Entscheidungsstichwort (Thema)
Relative Fahruntüchtigkeit. Beweisanzeichen für relative Fahruntüchtigkeit
Orientierungssatz
1. Wird der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit (Blutalkoholkonzentration 1,3 Promille) nicht erreicht, besteht Fahruntüchtigkeit nur, wenn neben einer die Fahrleistungen des Kraftfahrers beeinträchtigenden Blutalkoholkonzentration auch noch sonstige Beweisanzeichen auf dessen Fahruntüchtigkeit schließen lassen
2. Als Beweisanzeichen für eine relative Fahruntüchtigkeit kommen neben einem zu Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen führenden Blutalkoholgehalt ua die zur Unfallzeit bestehende Verkehrslage, die Fahrweise des Verunglückten sowie seine Reaktion unmittelbar vor oder nach der Unfallsituation in Betracht (vgl BSG 1975-03-13 2 RU 9/73). Aus diesen Beweisanzeichen läßt sich in der Regel zugleich beurteilen, ob und in welchem Umfang die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit an der Verursachung des Unfalls mitgewirkt hat.
Normenkette
RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30, § 550 S. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Juni 1975 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Der Ehemann der Klägerin, Alfred H (H.), ist am 24. Mai 1972 mit einem Kraftfahrzeug tödlich verunglückt. Er befand sich an diesem Tage mit einem von ihm gesteuerten VW-Bus seines Arbeitgebers auf dem Wege von der Arbeitsstelle nach Hause. Unterwegs waren mehrere weitere Arbeitnehmer des Beschäftigungsbetriebes zugestiegen. Kurz hinter einer Brücke geriet H. in einer Rechtskurve über die Straßenmitte auf die linke Fahrspur und stieß mit einem entgegenkommenden Omnibus zusammen. An den dabei erlittenen Verletzungen ist H. gestorben. Nach einem Gutachten des Prof. Dr. S vom Institut für Rechtsmedizin der Universität Marburg vom 29. Mai 1972 enthielt die dem Verstorbenen entnommene Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration (BAK) von 0,83 0 / 00 nach Widmark und 0,84 0 / 00 nach der Fermentmethode. Durch Bescheid vom 25. September 1972 lehnte die Beklagte einen Entschädigungsanspruch der Klägerin ab, weil der Alkoholgenuß für den Eintritt des Unfalls die rechtlich allein wesentliche Ursache gewesen sei. Im Unfallzeitpunkt habe somit kein Versicherungsschutz bestanden. Das Sozialgericht (SG) Marburg hat die Beklagte nach Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin die gesetzliche Hinterbliebenenrente zu gewähren (Urteil vom 18. Dezember 1973). Nach seiner Ansicht ist die alkoholbedingte Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit des H. nur eine wesentliche Teilursache des Unfalls gewesen. Der Unfall sei überwiegend durch überhöhte Geschwindigkeit bei fehlenden Warnschildern bzw. Geschwindigkeitsbegrenzung und einer erheblichen Unübersichtlichkeit an der Unfallstelle verursacht worden. Auf die Berufung der Beklagten hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 18. Juni 1975). Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Weil H. infolge Alkoholgenusses fahruntüchtig gewesen sei und dieser Umstand die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gebildet habe, sei zur Zeit des Unfallgeschehens der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht mehr gegeben gewesen. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sei ein Kraftfahrer zwar erst bei einer BAK von 1,3 0 / 00 absolut fahruntüchtig. H. habe sich zur Zeit des Unfalls somit noch im Bereich der relativen Fahruntüchtigkeit befunden. Das bedeutet jedoch nicht, daß er allein wegen des Fehlens der absoluten Fahruntüchtigkeit noch unter Unfallversicherungsschutz gestanden habe. Es komme vielmehr entscheidend darauf an, ob die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit für den Eintritt des Unfalls die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen sei. Im Gutachten des Bundesgesundheitsamts "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (Kirschbaum-Verlag 1966, bearbeitet von Lundt und Jahn) sei überzeugend dargetan, daß es keine für die Fahrleistung unerhebliche BAK gebe. Bereits bei einer BAK von 0,8 0 / 00 zeigten sich Leistungsverschlechterungen, die einer Fahruntüchtigkeit gleichkämen. Schon bei verhältnismäßig geringfügigen Alkoholdosen und BAK-Werten trete eine eindeutige Veränderung der Fahrweise ein. Aufgrund dieser Ausführungen stehe fest, daß H. infolge Alkoholeinwirkung bei einer BAK von 0,83 0 / 00 bzw. 0,84 0 / 00 nicht mehr fähig gewesen sei, den VW-Bus im Verkehr sicher zu lenken. Andere anteilige, rechtlich erhebliche Ursachen für den Unfall seien nicht mit der in der Unfallversicherung erforderlichen Wahrscheinlichkeit festzustellen. Die Folgen dieser Ungewißheit seien nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast von der Klägerin zu tragen.
Das BSG hat die Revision durch Beschluß vom 31. März 1976 zugelassen.
Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt und wie folgt begründet: Das LSG habe seiner Entscheidung den Erfahrungssatz zugrunde gelegt, daß H. infolge Alkoholeinwirkung bei einer BAK von 0,83 0 / 00 bzw. 0,84 0 / 00 fahruntüchtig, d. h. nicht mehr fähig gewesen sei, den von ihm gefahrenen VW-Bus im Verkehr sicher zu lenken. Dieser Erfahrungssatz, der praktisch von einer absoluten Fahruntüchtigkeit des Kraftfahrers bei einer BAK unter 1,3 0 / 00 ausgehe, stehe mit der Rechtsprechung des BSG im Widerspruch. Danach bestehe absolute Fahruntüchtigkeit erst bei einer BAK von 1,3 0 / 00 und mehr (BSGE 12, 242). Eine relative Fahruntüchtigkeit könne nur angenommen werden, wenn sonstige Beweisanzeichen auf Fahruntüchtigkeit schließen ließen (BSG-Urteil vom 13. März 1975 - 2 RU 9/73 -). Das LSG habe im angefochtenen Urteil keine Tatsachen festgestellt, die auf eine relative Fahruntüchtigkeit hindeuteten. Daß H. beim Durchfahren der Rechtskurve auf die linke Fahrspur geraten sei, spreche noch nicht für eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit. Eine solche Fahrweise werde auch bei Kraftfahrern beobachtet, die nicht unter Alkoholeinwirkung stehen. Im vorliegenden Fall sei das Abweichen von der Fahrbahn dadurch zu erklären, daß sich H. in diesem Augenblick dem Beifahrer zugewendet habe.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil vom Hessischen LSG vom 18. Juni 1975 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Marburg vom 18. Dezember 1973 zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision der Klägerin zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit unter Aufhebung des Urteils des Hessischen LSG vom 18. Juni 1975 an das LSG zurückzuverweisen.
Sie trägt vor, daß in einem Falle der vorliegenden Art die Rechtsprechung des BSG zur Blutalkoholfrage einer Überprüfung bedürfe. Nach den heutigen Erfahrungen liege die Grenze der alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit weit unter der vom BSG bisher angenommenen Grenze von 1,3 0 / 00 . Selbst wenn nicht so weit gegangen werde, müsse im vorliegenden Fall von einer relativen Fahruntüchtigkeit ausgegangen werden, wobei das vom LSG festgestellte Fehlverhalten des H. als ein sonstiges Beweisanzeichen für die Fahruntüchtigkeit des Verunglückten anzusehen sei.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Revision der Klägerin ist insofern begründet, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Für die Entscheidung, ob der Ehemann der Klägerin auf der zum Unfall führenden Fahrt einen Arbeitsunfall i. S. des § 548 Abs. 1 oder § 550 Abs. 1 Reichsversicherungsordnung - RVO - (bis zum 31. Dezember 1973: § 550 Satz 1 RVO) erlitten hat, ist nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats davon auszugehen, daß die auf Alkoholgenuß zurückzuführende Fahruntüchtigkeit eines Kraftfahrers den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung ausschließt, wenn sie die unternehmensbedingten Umstände derart in den Hintergrund drängt, daß sie als die rechtlich allein wesentliche Unfallursache anzusehen ist (BSGE 12, 242). Ein Kraftfahrer ist bei einem Blutalkoholgehalt von 1,3 0 / 00 und mehr absolut, d. h. ohne Rücksicht auf sonstige Beweisanzeichen, fahruntüchtig (BSGE 34, 216). Von dieser Rechtsprechung ist zwar auch das LSG ausgegangen. Soweit es jedoch schon aus der BAK von 0,83 0 / 00 bzw. 0,84 0 / 00 zur Zeit des Unfallgeschehens folgert, er habe sich "somit noch im Bereich der sogenannten relativen Fahruntüchtigkeit" befunden, ist ihm nicht zu folgen. Wird der Grenzwert der absoluten Fahruntüchtigkeit (BAK 1,3 0 / 00 ) nicht erreicht, besteht Fahruntüchtigkeit nur, wenn neben einer die Fahrleistungen des Kraftfahrers beeinträchtigenden BAK auch noch sonstige Beweisanzeichen auf dessen Fahruntüchtigkeit schließen lassen. Der erkennende Senat hat dies in seinem Urteil vom 13. März 1975 - 2 RU 9/73 - ausführlich dargelegt, mit dem eine Entscheidung des Hessischen LSG vom 1. November 1972 - L 3 U 976/71 - aufgehoben wurde. Erst wenn eine auf unternehmensfremdem Alkoholgenuß beruhende - absolute oder relative - Fahruntüchtigkeit festgestellt ist, die bei der Herbeiführung des Unfalls mitgewirkt hat, ist die weitere Entscheidung zu treffen, ob sie neben anderen für das Zustandekommen des Unfalls maßgebenden Umstände die rechtlich allein wesentliche Unfallursache gewesen ist (vgl. BSGE 8, 245; 10, 46, 50; 12, 242, 246). Als Beweisanzeichen für eine relative Fahruntüchtigkeit kommen neben einem zu Leistungsminderungen und Persönlichkeitsveränderungen führenden Blutalkoholgehalt u. a. die zur Unfallzeit bestehende Verkehrslage, die Fahrweise des Verunglückten sowie seine Reaktion unmittelbar vor oder nach der Unfallsituation in Betracht (BSG Urteil vom 13. März 1975 aaO; Brackmann, Handbuch der Unfallversicherung, 8. Aufl., S. 488 e und f). Aus diesen Beweisanzeichen läßt sich in der Regel zugleich beurteilen, ob und in welchem Umfang die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit an der Verursachung des Unfalls mitgewirkt hat.
Unter diesen Umständen reichen die Ausführungen des LSG, daß H. infolge Alkoholeinwirkung bei einer BAK von 0,83 0 / 00 bzw. 0,84 0 / 00 nicht mehr fähig gewesen sei, den VW-Bus im Verkehr sicher zu lenken, nicht aus, um Fahruntüchtigkeit anzunehmen. Weder das LSG noch die Beklagte legen medizinisch-wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse dar, die es entgegen dem Gutachten des Bundesgesundheitsamts "Alkohol bei Verkehrsstraftaten" (aaO) rechtfertigen, den Grenzwert einer alkoholbedingten absoluten Fahruntüchtigkeit niedriger als mit einer BAK von 1,3 0 / 00 anzunehmen. Die Empfehlung des Gutachtens, im Wege der Gesetzgebung das Alkoholdelikt in ein Formaldelikt umzuwandeln und das Führen eines Kraftfahrzeuges bereits bei einem "Gefahrengrenzwert" von 0,8 0 / 00 unter Strafe zu stellen, geht ausdrücklich davon aus, daß im Einzelfall eine Fahrunsicherheit nicht nachgewiesen zu werden brauche. Die Festlegung des absoluten Grenzwertes wird dadurch nicht berührt (BSGE 34, 261, 264).
Der Senat kann die Entscheidung, ob sonstige Beweisanzeichen für eine alkoholbedingte - relative - Fahruntüchtigkeit sprechen, nicht selbst treffen. Zwar hat das LSG einige Umstände, wie z. B. die Verkehrslage zur Zeit des Unfalls und die Fahrweise des Verunglückten im Urteil behandelt. Dies ist jedoch lediglich im Zusammenhang mit der Prüfung geschehen, ob neben der - vom LSG angenommenen, aber unzureichend festgestellten - alkoholbedingten relativen Fahruntüchtigkeit noch andere rechtlich erhebliche Ursachen am Zustandekommen des Unfalls mitgewirkt haben. Eine Würdigung dieser und etwaiger weiterer Umstände im Hinblick auf die - tatsächliche - Feststellung alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit hat das LSG aufgrund seiner vom Revisionsgericht abweichenden Rechtsansicht bisher nicht vorgenommen. Dies ist von ihm nachzuholen, da diese Feststellungen auf tatsächlichem Gebiet liegen.
Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - an das LSG zurückzuverweisen.
Fundstellen