Leitsatz (amtlich)

Wer seinen ursprünglichen Beruf schädigungsbedingt hat aufgeben müssen, wegen der Schädigungen als Schwerbehinderter anerkannt ist und deshalb unter Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes auch seinen Ersatzberuf vorzeitig mit 60 Jahren aufgibt, bezieht den ungekürzten Berufsschadensausgleich weiter, wenn er in dem ursprünglichen Beruf weitergearbeitet hätte. Diesen doppelt hypothetischen Berufsverlauf kann er unter Hinweis auf individuelle Verhältnisse glaubhaft machen.

 

Orientierungssatz

Der Senat schließt sich dem Urteil des 4b. Senats vom 8.10.1987 4b RV 15/86 = SozR 3642 § 8 Nr 1 an.

 

Normenkette

BSchAV § 8 Abs 1 Nr 2; BSchAV § 8 Abs 3; BVG § 30 Abs 3; SGB 10 § 48 Abs 1 S 1; BSchAV § 8 Abs 1 Nr 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 13.03.1986; Aktenzeichen L 10 V 0212/85)

SG Würzburg (Entscheidung vom 27.06.1985; Aktenzeichen S 11 V 0277/85)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt auch für die Zeit zwischen Vollendung des 63. und 65. Lebensjahres Berufsschadensausgleich nach einem ungekürzten Vergleichseinkommen.

Der Kläger hat den erlernten Beruf eines Formers schädigungsbedingt aufgegeben. Er bezieht seit Vollendung des 60. Lebensjahres - zu diesem Zeitpunkt schied er aus seinem Beruf als Angestellter eines grafischen Betriebes aus - Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung.

Wegen der anerkannten Schädigungsfolgen - fest verheilter Bruch des linken Oberschenkels mit Verkürzung um 3,5 cm und leichter Verbiegung sowie Achsenverschiebung und entartende Veränderungen am linken Kniegelenk - bezog er Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 vH unter Einbeziehung eines besonderen beruflichen Betroffenseins (Bescheid vom 30. August 1974). Er erhielt auch Berufsschadensausgleich ab 1. April 1974 nach dem Vergleichseinkommen eines Arbeiters der Leistungsgruppe 1 im Wirtschaftsbereich Eisen-, Stahl- und Tempergießerei (Bescheide vom 2. September 1974/20. Juni 1977).

Nach Anhörung des Klägers berechnete der Beklagte den ab 1. November 1984 zu zahlenden Berufsschadensausgleich auf der Grundlage eines auf 75 vH gekürzten Vergleichseinkommens neu, weil mit der Vollendung des 63. Lebensjahres am 31. Oktober 1984 eine wesentliche Änderung eingetreten sei (Bescheid vom 1. Oktober 1984 idF des Widerspruchsbescheides vom 18. März 1985).

Das Sozialgericht (SG) hat unter Zulassung der Berufung die Bescheide aufgehoben, soweit das Vergleichseinkommen gekürzt worden war (Urteil vom 27. Juni 1985). Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) führt in seiner Begründung aus: Die Vollendung des 63. Lebensjahres allein stelle keine wesentliche Änderung dar; auch § 8 Abs 2 der Verordnung zu § 30 Abs 3 bis 5 Bundesversorgungsgesetz (BVG) aF und § 8 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 6 BVG (Berufsschadensausgleichsverordnung -BSchAV-) idF vom 29. Juni 1984 (BGBl I S 861) berechtigten nicht zu einer Kürzung des Vergleichseinkommens. Die Vorschrift setze ein Ausscheiden bei Vollendung des 63. Lebensjahres und nicht schon zu einem früheren Stichtag voraus. Auch eine analoge Anwendung komme hier nicht in Betracht, weil das frühere Ausscheiden mit Vollendung des 60. Lebensjahres als schädigungsbedingt zu werten sei. Eine Kürzung wäre nur dann möglich gewesen, wenn tatsächlich Umstände eingetreten wären, aus denen im konkreten Fall auch ohne die Schädigungsfolgen zwingend auf eine Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes geschlossen werden müßte. Dabei könne es sich nur um Ereignisse handeln, derentwegen vernünftigerweise eine Fortsetzung der Berufstätigkeit über die Vollendung des 63. Lebensjahres hinaus in keinem Fall mehr zu erwarten wäre. Die statistisch begründbare Feststellung, daß ein hoher Prozentsatz aller erwerbstätigen Arbeitnehmer das flexible Altersruhegeld in Anspruch nehme, ersetze solche Tatsachen nicht.

Die - vom LSG zugelassene - Revision stützt der Beklagte auf eine Verletzung des § 8 BSchAV. Der Beschädigte müsse glaubhaft machen, daß er über die in Anspruch genommene Altersgrenze - hier das 60. Lebensjahr - hinaus noch erwerbstätig wäre. Ohne die anerkannten Schädigungsfolgen, die allein die Schwerbehinderteneigenschaft begründeten, hätte der Kläger zwar das vorgezogene Altersruhegeld mit 60 Jahren nicht in Anspruch nehmen können. Das gelte nicht mehr bei Erreichung des 63. Lebensjahres; ab diesem Zeitpunkt sei ein weiteres Verbleiben - auch im sog "Hätte-Beruf" des Formers - nicht mehr glaubhaft. Hier seien alle Umstände zu würdigen: Einmal sei das Ausscheiden statistisch wahrscheinlich, weil mehr als 80 vH aller erwerbstätigen Arbeitnehmer das flexible Altersruhegeld in Anspruch nähmen, zum anderen könne aus dem Verhalten im "Ersatzberuf" auf ein Verhalten im "Hätte-Beruf" geschlossen werden. Wenn der Kläger schon die ihn nicht besonders belastende Arbeit als Angestellter - ohne Motivation durch den Arbeitgeber - vorzeitig aufgegeben habe, hätte er wahrscheinlich auch den viel anstrengenderen Beruf des Formers vorzeitig aufgegeben.

Der Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und schließt sich ihm an.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Beklagten hat insoweit Erfolg, als die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.

Für die Entscheidung über die Höhe des dem Kläger zustehenden Berufsschadensausgleichs hat das LSG nicht alle erforderlichen Tatsachen festgestellt, denn seine Entscheidung berücksichtigt noch nicht die rechtlichen Erwägungen, auf die das Bundessozialgericht (BSG) sein zwischenzeitlich zu diesem Problemkreis ergangenes Urteil vom 8. Oktober 1987 - 4b RV 15/86 - (demnächst in SozR 3642 § 8 Nr 1) gestützt hat und denen sich der erkennende Senat anschließt.

Zu Recht hat das LSG bei Prüfung der Voraussetzung des § 48 Abs 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) entschieden, daß allein durch das Erreichen eines bestimmten Lebensalters vor Vollendung des 65. Lebensjahres keine wesentliche Änderung gegenüber den Verhältnissen eintritt, die bei Erlaß des maßgeblichen Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung am 20. Juni 1977 vorgelegen haben. Damals war der für die Höhe des Anspruchs auf Berufsschadensausgleich (§ 30 Abs 3 BVG idF des 10. AnpG vom 10. August 1978 -BGBl I S 1217-) maßgebliche Einkommensverlust iS des § 30 Abs 4 Satz 1 BVG nach dem ungekürzten Vergleichseinkommen zu berechnen. Nach § 8 Satz 1 BSchAV tritt eine solche Änderung der Verhältnisse durch reinen Zeitablauf nur dann ein, wenn der Beschädigte das 65. Lebensjahr vollendet; dann ist nach Nr 1 das Vergleichseinkommen auf 75 vH zu kürzen. Bei der Erreichung anderer Altersgrenzen darf hingegen nur gekürzt werden, wenn weitere Tatbestandsmerkmale erfüllt sind: der Beschädigte muß wegen Erreichens oder Inanspruchnahme einer gesetzlichen Altersgrenze aus dem Erwerbsleben tatsächlich ausscheiden oder ausscheiden müssen (Nr 2) oder tatsächlich von der Möglichkeit des Übergangs in den vorzeitigen Ruhestand Gebrauch machen und deswegen die Erwerbstätigkeit aufgeben (Nr 3). In beiden Fällen ist das Vergleichseinkommen nicht zu kürzen, wenn der Beschädigte glaubhaft macht, daß er ohne die Schädigung noch erwerbstätig wäre (§ 8 Satz 3 BSchAV).

Diese Vorschrift ist entgegen der Rechtsauffassung des LSG auch dann anzuwenden, wenn der Beschädigte schon mit Vollendung des 60. Lebensjahres tatsächlich - allerdings schädigungsbedingt - aus dem Erwerbsleben ausgeschieden ist. Es ist dann zu prüfen, ob ohne die Schädigung der Beschädigte weiterhin einer Erwerbstätigkeit nachgegangen wäre, wobei der Beruf maßgeblich ist, den er ohne die Schädigung ausgeübt hätte.

Ausgehend von seiner Rechtsauffassung hat das LSG folgerichtig einerseits den Beklagten für beweisbelastet gehalten und andererseits einen vollen Nachweis dafür verlangt, daß im konkreten Fall auch ohne Schädigungsfolgen zwingend auf eine Inanspruchnahme des flexiblen Altersruhegeldes geschlossen werden müßte. Bei seiner neuen Entscheidung wird das LSG abweichend verfahren müssen. Nach den Grundsätzen der objektiven Beweislast treffen den Beklagten die Nachteile, wenn eine Änderung in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen iS des § 48 SGB 10 nicht erweislich sein sollte. § 8 BSchAV knüpft in den Nrn 2 und 3 jedoch die Änderung der Verhältnisse nur an zwei Sachverhalte: das Erreichen der Altersgrenze und das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, steht dem Beschädigten offen, seinerseits glaubhaft zu machen, daß er ohne Schädigung noch erwerbstätig wäre. Ihm kommt die Beweiserleichterung der Glaubhaftmachung zugute; gelingt sie ihm nicht, treffen allerdings ihn die Folgen der Unaufklärbarkeit.

Im Rahmen seiner Abwägung wird das LSG einerseits den Gesetzeszweck zu berücksichtigen haben, wie ihn der 4. Senat näher dargelegt hat. Es soll dem Umstand Rechnung getragen werden, daß alle nicht erwerbstätigen Altersruhegeldbezieher schon wegen des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben Einkommenseinbußen hinnehmen müssen. Der Einkommensverlust ist also nur dann in der bei Erwerbstätigen gebotenen Höhe auszugleichen, wenn der Beruf wegen der Schädigungsfolgen vorzeitig aufgegeben wurde. In diesem Zusammenhang können statistische Erkenntnisse darüber, daß nur noch ganz wenig Erwerbstätige bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres arbeiten, nicht unberücksichtigt bleiben. Zwar ergibt sich - wie das LSG zutreffend ausführt - aus statistischen Feststellungen lediglich eine statistische Wahrscheinlichkeit. Sie erlaubt aber die Aussage über das gewöhnliche Verhalten gerade auch nicht beschädigter Erwerbstätiger. Darauf können hypothetische Abwägungen gestützt werden. Die hier im Rahmen von § 8 BSchAV durchzuführende Prüfung betrifft nämlich keinen realen, sondern einen hypothetischen Sachverhalt - und sogar in doppelter Hinsicht. Zum ersten übte der Kläger seinen früheren Beruf seit über 30 Jahren schädigungsbedingt nicht mehr aus. Konkrete Aussagen darüber, wie das Berufsleben in diesem "Hätte-Beruf" verlaufen wäre, können nicht gemacht werden; die konkreten beruflichen Anforderungen, (evtl starker berufstypischer gesundheitlicher Verschleiß, die konkrete Arbeitsmarktsituation, betriebliche Umstände, wie eine Vorruhestandsregelung oder konjunkturell bedingter Personalabbau) lassen sich nicht ermitteln. Zum zweiten stellt sich die konkrete Frage eines schädigungsbedingten Ausscheidens bei Vollendung des 63. Lebensjahres für den Beschädigten nicht, weil er in Anbetracht seiner Schädigung aus dem Ersatzberuf tatsächlich schon drei Jahre früher ausgeschieden ist. Auch insoweit können lediglich hypothetische Erwägungen angestellt werden. Da sie zeitnähere Umstände betreffen, können sie aber weniger typisierend, konkreter an der jeweiligen Lebenssituation des Beschädigten ausgerichtet werden. Dabei wird zwar einerseits - worauf der Beklagte zutreffend hingewiesen hat - zu berücksichtigen sein, ob aus dem Ausscheiden mit Vollendung des 60. Lebensjahres generell auf einen Willen zum vorzeitigen Ruhestand geschlossen werden kann. Dies wird abhängen von Art und Ausmaß der Beschädigung, vom Leidensdruck, von den konkreten Umständen im Ersatzberuf und von der wirtschaftlichen Lage des Beschädigten (zB familiäre Unterhaltslasten und ähnliches). In einigen Fällen wird man - vielleicht auch im vorliegenden - den generellen Wunsch zur vorzeitigen Beendigung des Erwerbslebens deutlich erkennen können, wenn weder der Ersatzberuf nicht als anstrengend empfunden wird noch der Arbeitgeber zur Berufsaufgabe gedrängt hat und dennoch ab dem 60. Lebensjahr Altersruhegeld bezogen wird. Abschließend beurteilen läßt sich die Situation jedoch erst dann, wenn von Amts wegen auch ermittelt wird, wie sich die persönliche wirtschaftliche und berufliche Situation des Betreffenden nach Vollendung des 63. Lebensjahres darstellt. Denn ohne das schädigungsbedingte noch frühere Ausscheiden aus dem Beruf wäre dies der Zeitpunkt gewesen, in dem eine Entscheidung iS des § 8 BSchAV hätte getroffen werden müssen. Es ist daher im Einzelfall nicht auszuschließen, daß trotz Ausscheidens mit Vollendung des 60. Lebensjahres drei Jahre später eine abweichende Entscheidung getroffen worden wäre, weil sich beispielsweise die persönlichen Verhältnisse inzwischen geändert haben.

Diesen Gesichtspunkten wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung Rechnung zu tragen haben bei der Abwägung, ob glaubhaft gemacht werden kann, daß der Beschädigte ohne die Schädigungsfolgen über das 63. Lebensjahr hinaus gearbeitet hätte. Glaubhaft ist eine Tatsache, wenn die "gute Möglichkeit" besteht, daß sie sich so zugetragen hat, wie es behauptet wird (BSGE 8, 159, 162; 45, 1, 10). Die Gewichtung des typisierten Lebenssachverhalts einerseits und der individuellen Umstände andererseits bleibt der Beweiswürdigung des Tatsachengerichts vorbehalten. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657833

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