Orientierungssatz
Anrechnung von Unterhaltsansprüchen nach RVO § 1291 Abs 2 S 1:
Eine Anrechnung von Unterhaltsansprüchen auf die wiederaufgelebte Witwenrente kann dann nicht erfolgen, wenn sich diese nicht verwirklichen lassen.
Normenkette
RVO § 1291 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 01.07.1964) |
SG Speyer (Entscheidung vom 26.02.1962) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Juli 1964 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob auf die wiederaufgelebte Witwenrente ein Unterhaltsanspruch auch dann anzurechnen ist (§ 1291 Abs. 2 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO -), wenn dieser sich nicht verwirklichen läßt.
Die zweite Ehe der Klägerin wurde aus der Alleinschuld des Mannes geschieden. Das Scheidungsurteil des Landgerichts Mainz ist seit dem 13. September 1960 rechtskräftig. Die Beklagte hat anerkannt, daß der Klägerin aus der Arbeiterrentenversicherung ihres ersten, 1950 verstorbenen Ehemannes an sich eine Witwenrente in monatlicher Höhe von 114,70 DM zustehe; der Leistung stehe aber entgegen, daß die Klägerin gegen ihren geschiedenen Mann eine durch vollstreckbares Urteil des Amtsgerichts Bingen vom 3. Januar 1961 zu erzwingende Unterhaltsforderung von monatlich 130,- DM habe (Bescheid vom 26. Juli 1961).
Die Klägerin hat Klage erhoben und behauptet, ihr geschiedener Mann komme seiner Verpflichtung nicht nach; er sei vermögenslos; er habe lediglich unter dem Zwang eines Offenbarungseidverfahrens und der Vollstreckung eines Haftbefehls Rückstände bis Mai 1961 abgetragen. Seitdem habe er sich jeder Schulderfüllung entzogen.
Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) (Urteil des SG Speyer vom 26. Februar 1962; Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 1. Juli 1964) haben die Klage abgewiesen. Sie entnehmen dem Wortlaut des § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO, daß es nur auf die Existenz des Unterhaltsanspruchs ankomme. Die wiederaufgelebte Witwenrente sei nicht zu gewähren, soweit der Unterhaltsanspruch bestehe, auch wenn dieser nicht realisiert werden könne.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Die Klägerin hat das Rechtsmittel eingelegt und beantragt, die Urteile der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zur Rentenzahlung zu verurteilen. Sie meint, die Auffassung des LSG werde dem Zweck des Gesetzes nicht gerecht. Mit § 1291 Abs. 2 RVO habe eine Doppelversorgung vermieden werden sollen. Eine solche komme aber nicht in Betracht, wenn die Unterhaltsforderung nicht eintreibbar sei.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen. Sie hält die Gesetzesfassung für wohlbedacht; die Versicherungsträger sollten nicht zu ständig zu wiederholenden Prüfungen gezwungen werden, ob der zunächst unvermögende oder böswillige Unterhaltsschuldner später vielleicht doch seinen Verbindlichkeiten nachkomme; auch werde die Witwe - einmal im Besitz der Rente - kein Interesse mehr an der Verfolgung ihres Unterhaltsrechts haben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision ist begründet.
Der Klägerin kann die Witwenrente nicht vorenthalten werden, wenn sie von dem zu ihrem Unterhalt verpflichteten geschiedenen Mann keine Leistungen erhält und alle Mittel zur Durchsetzung des Unterhaltsanspruchs erschöpft sind. In diesem Sinne hat das Bundessozialgericht (BSG 22, 78) die Vorschrift des § 1291 Abs. 2 RVO ausgelegt, wonach ein von der Witwe infolge Auflösung der Ehe erworbener neuer Unterhaltsanspruch auf die wiederaufgelebte Witwenrente anzurechnen ist. Nach der angeführten Entscheidung ist unter "Anspruch" auf Unterhalt nicht eine rein formale Rechtsstellung gemeint, unabhängig davon, ob sie sich durchsetzen läßt. Vielmehr wird der Sinn dieser Gesetzesbestimmung darin gesehen, einen Doppelbezug von Leistungen zu verhindern. Der Hinterbliebenen, die die Auflösung der zweiten Ehe nicht allein oder überwiegend verschuldet hat, soll jedoch eine Leistung gesichert bleiben, die ohne Wegfall infolge Wiederheirat zu gewähren wäre. Die Aufgabe des § 1291 Abs. 2 Satz 1 RVO erschöpft sich in dem Ausgleich eines nicht gerechtfertigt erscheinenden Vorteils. Einen solchen Vorteil hat aber die Klägerin nicht, wenn und soweit ihre Unterhaltsforderung uneinbringlich ist. Der erkennende Senat hat keinen Grund, von der in dem erwähnten Urteil des BSG entwickelten Auffassung abzugehen, zumal gegen sie, soweit ersichtlich, keine begründete Kritik erhoben worden ist.
Die von der Beklagten angestellte Erwägung, daß bei dieser Lösung dem Versicherungsträger aufgebürdet werde, anstelle der Berechtigten den Unterhaltsanspruch zu verfolgen, ist zwar nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Es sind deshalb auch schon Überlegungen angestellt worden, in welcher Weise sich der Versicherungsträger gegen vermeidbare Zahlungen schützen kann (vgl. Tannen, Die Sozialversicherung 1960, 140). Diese Bedenken reichen jedoch allein nicht aus, um zu einem anderen Ergebnis zu kommen.
Hiernach ist das von einer anderen Rechtsansicht getragene Berufungsurteil aufzuheben. Zu einer abschließenden Entscheidung ist der Rechtsstreit noch nicht reif, denn das Berufungsgericht hat - von seiner rechtlichen Beurteilung her folgerichtig - keine Feststellung darüber getroffen, ob eine Erfüllung der Unterhaltsforderung der Klägerin gegen ihren geschiedenen Mann zu erzwingen ist. In dieser Beziehung sind Nachforschungen geboten, dies um so mehr, als der geschiedene Mann der Klägerin - nach ihrem eigenen Vorbringen - zusammen mit seiner zweiten Ehefrau selbständig eine Tankstelle betreibt.
Die Entscheidung über die Kostenerstattungspflicht bleibt dem Landessozialgericht vorbehalten.
Fundstellen