlich Gehbehinderten.

Die Klägerin beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts und des Sozialgerichts Berlin sowie den angefochtenen Verwaltungsbescheid aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an sie eine kostenlose Wertmarke zur Freifahrt im öffentlichen Personennahverkehr auszugeben.

Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Der Beklagte hält das angefochtene Urteil für rechtsfehlerfrei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist zulässig; ihr fehlt nicht das Rechtsschutzinteresse.

Das Rechtsschutzinteresse ist in den Rechtsmittelinstanzen gegeben, weil die Klägerin durch die angefochtene Entscheidung beschwert ist (Meyer-Ladewig, Sozialgerichtsgesetz, 3. Aufl, 1987, Anm 5 vor § 143 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Dem Antrag der Klägerin, ihr die Wertmarke kostenlos auszugeben, haben die angefochtenen Entscheidungen nicht entsprochen (BSGE 11, 26, 27; 36, 62, 63 = SozR Nr 5 zu § 562 Reichsversicherungsordnung -RVO-; BSGE 43, 1, 2 f = SozR 1500 § 131 Nr 4). Die Revision ist auch nicht etwa deshalb unzulässig, weil die Klägerin nicht gemäß § 164 Abs 2 Satz 2 SGG die verletzte Rechtsnorm bezeichnet, sondern einräumen muß, daß die Vorentscheidungen dem Wortlaut der einschlägigen Vorschriften des SchwbG entsprechen. Denn die Klägerin rügt sinngemäß die Verletzung des Inhalts des § 57 Abs 1 SchwbG, wie er sich nach verfassungskonformer Auslegung darstelle. Die verfassungskonforme Auslegung des § 57 Abs 1 SchwbG ergebe, daß sie, die Klägerin, als außergewöhnlich Gehbehinderte an der Freifahrtberechtigung ohne Kostenbeteiligung teilnehmen könne. Ob eine solche Auslegung der genannten Vorschrift tatsächlich möglich ist, betrifft nicht die Zulässigkeit des Rechtsmittels, sondern dessen Begründetheit.

Die Revision der Klägerin ist jedoch unbegründet. Das LSG hat zu Recht den geltend gemachten Anspruch abgelehnt.

Gemäß § 57 Abs 1 SchwbG idF des Art 20 des Haushaltsbegleitgesetzes (HBegleitG) 1984 vom 22. Dezember 1983 (BGBl I 1532), geändert durch das Gesetz vom 18. Juli 1985 (BGBl I 1515 - nunmehr § 59 in der ab 1. August 1986 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 - BGBl I 1421, ber. 1550 -) sind seit dem 1. April 1984 nur noch Schwerbehinderte freifahrtberechtigt, wenn sie ua erheblich gehbehindert sind (§ 58 Abs 1 SchwbG) und der Schwerbehindertenausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. Die Wertmarke wird gegen die Entrichtung eines Betrages von 120,-- DM jährlich bzw 60,-- DM halbjährlich ausgegeben. § 57 Abs 1 Satz 5 SchwbG gestattet die Ausgabe einer Wertmarke ohne Kostenbeteiligung an Schwerbehinderte, die entweder blind iS des § 24 Abs 1 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) oder entsprechender Vorschriften oder hilflos iS des § 33b des Einkommensteuergesetzes oder entsprechender Vorschriften sind (Ziffer 1) oder Arbeitslosenhilfe oder für den Lebensunterhalt laufende Leistungen nach dem BSHG, Jugendwohlfahrtsgesetz oder den §§ 27a und 27d des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erhalten (Ziffer 2) oder am 1. Oktober 1979 die Voraussetzungen nach § 2 Abs 1 Nr 1 bis 4 und Abs 3 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von anderen Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965 (BGBl I 978), zuletzt geändert durch Art 41 des Zuständigkeitsanpassungsgesetzes vom 18. März 1975 (BGBl I 705) erfüllten, solange der Grad der MdE infolge der anerkannten Schädigung auf wenigstens 70 vH festgestellt ist oder auf wenigstens 50 vH festgestellt ist und sie infolge der Schädigung erheblich gehbehindert sind (Ziffer 3).

Die Klägerin gehört nach den Feststellungen des Berufungsgerichts, die von der Revision nicht mit Verfahrensrügen angegriffen und somit verbindlich sind (§ 163 SGG), nicht zu dem gesetzlich begünstigten Personenkreis des § 57 Abs 1 Satz 5 Ziffer 1 bis 3 SchwbG. Nur diese Personen sind von der Kostenbeteiligung beim Erwerb der Wertmarke, die zur unentgeltlichen Teilnahme am öffentlichen Personennahverkehr dient, ausgenommen. Die Klägerin ist auch nicht im Wege der verfassungskonformen Auslegung diesem privilegierten Personenkreis zuzurechnen. Für eine solche Auslegung des § 57 Abs 1 Satz 5 SchwbG wäre nur dann Raum, wenn diese Regelung überhaupt auslegungsfähig wäre, dh unklar wäre oder eine Regelungslücke enthielte, die von der Rechtsprechung auszufüllen wäre (BVerfGE 51, 166, 175; 55, 134, 143; 58, 369, 376; 59, 330, 334; Urteil des Senats vom 13. Dezember 1979 - 9 RV 54/78). Die mit der Revision angegriffene Vorschrift ist nach Wortlaut und Sinn eindeutig. Das Gesetzgebungsverfahren bis hin zur einschränkenden gesetzlichen Regelung über die Freifahrtberechtigung durch das HBegleitG 1984 verdeutlicht, daß der Gesetzgeber mit § 57 Abs 1 Satz 5 SchwbG nur einem bestimmten Personenkreis, der eindeutig benannt ist, den kostenlosen Erwerb der Wertmarke zubilligen wollte. Die übrigen Freifahrtberechtigten sollten wegen untragbarer finanzieller Auswirkungen nur gegen eine Kostenbeteiligung in den Genuß der Vergünstigung gelangen. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Regelung eine Entwicklung im Vergünstigungswesen für Schwerbehinderte aufhalten, die in der Vergangenheit zu finanziell untragbaren Auswirkungen für die öffentlichen Haushalte geführt hatte (Begründung zum Regierungsentwurf in BT-Drucks 302/83 S 41; siehe auch Änderungsvorschlag des Bundesrates BT-Drucks 10/3138 S 34 f). Sonach ist § 57 Abs 1 S 5 SchwbG als abschließende gesetzliche Regelung einer Auslegung nicht zugänglich. Einem eindeutigen Gesetz darf nicht ein entgegengesetzter Sinn verliehen, der normative Gehalt der auszulegenden Norm nicht grundlegend neu bestimmt und das gesetzgeberische Ziel nicht in einem wesentlichen Punkt verfehlt werden (BVerfGE 54, 277, 299 mwN).

Gegen diese gesetzliche Regelung bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.

Wie der Senat bereits entschieden hat, hat der Gesetzgeber mit dem HBegleitG 1984 zulässigerweise die Rechtsvermutung des § 58 Abs 1 Satz 2 SchwbG aF beseitigt und diejenigen Schwerbehinderten von der Freifahrt ausgenommen, die bislang mit einer MdE um mindestens 80 vH als erheblich gehbehindert und damit freifahrtberechtigt galten (BSGE 58, 72, 74 = SozR 3870 § 58 Nr 1 und seitdem ständige Rechtspr). Die mit diesem Gesetz außerdem getroffene Regelung über die Umwandlung der früher unentgeltlichen Freifahrt in eine Freifahrt mit Kostenbeteiligung ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

Die Freifahrtberechtigung stellt eine Vergünstigung dar, die nicht auf einer Eigenleistung oder einem Sonderopfer des Behinderten beruht, sondern nach Billigkeitserwägungen aufgrund einer vom Staat übernommenen Fürsorgepflicht erbracht wird. Die dadurch erlangte Rechtsposition unterliegt sonach nicht der Eigentumsgarantie des Art 14 GG (BVerfGE 53, 257, 289 f; 58, 81, 109; 69, 272, 298 = SozR 1100 Art 14 Nr 6). Bei der Entziehung derartiger Vergünstigungen ist der Gesetzgeber weitgehend frei. Der Vertrauensschutz der betroffenen Schwerbehinderten (Art 20 GG) ist nicht bereits dann verletzt, wenn eine bestehende Vergünstigung für die Zukunft beseitigt und der Begünstigte lediglich in seiner Erwartung auf weiterbestehende Billigkeitsleistungen enttäuscht wird (BVerfGE 14, 76, 104). Das mit der Umwandlung von einer kostenlosen Freifahrt in eine Freifahrt mit Kostenbeteiligung verfolgte gesetzgeberische Anliegen, nämlich die öffentlichen Haushalte zu konsolidieren (BT-Drucks aaO) und damit sozialpolitische Fehlentwicklungen zu beseitigen (Fromm, Versorgungsbeamter 1984, 38, 41; für die Rentenversicherung: BVerfG DVBl 1987, 947) rechtfertigt daher grundsätzlich auch die Schlechterstellung der Klägerin. Sie muß als in die Solidargemeinschaft eingebettete Schwerbehinderte auch belastende staatliche Maßnahmen hinnehmen, soweit sie - wie hier - unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgebots ergehen und nicht den unantastbaren Bereich privater Lebensgestaltung beeinträchtigen (BVerfGE 27, 344, 351).

Es ist verfassungsrechtlich auch bedenkenfrei, daß der Gesetzgeber mit der Ausnahmeregelung des § 57 Abs 1 Satz 5 Ziffer 1 bis 3 SchwbG bestimmte Personenkreise von der Kostenbeteiligung ausgenommen hat. Die Umwandlung von einer unentgeltlichen Freifahrt in eine "Freifahrt" mit Kostenbeteiligung berechtigt allerdings den Gesetzgeber nicht, in unbeschränktem Ermessen Personenkreise von der Kostenbeteiligung auszunehmen. Der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet es vielmehr, den begünstigten Personenkreis nach sachgemäßen Erwägungen zu bestimmen (BVerfGE 39, 148, 153). Art 3 Abs 1 GG ist verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten anders als eine andere behandelt wird, obgleich zwischen beiden kein Unterschied nach Art und Gewicht besteht, der dies rechtfertigen könnte (BVerfGE 62, 256, 274). Indessen sind verschiedenartige Regelungen bis hin zur Grenze der Willkür verfassungsrechtlich vertretbar (BVerfGE 60, 239, 346 f; dadurch Bestätigung von BSGE 56, 90, 91 mwN).

Die Begünstigung des in § 57 Abs 1 Satz 5 Ziff 1 bis 3 SchwbG genannten Personenkreises gegenüber anderen Schwerbehinderten ist nicht willkürlich erfolgt. So war die Kostenbefreiung nach Ziffer 2 dieser Vorschrift geboten, weil die in Betracht kommenden Personen mangels finanzieller Mittel ohnehin auf die finanzielle Hilfe der öffentlichen Hand angewiesen sind. Auch die in Ziffer 3 zuerkannte Besitzstandswahrung ist gerechtfertigt, weil sie einen Personenkreis umfaßt, der wegen des dem Staat erbrachten oder durch ihn verlangten Sonderopfers (vgl etwa hierzu Urteil des Senats in SozR 3800 § 1 Nr 5) entschädigt werden muß. Ebensowenig ist die Klägerin im Verhältnis zu den in Ziffer 1 begünstigten Blinden und Hilflosen selbst als außergewöhnlich Gehbehinderte nicht unsachgerecht benachteiligt; jene sind ungleich schwerer betroffen. Blinde gelten grundsätzlich als erwerbsunfähig (vgl ua § 31 Abs 4 BVG). Ihre Behinderung ist mit einer MdE um 100 vH zu bewerten (vgl Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG 1983 S 35 f, 50 ff). Darüber hinaus gelten Blinde grundsätzlich als hilflos (vgl Anhaltspunkte 1983 S 30). Diese als Ausdruck einer besonderen Unterstützungsbedürftigkeit in weiten Bevölkerungsschichten geteilte Wertung (BVerfGE 39, 148, 153) ist auch in anderen Vorschriften anerkannt (vgl ua § 31 Abs 4 BVG; § 35 BVG; § 27e BVG iVm § 29 KFürsV; § 67 BSHG). Ebenso bedarf der Hilflose besonderer Unterstützung, so daß auch ihm ein Sonderstatus zuzubilligen ist. Demgegenüber bestehen diese Besonderheiten für außergewöhnlich Gehbehinderte und auch für erheblich Gehbehinderte nicht. Ob solche Besonderheiten für andere Behindertengruppen, etwa für Taubstumme, bestehen, war deshalb im vorliegenden Fall nicht zu prüfen.

Die Klägerin mag besonders stark betroffen sein, weil sie behinderungsbedingt den Tele-Bus in B., auf den sie nach ihren Angaben angewiesen ist und den sie aber nur mit einem entsprechenden Ausweis zu benutzen in der Lage ist, nur selten in Anspruch nehmen kann und deshalb sich die Kostenbeteiligung verhältnismäßig höher auswirkt. Bei der Prüfung, ob eine Norm gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG verstößt, ist jedoch eine generalisierende Betrachtungsweise geboten (BSGE 31, 136, 137). Besondere Umstände des Einzelfalles haben daher bei der Frage, ob eine Personengruppe gegenüber einer anderen vergleichbaren willkürlich benachteiligt worden ist, außer Betracht zu bleiben.

Die von der Klägerin beanstandete Gesetzesvorschrift verstößt nicht gegen das Sozialstaatsgebot (Art 20 Abs 1 GG). Dieses verfassungsrechtliche Sozialstaatsprinzip enthält keine unmittelbare Handlungsanweisung, die durch die Gerichte ohne gesetzliche Grundlage in einfaches Recht umgesetzt werden könnte (BVerfGE 65, 182, 193). Es gebietet im allgemeinen auch nicht eine bestimmte gesetzliche Regelung (BVerfGE 59, 231, 263). Jedoch leitet sich daraus die Pflicht des Staates ab, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen (BVerfGE 5, 85, 198; 22, 180, 204; 27, 253, 283; 35, 202, 235 f). Bei der Erfüllung dieser Pflicht kommt dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (BVerfGE 18, 257, 273; 29, 221, 235; 59, 231, 263). Dabei ist als Leitlinie das in § 45 SchwbG aF (nunmehr § 48) enthaltene Finalitätsprinzip vorgegeben. Danach sind die Nachteilsausgleiche unabhängig von der Ursache der Behinderung so zu gestalten, daß der Art und Schwere der Behinderung Rechnung getragen wird. Diesem Gebot ist der Gesetzgeber nachgekommen, indem er den außergewöhnlich Gehbehinderten und den erheblich Gehbehinderten die Möglichkeit einer wenn schon nicht kostenlosen so doch immerhin weitgehend verbilligten Inanspruchnahme von Verkehrsmitteln im Nahverkehr gewährte. Daß der Gesetzgeber entgegen der og Leitlinie im Rahmen des § 57 Abs 1 Nr 3 SchwbG aF Kriegs- und Wehrdienstbeschädigte wegen der Ursache ihrer Behinderung noch bevorzugt, entspricht der Besitzstandsregelung des § 45 Abs 2 SchwbG aF.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657516

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