Leitsatz (amtlich)
Der Schwerbehindertenausweis kriegsbeschädigter deutscher Staatsbürger mit Merkzeichen "G" ist auch dann unentgeltlich mit einer Wertmarke zu versehen, wenn am Stichtag (1.10.1979) die entsprechende Versorgung nach dem BVG nur wegen eines Wohnsitzes in der DDR ausgeschlossen war.
Normenkette
SchwbG § 57 Abs 1 Fassung: 1983-12-22, § 59 Abs 1 S 5 Fassung: 1986-08-26; UnBefG § 2 Abs 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.06.1986; Aktenzeichen L 11 Vs 76/86) |
SG Karlsruhe (Entscheidung vom 04.12.1985; Aktenzeichen S 5 Vs 39/85) |
Tatbestand
Der schwerbeschädigte und seit Jahrzehnten gehbehinderte Kläger begehrt die Ausgabe einer kostenfreien Wertmarke für die unentgeltliche Beförderung im Nahverkehr.
Der 1921 geborene Kläger lebte bis 1983 in der DDR und war dort im Besitz eines Schwerstbeschädigtenausweises. Seit seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik bezieht er Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH. Er ist als Schwerbehinderter mit den Merkzeichen "G", "B" und "RF" anerkannt. Das Versorgungsamt Stuttgart lehnte den Antrag auf Ausgabe einer kostenfreien Wertmarke für Schwerkriegsbeschädigte ab (Bescheide vom 2. Mai und 29. November 1984). Die Klage hatte Erfolg; das Sozialgericht (SG) billigte dem Kläger einen Besitzstand nach dem Haushaltsbegleitgesetz vom 22. Dezember 1983 - BGBl I 1532 - (HBegleitG 1984) zu, weil der Kläger auch 1979 bereits Kriegsbeschädigter mit einer MdE um mindestens 70 vH gewesen sei (Urteil vom 4. Dezember 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Für DDR-Bürger habe kein Besitzstand gewahrt werden können. Der Kläger werde zwar gegenüber Umsiedlern aus Ost- und Südosteuropa ungleich behandelt; dies sei für frühere DDR-Bürger hinzunehmen, weil ihre Ansprüche nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ausgeschlossen seien, wohingegen im übrigen solche Ansprüche nur ruhten.
Der Kläger hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er hält die Benachteiligung von Schwerkriegsbeschädigten aus der DDR für rechtswidrig.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 4. Dezember 1985 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil mit dem Beigeladenen für zutreffend.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Das Urteil des SG ist zu bestätigen.
Gemäß § 57 Abs 1 des Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) idF des Art 20 des HBegleitG 1984 (nunmehr § 59 in der ab 1. August 1986 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 26. August 1986 - BGBl I 1421, berichtigt 1550 -) sind seit 1. April 1984 nur noch Schwerbehinderte freifahrtberechtigt, wenn sie erheblich gehbehindert sind und der Schwerbehindertenausweis mit einer gültigen Wertmarke versehen ist. Die Wertmarke wird gegen die Entrichtung eines Betrages von 120,-- DM jährlich ausgegeben. Ohne Kostenbeteiligung wird die Wertmarke nur an Schwerbehinderte ausgegeben, die blind, hilflos oder bedürftig sind, sowie (gemäß § 57 Abs 1 Satz 5 Nr 3 SchwbG = § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 3 SchwbG in der jetzt geltenden Fassung) an solche Schwerkriegsbeschädigte, die am 1. Oktober 1979 die Voraussetzungen nach § 2 Abs 1 Nrn 1 bis 4 und Abs 3 des Gesetzes über die unentgeltliche Beförderung von Kriegs- und Wehrdienstbeschädigten sowie von andern Behinderten im Nahverkehr vom 27. August 1965 - BGBl I 978 - (UnBefG 1965) erfüllten, solange der Grad der MdE infolge der anerkannten Schädigung auf wenigstens 70 vH festgestellt ist oder auf wenigstens 50 vH festgestellt ist und sie infolge der Schädigung erheblich gehbehindert sind. Der Kläger gehört nach den tatsächlichen und für den Senat bindenden (§ 163 SGG) Feststellungen der Tatsacheninstanzen, die auf dem Schwerstkriegsbeschädigtenausweis der DDR beruhen, zu diesem in Nr 3 umschriebenen Personenkreis; er ist von der Zuzahlungspflicht zur Freifahrtberechtigung freizustellen, obwohl er am 1. Oktober 1979 noch seinen Wohnsitz in der DDR hatte.
Das LSG zählt den Kläger deshalb nicht zu diesen Schwerbeschädigten, weil er an dem genannten Stichtag nicht nur keine Versorgung bezogen habe (§ 2 Abs 1 Nr 1 UnBefG 1965), sondern auch keinen Anspruch auf Versorgung gehabt habe, der hätte ruhen können (§ 2 Abs 3 UnBefG 1965). Daß der Kläger keinen, auch keinen nur ruhenden Anspruch gehabt habe, folge aus § 7 Abs 1 Nr 2 BVG, wonach das BVG auf in der DDR wohnende Personen nicht angewendet wird. Der Kläger habe somit keinen Besitzstand gehabt, der durch § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG geschützt werden könnte.
Dieser Auffassung folgt der Senat nicht. Sie läßt sich zwar mit dem Wortlaut der aufgeführten Vorschriften begründen; sie läßt aber den erkennbaren Sinn der Besitzstandsvorschrift des § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG und der Ausschlußvorschrift des § 7 Abs 1 Nr 2 BVG außer Acht.
§ 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG ist keine Besitzstandsvorschrift im üblichen Sinne, durch die eine bis zum Inkrafttreten des neuen Rechts bestehende Rechtsstellung in das neue weniger günstigere Recht übergeleitet wird. Es wird in dieser Vorschrift vielmehr an eine Rechtslage angeknüpft, die vor mehreren Jahren, nämlich in der Zeit der Geltung des UnBefG 1965 bis zum Inkrafttreten des UnBefG 1979 (Gesetz vom 9. Juli 1979 BGBl I 959), bestanden hat. Damals war die Freifahrtberechtigung grundsätzlich (außer bei Blinden, Hilflosen und Sozialhilfebedürftigen) davon abhängig, daß die Gehbehinderung auf ein schädigendes Geschehen zurückzuführen war, für das sich die Allgemeinheit verantwortlich und deshalb in vollem Umfang entschädigungspflichtig fühlte. Die Freifahrtberechtigung wurde deshalb ohne Kostenbeteiligung den Verfolgten mit Ansprüchen nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) und den nach BVG versorgten Kriegsbeschädigten gegeben. Später - nach Inkrafttreten des UnBefG 1979 - kam es auf die Ursache für die Gehbehinderung nicht mehr an, weil alle Gehbehinderten ohne Rücksicht auf die Ursache dieser Behinderung die Freifahrtberechtigung ohne Kostenbeteiligung erhielten (SchwbG idF vom 8. Oktober 1979 BGBl I 1649). Das HBegleitG 1984 macht die Freifahrtberechtigung nun zwar nicht wieder von der Ursache der Gehbehinderung abhängig, führt jedoch generell eine Kostenbeteiligung ein. Es nimmt zugleich Rücksicht auf diejenigen Gehbehinderten, die schon vor Oktober 1979, also in einer Zeit gehbehindert waren, als sie allein wegen der Ursache ihrer Gehbehinderung (als BVG- oder BEG-Berechtigte) im öffentlichen Nahverkehr ohne Kostenbeteiligung befördert wurden. Ihre Sonderstellung, die sie 1979 eingebüßt hatten, wird wieder aufgegriffen; sie bleiben von der Kostenbeteiligung freigestellt.
Diese Sonderstellung ist, wie das Gesetz ausdrücklich sagt, nicht davon abhängig, daß die Freifahrtberechtigung damals tatsächlich in Anspruch genommen wurde. Sie war nicht einmal davon abhängig, daß Versorgung oder Entschädigung überhaupt gezahlt wurde; es genügte schon ein abgefundener oder ruhender Anspruch auf der Grundlage einer MdE von mindestens 70 vH.
Auch der Kläger hatte die Sonderstellung, an die § 59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG anknüpft. § 7 Abs 1 Nr 2 BVG will keinen deutschen Staatsbürger ausschließen, der in der Zeit der Geltung des UnBefG 1965 nur wegen des Wohnsitzes in der DDR nicht in der Lage war, diese Sonderstellung durch ein Verfahren nach dem BVG feststellen zu lassen. Nicht ausgeschlossen sind diejenigen, bei denen die sachlichen Voraussetzungen - Schwerkriegsbeschädigung mit einer MdE von 70 vH - unzweifelhaft gegeben und in einem Verfahren festgestellt worden sind, das der Übernahme der Versorgungslast diente. Denn § 7 Abs 1 Nr 2 BVG konnte die Versorgung für Deutsche in der DDR nur deshalb ausschließen, weil davon auszugehen war, daß insoweit die DDR die Versorgungslast übernommen hatte.
Von allen kriegsbeschädigten Deutschen im Sinne von Art 116 GG haben nur DDR-Bürger überhaupt keinen Anspruch auf Versorgung nach dem BVG (§ 7 Abs 1 Nrn 1 und 2 iVm §§ 64 ff BVG) mit der Folge, daß ihnen zunächst die zusätzliche Vergünstigung des UnBefG auch bei Inlandsbesuch nicht als Rechtsanspruch kraft Kriegsbeschädigung zugute gekommen war. Diese Folge war durch Gesetzesauslegung nicht zu beseitigen. Sie entsprach dem zur Bewältigung der Kriegsfolgelasten geschaffenen Rechtssystem, weil es der Bundesrepublik nicht möglich war, die Gesamtverantwortung für die Erfüllung aller durch Handlungen des Reiches entstandenen Schäden zu übernehmen. Es war zu berücksichtigen, daß erhebliche Teile des ehemaligen Deutschen Reiches mit großen Bevölkerungsanteilen unter der Staatsgewalt der DDR stehen und dieser Staat insoweit auch Verantwortungen übernommen hat. Der Ausschluß der DDR-Bürger von Sozialleistungen der Bundesrepublik ist daher auch grundsätzlich vom Bundesverfassungsgericht gebilligt worden (vgl BVerfGE 28, 104, 114 und E 71, 66, 76 ff).
Für die kostenlose Beförderung im Nahverkehr, die der Sache nach auf das Verkehrsnetz der Bundesrepublik beschränkt ist, erwuchs dieser Ausschluß der DDR-Bürger erst in praktische Bedeutung, als infolge der faktischen Anerkennung besonderer Art durch den Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 (Gesetz vom 6. Juni 1973 - BGBl II, 421 - vgl hierzu BVerfGE 36, 1) wegen der größeren Freizügigkeit vermehrt kriegsbeschädigte DDR-Bürger in die Bundesrepublik einreisten. Insoweit ordnete das Gesetz ab 1979 für den Bereich des öffentlichen Nahverkehrs ihre Gleichstellung mit den sonstigen Behinderten an.
Diese gesetzliche Entwicklung gibt Aufschluß darüber, wie der Besitzstand in §59 Abs 1 Satz 5 Nr 2 SchwbG zu verstehen ist. Denn bis 1984 war ohne Bedeutung, ob der Inlandsaufenthalt auf Besuchs- oder Übersiedlungswillen beruhte. Vom Augenblick der Wohnsitznahme an stand schon seit 1965 jedem gehbehinderten DDR-Kriegsbeschädigten nach dem UnBefG bzw SchwbG die unentgeltliche Beförderung im öffentlichen Nahverkehr zu. Von 1979 an waren die DDR-Bürger zusätzlich bei Besuchsaufenthalten gleichgestellt. Bei den Besitzstandsregeln von 1984 hat der Gesetzgeber übersehen, daß sich zwischen einem kriegsbeschädigten DDR-Bürger und sonstigen im Ausland wohnhaften Kriegsbeschädigten durch die gesetzestechnische Fassung der Besitzstandsregeln erstmals ein Unterschied dann ergibt, wenn ein Kriegsbeschädigter mit einer MdE um 70 vH oder mit einer MdE um wenigstens 50 vH und einer hierauf beruhenden erheblichen Gehbehinderung seinen Wohnsitz in die Bundesrepublik verlegt. Kommt er aus dem Ausland - als Deutscher (iS von Art 116 GG) oder als Ausländer (§ 7 BVG) -, hatte er zuvor einen - wenn auch unter Umständen ruhenden - Grundanspruch auf Versorgung nach dem BVG und somit den Besitzstand des § 59 Abs 1 Nr 3 SchwbG. Kommt er aus der DDR, hatte er - wegen der besonderen Abgrenzung des persönlichen Geltungsbereichs des BVG - vor seiner Übersiedlung keinen Anspruch nach dem BVG, hatte lediglich als Kriegsbeschädigter die Vergünstigungen bei Besuchen wie alle Schwerbehinderten der DDR und somit nach dem Wortlaut des Gesetzes keinen Besitzstand. Er wird danach sogar schlechter behandelt als Ausländer, obwohl er im engen Sinne deutscher Staatsbürger ist (vgl BVerfGE 77, 137).
Diese Nachteile für übersiedelnde DDR-Bürger sind bei der Neuregelung durch das HBegleitG 1984 nicht bedacht worden. Die Kriegsbeschädigten und die Verfolgten sollten nämlich wegen des von ihnen erbrachten Sonderopfers ebenso wie in der Zeit vor 1979 ohne Rücksicht auf ihre Einkünfte unentgeltlich befördert werden (amtliche Begründung BT-Drucks 10/335 S 89 = BR-Drucks 302/83 S 89). Entscheidend für ihre Begünstigung ist das Sonderopfer in Form eines Gesundheitsschadens, der 34 Jahre nach Kriegsende (1979) jedenfalls zu einer MdE um 70 vH oder zu einer MdE um wenigstens 50 vH mit erheblicher Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr geführt hat. Diese gesundheitlichen Nachteile iVm der Ursache in Form des Versorgungs- oder Entschädigungstatbestandes rechtfertigen es, die vorliegende Lücke in Rechtsanalogie zu schließen. Es handelt sich um eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes (BVerfGE 34, 269, 286 f); ungewollt ist der Gesetzgeber von einem umfassenden Regelungsplan abgewichen (vgl BSG SozR 1300 § 63 Nr 9), der dahin ging, bei den Aufopferungstatbeständen abweichend vom sonstigen Schwerbehindertenrecht die Kostenfreiheit zu erhalten. Für eine Lückenschließung in diesem Sinn kann ergänzend herangezogen werden, daß die besondere Situation der DDR-Besucher gesehen und auch ihnen die vordem bestehenden Vergünstigungen erhalten worden sind. Die vorhandene Gesetzeslücke ist daher aus dem erkennbar gewordenen gesetzgeberischen Willen und entsprechend dem Verfassungsgebot, jeden DDR-Bürger, der in den Schutzbereich der Bundesrepublik Deutschland gerät, ebenso zu behandeln wie jeden bundesrepublikanischen Deutschen (vgl BVerfGE 36, 1, 31), zu schließen. Auch diese deutschen Kriegsopfer sind von der Kostenbeteiligung auszunehmen. Das Gesetz will keine Kriegsopfer minderen Rechts schaffen, also Schwerkriegsbeschädigte, denen es noch nach Wohnsitznahme in der Bundesrepublik zum Nachteil gereichen würde, daß sie zu einem früheren Zeitpunkt in die Versorgungslast der DDR gefallen sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen