Leitsatz (amtlich)

1. Das BSG hat auch als Revisionsgericht von dem im Zeitpunkt seiner Entscheidung geltenden Recht auszugehen; Rechtsänderungen, die vorher wirksam geworden sind, hat es zu berücksichtigen, wenn das streitige Rechtsverhältnis von ihnen erfaßt wird.

2. SVD 3 Nr 1 der ist eine Norm des materiellen Rechts.

3. RVO § 1293 Abs 2 gilt in dem Gebiet der ehemaligen britischen Zone auf Grund von SVD 3 Nr 1 auch heute noch.

4. Der Bescheid eines Trägers der Rentenversicherung, durch den eine Rente entzogen wird, bedeutet rechtlich zugleich, daß der Bescheid, durch den die Rente bewilligt worden ist, von der Wirksamkeit der Entziehung an (RVO § 1296) als rechtswidrig angesehen und deshalb als nunmehr fehlerhaft zurückgenommen wird.

5. Soweit die Rücknahme eines fehlerhaften Verwaltungsaktes wie in RVO § 1293 Abs 2 in das Ermessen des Versicherungsträgers gestellt ist, ist im sozialgerichtlichen Verfahren auch zu prüfen, ob der Versicherungsträger sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat.

 

Normenkette

SGG § 54 Fassung: 1953-09-03, § 77 Fassung: 1953-09-03, § 170 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1293 Abs. 2 Fassung: 1949-03-22; SVD 3 Nr. 1

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 3. Dezember 1954 wird zurückgewiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger wurde am ... 1906 geboren. Im Jahre 1933 legte er die Prüfung als Diplom-Volkswirt ab. Von 1936 bis 1945 war er beim Hauptamt für V in B als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Deutschen Zeitschrift für W angestellt. Vom 28. August 1939 bis 21. Juli 1945 war er im Wehrdienst. Von Dezember 1946 bis Anfang April 1947 war er Hilfsarbeiter in einem Uhrengeschäft. Am 15. Oktober 1947 stellte er in Göttingen den Antrag, ihm wegen Berufsunfähigkeit Ruhegeld aus der Angestelltenversicherung zu gewähren. Durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt Hannover vom 25. August 1948 wurde der Antrag nach Einholung eines Gutachtens des Prof. Dr. med. S abgelehnt. Dagegen legte der Kläger beim Oberversicherungsamt Hannover Berufung ein. In der mündlichen Verhandlung am 7. April 1949 erklärte sich der Vertreter der Landesversicherungsanstalt bereit, dem Kläger vom 1. Juli 1948 an Ruhegeld zu gewähren, nachdem der Gerichtsarzt Dr. R den Kläger untersucht und erklärt hatte, er könne sich dem Gutachten des Professors Dr. S vom 17. Juli 1948 nicht anschließen; er halte vielmehr den Kläger für berufsunfähig. Der Kläger erklärte darauf, er sehe die Berufung als erledigt an. Durch Bescheid der Landesversicherungsanstalt vom 7. Mai 1949 wurde dann das Ruhegeld auf monatlich 92,80 DM festgesetzt. Im Sommer 1951 ließ die Landesversicherungsanstalt den Kläger nachuntersuchen. Med.Rat Professor Dr. S und Professor Dr. med. F kamen in ihren Gutachten vom 5. Mai 1951 und 28. Juli 1951 zu dem Ergebnis, der Kläger sei nicht berufsunfähig; Professor Dr. E führte dazu noch aus, der objektive Befund decke sich weitgehend mit dem Befund in dem Gutachten des Professors Dr. S vom 17. Juli 1948, nur die Fettleibigkeit sei seither noch stärker geworden, eine Besserung sei in dem objektiven Befund nicht festzustellen; welche Gründe dafür maßgebend gewesen seien, daß am 7. April 1949 die Berufsunfähigkeit anerkannt worden sei, obwohl nach Ansicht von Prof. Dr. S keine Berufsunfähigkeit vorgelegen habe, wisse er nicht. Darauf entzog die Landesversicherungsanstalt das Ruhegeld mit Bescheid vom 29. September 1951 nach den §§ 42 AVG, 1293 RVO. Die Berufung des Klägers wies das Oberversicherungsamt Hannover durch Urteil vom 23. Dezember 1952 zurück; zur rechtlichen Begründung wurde dabei außer den §§ 42 AVG, 1293 RVO auch noch Nr. 1 der Sozialversicherungsdirektive Nr. 3 der Britischen Militärregierung vom 14. Oktober 1945 herangezogen und ausgeführt, der Kläger sei erwiesenermaßen nicht berufsunfähig, diese Feststellung genüge nach den angeführten Vorschriften zur Entziehung des Ruhegeldes. Gegen dieses Urteil legte der Kläger Berufung beim Oberverwaltungsgericht Lüneburg ein; die Berufung ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes auf das Landessozialgericht Celle über, als Beklagte trat nach dem Übergang der Aufgaben der Rentenversicherung für Angestellte auf die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte diese an Stelle der Landesversicherungsanstalt Hannover in den Prozeß ein. Mit Urteil vom 3. Dezember 1954 wies das Landessozialgericht Celle die Berufung gegen das Urteil des Oberversicherungsamts Hannover zurück. In der Begründung wurde ausgeführt, der Kläger sei im Zeitpunkt der Entziehung des Ruhegeldes berufsfähig gewesen, die SVD Nr. 3, die die Fortgeltung des § 1293 Abs. 2 RVO angeordnet habe, sei geltendes Recht. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Rechtsfrage wurde die Revision zugelassen.

Gegen das Urteil des Landessozialgerichts legte der Kläger Revision ein und beantragte, die Urteile des Landessozialgerichts Celle und des Oberversicherungsamts Hannover aufzuheben und die Beklagte zur Weiterzahlung des Ruhegeldes zu verurteilen. Er machte geltend, in seinem Beruf als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter sei er nicht mehr berufsfähig; daß er noch in der Lage sei, im Sitzen leichtere schriftliche Arbeiten zu verrichten, schließe nicht aus, daß es ihm unmöglich sei, mit anderen wissenschaftlichen Hilfsarbeitern in Wettbewerb zu treten; die SVD Nr. 3 sei, wie sich aus der Direktive Nr. 51 des Kontrollrats vom 29. April 1947 ergebe, kein Gesetz, sie sei nur eine Anweisung an die Verwaltung, sie habe die Geltung des § 1293 Abs. 2 RVO nicht auf die Nachkriegszeit erstrecken können, die Entziehung des Ruhegeldes sei deshalb nur zulässig, wenn eine wesentliche Änderung in seinen Verhältnissen eingetreten sei; eine solche Änderung sei aber nicht nachgewiesen. Auch wenn man annehme, daß die SVD Nr. 3 die Kraft gehabt habe, die Geltung des § 1293 Abs. 2 RVO zu verlängern, so sei dies doch nur für einen begrenzten Zeitraum möglich gewesen; die verschiedenen Ländergesetze, die eine solche Verlängerung in der Nachkriegszeit verfügt hätten, hätten sich deshalb alle darauf beschränkt, die Fortgeltung des § 1293 Abs. 2 RVO nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verfügen; im allgemeinen sei dabei die Geltung des § 1293 Abs. 2 RVO auf etwa drei Jahre nach dem Zusammenbruch verlängert worden. Im September 1951, als sein Ruhegeld entzogen worden sei, sei eine Entziehung des Ruhegeldes ohne wesentliche Änderung der Verhältnisse jedenfalls nicht mehr möglich gewesen; das Sozialgericht Oldenburg habe in dem Urteil vom 21. Oktober 1954, Az. S 5 - An 141/54, ebenso wie vorher das Oberversicherungsamt Oldenburg in der Entscheidung vom 3. Juli 1951, Breithaupt 1952, S. 886 und das Oberversicherungsamt Detmold in dem Urteil vom 1. Oktober 1953, Die Sozialversicherung 1954, S. 47, entschieden, daß die SVD Nr. 3 kein Gesetz, sondern nur eine Anweisung sei; der gleichen Meinung sei auch Theilen, Zeitschrift für Sozialversicherung, 1951 S. 182 ff.

Die Beklagte beantragte, die Revision als unbegründet zurückzuweisen; sie führte aus, die SVD Nr. 3 sei in der britischen Zone noch in Kraft, das Ruhegeld sei zu Recht entzogen worden, weil der Kläger noch berufsfähig sei.

II.

Die Revision, die das Landessozialgericht zugelassen hat, ist form- und fristgerecht eingelegt; sie ist auch rechtzeitig begründet, sie ist deshalb zulässig.

Die Revision ist aber nicht begründet.

1.) Die Annahme des Landessozialgerichts, der Kläger sei noch berufsfähig, enthält keine Verletzung des § 27 AVG. In dem Urteil des Landessozialgerichts ist eingehend dargelegt, daß der Kläger zwar an Fettleibigkeit, Übererregbarkeit, Durchblutungsstörungen sowie einer geringen Versteifung des linken Fußgelenkes leidet, daß er aber trotzdem geistig und körperlich in der Lage ist, seinen Beruf als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter auf dem Gebiete des Sozialrechts noch wettbewerbsfähig auszuüben. An diese tatsächlichen Feststellungen ist das Bundessozialgericht gebunden, weil in Bezug auf sie zulässige und begründete Revisionsgründe nicht vorgebracht worden sind (§ 163 SGG). Die Feststellungen beruhen auf einer lückenlosen Beweisaufnahme und stimmen mit den erhobenen Gutachten überein; das Landessozialgericht hat weder die Pflicht zur Sachaufklärung verletzt noch die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung überschritten. Die Behauptung des Klägers, das Landessozialgericht habe nicht berücksichtigt, daß ihn eine Arbeit im Sitzen allein noch nicht berufsfähig mache, ist unrichtig; das Landessozialgericht ist nach dem Inhalt seines Urteils vielmehr mit Recht davon ausgegangen, daß bei dem Beruf des Klägers die geistige Tätigkeit im Vordergrund steht und daß die dazu erforderlichen körperlichen Leistungen von ihm noch erbracht werden können.

2.) Es fragt sich nun, ob die Landesversicherungsanstalt, von der die Aufgaben der Beklagten 1951 wahrgenommen wurden, berechtigt war, dem Kläger die Rente wieder zu entziehen, nachdem sie die Überzeugung erlangt hatte, die Rente sei zu Unrecht bewilligt worden, die Bewilligung der Rente sei also ein fehlerhafter Verwaltungsakt gewesen. Dazu ist zunächst festzustellen, daß jeder Bescheid eines Versicherungsträgers, durch den eine Rente entzogen wird, rechtlich zugleich bedeutet, daß der Bescheid, durch den die Rente bewilligt worden ist, von der Wirksamkeit der Entziehung an (§ 1296 RVO) als rechtswidrig angesehen und deshalb als nunmehr fehlerhaft zurückgenommen wird. Die Möglichkeit, fehlerhafte Verwaltungsakte zurückzunehmen, ist aber im Recht der Sozialversicherung nicht in gleichem Ausmaß gegeben wie im allgemeinen Verwaltungsrecht. Für letzteres gilt der Rechtsgrundsatz, daß fehlerhafte Verwaltungsakte von der Verwaltung wieder zurückgenommen werden können und daß dieser Grundsatz nur in Ausnahmefällen Einschränkungen erleidet (vgl. dazu Haueisen, NJW 1954 S. 1425 ff). Für die Verwaltungsakte, die im Streitfall der Beurteilung durch die Sozialgerichte unterliegen, ist die Rechtslage umgekehrt. Aus den §§ 77 SGG und 24 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I S. 202 ff) ergibt sich, daß hier die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte grundsätzlich ausgeschlossen ist. Die Möglichkeit der Rücknahme besteht nur in Ausnahmefällen; zu diesen gehören die Tatbestände, von denen in den §§ 608, 1293 Abs. 1 RVO, 42 AVG die Rede ist, hier handelt es sich durchweg darum, daß Verwaltungsakte infolge einer nachträglichen Änderung von Umständen, deren Fortbestand bei Erlaß des Verwaltungsaktes vorausgesetzt worden ist, rechtswidrig geworden sind. In dem vorliegenden Rechtsstreit liegt dem Vorbringen der Beklagten der Gedanke zugrunde, eine weitere Ausnahme sei dem § 1293 Abs. 2 RVO in Verbindung mit Ziff. 1 der SVD Nr. 3 der Britischen Militärregierung vom 14. Oktober 1945 zu entnehmen. Hiernach sei es nämlich möglich, auch einen Verwaltungsakt, der von Anfang an der Rechtmäßigkeit entbehrt habe, wieder zurückzunehmen. Das Landessozialgericht hat diese Auffassung gebilligt.

3.) Es kommt deshalb darauf an, ob das Landessozialgericht zu Recht angenommen hat, die Entziehung der Rente sei auch ohne den Nachweis einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten rechtlich möglich gewesen, weil nach der SVD Nr. 3 in Verbindung mit § 1293 Abs. 2 und § 42 AVG die Feststellung genügt habe, daß der Kläger berufsfähig sei.

Die SVD Nr. 3 vom 14. Oktober 1945, die zwar nicht in einem Amtsblatt der Militärregierung veröffentlicht ist, die aber im Arbeitsblatt für die britische Zone, 1947 S. 12 abgedruckt ist, bestimmt:

"In Anbetracht der kritischen Finanzlage der obengenannten Versicherungszweige, deren Fortbestand in erheblichem Maße von Zuschüssen abhängt, werden folgende vorläufige Maßnahmen sofort in Kraft gesetzt:

1. Bestimmungen, die vor dem Krieg in Kraft waren, gestatten die Entziehung der Invalidenrenten (Ruhegelder) der Rentenversicherungen der Arbeiter oder der Angestellten, wenn bei einer neuen ärztlichen Untersuchung festgestellt wurde, daß der Rentenberechtigte nicht mehr invalide oder berufsunfähig ist. Diese Bestimmungen werden sofort wieder in Kraft gesetzt.

...."

und § 1293 Abs. 2 RVO in der Fassung des Gesetzes vom 7. Dezember 1933 (RGBl. I S. 1035), in Kraft seit 1. Januar 1934, lautet:

"Bis zum 31. Dezember 1937 ist die Entziehung einer Invaliden- oder Witwenrente auch ohne Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten zulässig, wenn eine erneute Prüfung ergibt, daß er nicht invalide ist; dies gilt nicht für Berechtigte, die am 1. Januar 1934 das sechzigste Lebensjahr vollendet hatten. Der Reichsarbeitsminister kann diese Vorschrift schon früher außer Kraft setzen."

a) Vorweg ist festzustellen, daß die SVD Nr. 3 für das gesamte Gebiet der ehemals britischen Zone erlassen ist, daß sie also Vorschriften enthält, die "über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus gelten" und damit nach § 162 Abs. 2 SGG revisibel sind.

b) Mit Recht geht das Landessozialgericht davon aus, daß die SVD Nr. 3 mit ihrer Ziff. 1 auf die §§ 1293 Abs. 2 RVO und 42 AVG verweist. Zwar ist hier die Rede von Bestimmungen, die vor dem Kriege in Kraft "waren", und § 1293 Abs. 2 ist vor dem Kriege nicht ausdrücklich außer Kraft gesetzt worden; der ausdrücklichen Aufhebung dieser Vorschrift muß es jedoch gleichgesetzt werden, daß sie ihre Bedeutung durch Zeitablauf verloren hatte. Auch der Umstand, daß die Ziff. 1 von der Entziehung von Renten in Fällen spricht, in denen der Berechtigte "nicht mehr" invalide oder berufsunfähig ist, schließt nicht aus, daß von der Ziff. 1 der SVD Nr. 3, deren Formulierung nicht in deutscher Sprache erfolgt ist, nach ihrem eindeutigen Zweck und ihrem sonstigen Wortlaut auch die Fälle erfaßt werden, in denen der Versicherte überhaupt noch nie invalide oder berufsunfähig gewesen ist.

c) Der Kläger behauptet nun, die SVD Nr. 3 sei kein Gesetz, deshalb habe sie auch die Fortgeltung des § 1293 Abs. 2 RVO nicht anordnen können.

Hier ist zunächst zu klären, ob das Bundessozialgericht berechtigt ist, zu dieser Frage Stellung zu nehmen und darüber zu entscheiden. Die Sozialversicherungsdirektiven sind, wie schon in dem Urteil des Bundessozialgerichts vom 14. April 1955, BSG 1, S. 6 ff. festgestellt ist, Anordnungen der Besatzungsmächte, deren Bestehen, Inhalt, Rechtsgültigkeit oder Zweck nach Art. 3 Abs. 2 des Gesetzes der Alliierten Hohen Kommission (AHK) über die Gerichtsbarkeit auf den vorbehaltenen Gebieten vom 25. November 1949 (AHK ABl. S. 54) nicht Gegenstand der Entscheidung deutscher Gerichte sein können. Diese Einschränkung der Rechtsprechungsbefugnis der deutschen Gerichte ist aber mit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge und der Erlangung der vollen Souveränität durch die Bundesrepublik am 5. Mai 1955 weggefallen (vgl. die Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Protokolls vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 5. Mai 1955, BGBl. II S. 628). Das Bundessozialgericht hat auch als Revisionsgericht von dem im Zeitpunkt seiner Entscheidung geltenden Recht auszugehen; Rechtsänderungen, die vorher wirksam geworden sind, hat es zu berücksichtigen, sofern das streitige Rechtsverhältnis - wie dies hier der Fall ist - von ihnen erfaßt wird (vgl. auch BGHZ Bd. 9, 101-103). Es ist deshalb auch nicht gehindert, die Einwendungen des Klägers gegen den Normcharakter der SVD Nr. 3 zu prüfen.

Für die Annahme, die SVD Nr. 3 sei kein Gesetz im materiellen Sinn, beruft sich der Kläger auf Theilen, Zeitschrift für Sozialversicherung 1951 S. 182 und auf die Entscheidungen des Oberversicherungsamts Oldenburg vom 3. Juli 1951, Breithaupt 1952 S. 886, des Sozialgerichts Oldenburg vom 21. Oktober 1954, Az. S 5 - An 141/54, und des Oberversicherungsamts Detmold vom 1. Oktober 1953, Die Sozialversicherung, 1954 S. 47. In diesen Entscheidungen wird ebenso wie von Theilen darauf hingewiesen, daß die Direktive Nr. 51 des Kontrollrats vom 29. April 1947 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 15 S. 279 und 280) u. a. bestimmt, die gesetzgebende Tätigkeit werde von der Besatzungsmacht nur in den Formen der Proklamation, des Gesetzes oder des Befehls (Order) ausgeübt, Direktiven und genehmigte Dokumente seien kein Akt der Gesetzgebung. Die Direktive Nr. 51 bezieht sich jedoch nur auf die gesetzgebende Tätigkeit des Kontrollrats und nicht auf die der einzelnen Besatzungsmächte, sie legt sich auch keine rückwirkende Kraft bei. Für die Frage, ob die SVD Nr. 3, die von der Britischen Militärregierung erlassen worden ist und vom 14. Oktober 194 5 stammt, eine Rechtsnorm im Rang eines Gesetzes ist, kann deshalb die Direktive Nr. 51 des Kontrollrats vom 29. April 194 7 nicht maßgebend sein. Für die Beurteilung dieser Frage ist aber von Bedeutung, daß die Direktive Nr. 10 des Kontrollrats vom 22. September 1945 (Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland Nr. 3 S. 38), die vor Erlaß der Direktive Nr. 51 in Kraft gewesen ist, ausdrücklich erklärt hat, der Kontrollrat übe seine Gesetzgebungsgewalt durch Proklamationen, Gesetze, Befehle, Direktiven und Instruktionen aus. Daraus darf geschlossen werden, daß zu dieser Zeit allgemein angenommen worden ist, daß Gesetze im materiellen Sinn u. a. auch in der Form von Direktiven erlassen werden können, wobei eine "amtliche" Verkündung dieser Direktiven nicht für erforderlich gehalten worden ist. Von dieser Auffassung muß auch bei der Beurteilung der zu jener Zeit erlassenen Direktiven der einzelnen Besatzungsmächte ausgegangen werden. Daß es im Falle der Ziff. 1 der SVD Nr. 3 damals auch in der Absicht der Britischen Militärregierung gelegen hat, nicht nur eine Verwaltungsanweisung zu erlassen, sondern unmittelbar verbindliches Recht zu schaffen, zeigt auch der Inhalt der Ziff. 1 der SVD Nr. 3. Mit den Worten "Bestimmungen, die vor dem Krieg in Kraft waren, .... Diese Bestimmungen werden sofort wieder in Kraft gesetzt ..." ist hier Bezug genommen auf Normen des materiellen Rechts und diese Normen sind durch die Direktiven wieder "in Kraft" gesetzt worden. Damit erscheint aber die Ziff. 1 der SVD Nr. 3 inhaltlich selbst auch als eine Norm des materiellen Rechts; sie ist materiell eine echte Rechtsvorschrift, denn sie stellt die "artikulierte Regelung eines bestimmten Gebietes" dar (vgl. Schmoller-Maier-Tobler, Handbuch des Besatzungsrechts, 1951 § 25 S. 12 unter 9.).

d) Ist hiernach die Ziff. 1 der SVD Nr. 3 eine Norm des materiellen Rechts, so fragt sich noch, ob sie nicht, wie der Kläger hilfsweise behauptet, inzwischen außer Kraft getreten ist. Sicher ist zunächst, daß sie nicht etwa durch die Verordnung Nr. 162 der Britischen Militärregierung vom 16. August 1948 (Amtsblatt der Militärregierung Deutschlands Britisches Kontrollgebiet Nr. 25 S. 835) aufgehoben worden ist. Diese Verordnung hat zwar für die Zukunft die Gesetzgebungsbefugnis auf dem Gebiet der Sozialversicherung auf die Länder übertragen; sie hat aber die SVD Nr. 3 nicht aufgehoben. Die SVD Nr. 3 ist aber auch nicht ohne ausdrückliche Aufhebung einfach "infolge Zeitablaufs" unanwendbar geworden. Sie hat allerdings, wie schon ihre Präambel und die Bezeichnung der einzelnen Anordnungen als "vorläufige Maßnahmen" zeigen, klar den Charakter einer Übergangsregelung. Die zeitliche Geltungsdauer der SVD Nr. 3 muß deshalb begrenzt sein; es darf nicht der Grundsatz des § 1293 Abs. 1 RVO, daß die Feststellung einer wesentlichen Änderung in den Verhältnissen des Berechtigten Voraussetzung der Rentenentziehung ist, praktisch für einen Teil des Bundesgebiets für unbegrenzte Zeit dadurch außer Kraft gesetzt worden, daß eine Rentenentziehung nach § 1293 Abs. 2 RVO auch ohne den Nachweis einer solchen Änderung möglich ist. Eine dauernde Aufhebung des Grundsatzes des § 1293 Abs. 1 RVO hat auch die SVD Nr. 3 nicht beabsichtigt. Durch die Britische Besatzungsmacht selbst ist allerdings die Nr. 1 der SVD Nr. 3 nicht aufgehoben worden; sie hat auch die gesetzgebenden Körperschaften der Länder ihrer Zone nicht ermächtigt, dies zu tun; durch die Verordnung Nr. 162 vom 16. August 1948 (Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, 1948 S. 835) hat sie zwar unter Änderung der Verordnung Nr. 57 die Länder ihrer Zone ermächtigt, auf dem Gebiete der Sozialversicherung wieder Recht zu setzen, sie hat die Länder aber dabei nicht ermächtigt, Normen, die sie selbst vorher auf diesem Gebiet erlassen hat, außer Kraft zu setzen. Auch in dem Besatzungsstatut vom 12. Mai 1949 i. d. F. vom 6. März 1951 (AHK Amtsblatt S. 792) ist noch in Ziff. 7 festgehalten, daß Gesetze der Besatzungsbehörden, die vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassen sind, in Kraft bleiben und daß sie nur durch die Besatzungsbehörden aufgehoben werden können. Jetzt allerdings hat der Bundesgesetzgeber, nachdem er seit dem Inkrafttreten der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 auch die Zuständigkeit für die Aufhebung oder Änderung der für alle Länder der ehemals britischen Zone geltenden SVD Nr. 3 besitzt (Art. 74 Ziff. 12 GG in Verbindung mit der Bekanntmachung über das Inkrafttreten des Protokolls vom 23. Oktober 1954 über die Beendigung des Besatzungsregimes in der Bundesrepublik Deutschland vom 5. Mai 1955, (BGBl. II S. 628), die Pflicht , eine endgültige Regelung zu treffen. In den Ländern außerhalb der britischen Zone, in denen nach dem Zusammenbruch ebenfalls die Fortgeltung des § 1293 Abs. 2 RVO gesetzlich angeordnet worden ist, ist diese Fortgeltung von Anfang an zeitlich begrenzt gewesen. Sie hat teilweise nur bis 31. Juli 1948 bestanden (so in Bayern nach § 1 des Gesetzes Nr. 68 vom 21.7.1947, GVBl. S. 145; in Hessen nach § 1 des Gesetzes vom 15.7.1947, GVBl. S. 44; in Bremen nach § 1 des Gesetzes vom 2.8.1947, GBl. S. 167 und in Württemberg-Baden nach dem Gesetz Nr. 709 vom 31.7.1947, Reg. Bl. S. 77), teilweise hat sie bis zum 31. Juli 1949 gegolten (so in Württemberg-Hohenzollern nach § 1 des Gesetzes vom 6.8.1948, Reg. Bl. S. 111), und teilweise ist sie bis 31. Dezember 1953 in Kraft gewesen (so in Berlin nach § 62 des Berliner Sozialversicherungsanpassungsgesetzes vom 3.12.1950, VOBl. I S. 542). Wie in diesen Ländern der Gesetzgeber die Geltungsdauer jener Vorschriften bestimmt hat, so ist auch die Bestimmung des Endes der zeitlichen Geltung der SVD Nr. 3 für das Gebiet der ehemals britischen Zone Sache des Gesetzgebers . Ob von einem bestimmten Zeitpunkt an die Gerichte befugt sind, der Ziff. 1 der SVD Nr. 3 die Verbindlichkeit zu versagen, weil der Gesetzgeber seiner Pflicht, die Übergangsregelung durch eine endgültige Regelung zu ersetzen, nicht nachkomme (vgl. dazu BGHZ I S. 244 ff, 280), braucht hier nicht entschieden zu werden. Es muß dem Bundesgesetzgeber Zeit gelassen werden, die Rechtszersplitterung, die sich hier wie auf anderen Gebieten in der Nachkriegszeit infolge der Gesetzgebung der Besatzungsmacht und der verschiedenen Länder ergeben hat, wieder zu beseitigen, und zwar in dem Zusammenhang, in dem er dies für richtig hält, wobei zu berücksichtigen ist, daß von dem Bundesgesetzgeber noch andere drängende gesetzgeberische Arbeiten zu erledigen sind. So gesehen kann nicht angenommen werden, daß die Frist, die dem Bundesgesetzgeber für die Aufhebung oder Änderung der SVD Nr. 3 zugestanden werden muß und die erst am 5. Mai 1955 zu laufen begonnen hat, schon verstrichen ist.

4.) Zusammenfassend ist hiernach zunächst festzustellen, daß die Ziff. 1 der SVD Nr. 3, die auf die §§ 1293 Abs. 2 RVO und 42 AVG verweist, auch heute noch eine gültige Norm des materiellen Rechts darstellt; durch diese Ziff. 1 der SVD Nr. 3 hat die Britische Militärregierung die durch Zeitablauf gegenstandslos gewordene Bestimmung des § 1293 Abs. 2 RVO wieder in Kraft gesetzt; sie hat dies selbst getan und nicht etwa, wie der Kläger meint, eine deutsche Stelle damit beauftragt; deutsche Stellen mit Gesetzgebungsbefugnis hat es zu jener Zeit (Oktober 1945) in der britischen Zone noch gar nicht gegeben (so im Ergebnis auch die Urteile des LSG Celle vom 1.6.1954 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 21 ff; des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6.10.1954 in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 250 und des LSG Schleswig vom 22.10.1954, Breithaupt 1955 S. 616 ff sowie im Schrifttum Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand vom 15.8.1954, Bd. II S. 725, 726, Eckert-Sauerborn, Die Sozialversicherungsgesetze in der Bundesrepublik Deutschland, Anm. 2 B zu § 1293, Verbandskommentar zur RVO, 5. Auflage, Anm. 1 zu § 1293, Caesar in "Die Sozialversicherung" 1952 S. 78 ff, Hastler in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 23, Völcker in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1955 S. 252).

5.) Steht aber fest, daß § 1293 Abs. 2 RVO in Verbindung mit der SVD Nr. 3 in den Ländern der ehemals britischen Zone auch heute noch eine gültige Rechtsnorm darstellt, so ist immer noch zu bedenken, daß diese Vorschrift die Entziehung der Rente ohne Feststellung wesentlicher Änderungen in den Verhältnissen des Berechtigten nur für "zulässig" erklärt, daß also der Versicherungsträger zur Entziehung der Rente nicht in jedem Fall verpflichtet ist, die Entziehung der Rente vielmehr in seinem Ermessen liegt. Deshalb ist im Einzelfall immer auch noch zu prüfen, ob der Versicherungsträger sein Ermessen fehlerfrei ausgeübt hat, wenn er einen Rentenbewilligungsbescheid auf Grund der angeführten Vorschriften von einem bestimmten Zeitpunkt an zurückgenommen hat, weil er zu der Überzeugung gekommen ist, eine gesetzliche Voraussetzung für die Bewilligung - hier die Berufsunfähigkeit - habe nicht vorgelegen, es sei also mit dem Rentenbewilligungsbescheid ein fehlerhafter Verwaltungsakt erlassen worden. In dieser Hinsicht findet sich schon in der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts der Gedanke, daß die Rücknahme eines fehlerhaften Verwaltungsaktes als rechtswidrig anzusehen ist, wenn sie gegen Treu und Glauben verstößt; dieser Gedanke ist insbesondere im Zusammenhang mit der Rückforderung zu Unrecht erbrachter Leistungen mehrfach verwertet worden, allerdings ohne dabei zum Ausdruck zu bringen, daß die Rückforderung dieser Leistungen insoweit zugleich die Rücknahme des fehlerhaften Bewilligungsbescheides darstellt, vgl. die Urteile des Reichsversicherungsamts vom 7. Februar 1939, Amtliche Nachrichten 1939 IV S. 246 = EuM Bd. 44 S. 385 ff (388) und vom 24. Februar 1944, Amtliche Nachrichten 1944 II S. 105 und 106. Das Bayerische Landesversicherungsamt hat dieser Rechtsprechung in den Urteilen vom 4. Mai 1950, Bayerisches Amtsblatt 1950 S. 464 und vom 4. Juli 1950, Bayerisches Amtsblatt 1950 S. 665 ausdrücklich zugestimmt. Auch das Landessozialgericht Baden-Württemberg ist ihr in dem Urteil vom 7. Mai 1954, Sozialrechtliche Entscheidungssammlung Abschn. V Nr. 4 zu § 1305 RVO, ausdrücklich gefolgt. In der Rechtsprechung der allgemeinen Verwaltungsgerichte ist der Gedanke, daß die Rücknahme eines fehlerhaften Verwaltungsaktes unter Umständen gegen Treu und Glauben verstößt, gleichfalls zum Ausdruck gebracht worden, vgl. Urteil des OVG Koblenz vom 24.11.1953, Zeitschrift für Beamtenrecht 1954 S. 119 - 121. Im vorliegenden Fall ist indes ein Verstoß gegen Treu und Glauben nicht anzunehmen; einmal hat der Versicherungsträger mit dem umstrittenen Entziehungsbescheid nicht etwa auch die Rückzahlung der bereits gezahlten Renten angeordnet, zum anderen ist die Zeit, während der die Rente gewährt worden ist (1948 - 1951), nicht so lang gewesen, daß das Vertrauen des Klägers auf den Fortbestand des Bewilligungsbescheides bei gleichbleibenden Verhältnissen des unbedingten Schutzes auch für die Zukunft bedarf. Hierbei ist auch nicht außer acht zu lassen, daß die Bewilligung der Rente in den ersten Nachkriegsjahren erfolgt ist, in denen es den Versicherungsträgern noch nicht möglich gewesen ist, die Voraussetzungen für den Rentenbezug mit der gleichen Sorgfalt und Schnelligkeit zu prüfen, wie dies heute wieder möglich ist, daß es andererseits aber der ausgesprochene Zweck der SVD Nr. 3 gewesen ist, den Trägern der Rentenversicherung für eine vorübergehende Zeit die Befugnis zur Entziehung einer Rente auch in dem Falle zu geben, in dem sich herausstellt, daß der Versicherte nicht invalide oder berufsunfähig ist, die Rente daher zu Unrecht bewilligt ist und der Bewilligungsbescheid einen fehlerhaften Verwaltungsakt darstellt.

6.) Aus alledem ergibt sich, daß die Revision des Klägers unbegründet ist; sie ist deshalb nach § 170 Abs. 1 Satz 1 SGG zurückzuweisen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten (§ 193 SGG).

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380544

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