Entscheidungsstichwort (Thema)
Verhältnis zu BVerfGG § 79 Abs 2 Folgen unrichtiger Beratung. Antragsrücknahme
Leitsatz (amtlich)
Zum Anspruch auf Natural-Restitution aus dem Gesichtspunkt einer Verletzung der behördlichen Betreuungspflicht, wenn ein Antrag auf Versorgung im Vertrauen auf die Richtigkeit einer behördlichen Empfehlung zurückgenommen wurde, die Empfehlung aber auf einer später vom BVerfG für nichtig erklärten Norm beruhte.
Leitsatz (redaktionell)
1. Ungeachtet des Verhältnisses des BVerfGG § 79 Abs 2 und KOVVfG § 40 Abs 1 zueinander kann die Versorgungsverwaltung eine verbindlich gewordene Entscheidung beseitigen, die auf einem verfassungsverletzenden Gesetz (hier: BVG § 44 Abs 2 in der durch das BVerfG im Jahr 1974 für verfassungswidrig erklärten Fassung) fußt. Nach dem Urteil des BSG vom 1970-06-02 10 RV 534/68 = BVBl 1970, 128-131 könnte die Verwaltungsbehörde unter den hier in Betracht zu ziehenden Umständen nicht durch richterliche Entscheidung angehalten werden, wegen Unrichtigkeit des Vorentschiedenen eine Anspruchsberechtigung neu zu prüfen (vgl dazu ferner BSG vom 1967-03-14 10 RV 504/66 = BSGE 26, 146, 148 f und BSG vom 1969-06-24 10 RV 282/66 = BSGE 29, 278, 281 f).
2. Nimmt ein Antragsteller seinen Versorgungsantrag im Vertrauen auf die Richtigkeit und Vollständigkeit des von dem zuständigen Versorgungsbeamten gegebenen Rates zurück, so darf sich die Verwaltung, wenn die Ratserteilung aus gegenwärtiger Sicht - rechtswidrig war, später nicht auf das Fehlen dieses Antrags berufen. Die Rechtsfolge ist, daß die Verwaltung das Fortbestehen des Antrags gegen sich gelten lassen muß. Unerheblich ist, ob der Beamte bei der (falschen) Unterrichtung über die Rechtslage subjektiv vorwerfbar, schuldhaft, namentlich fahrlässig handelte. Die Behörde hat auch ohne den Nachweis eines solchen Verschuldens aus unmittelbarer Unrechtshaftung heraus den Antragsteller so zu stellen, wie er stehen würde, wenn er richtig unterrichtet worden wäre (vgl auch BSG vom 1970-11-17 1 RA 233/68 = BSGE 32, 60, 64).
Normenkette
BVG § 44 Abs. 2 Fassung: 1966-12-28, Abs. 4 S. 1 Fassung: 1971-12-16; BVerfGG § 79 Abs. 2 Fassung: 1970-12-21; KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; SGB 1 § 14 Fassung: 1975-12-11
Verfahrensgang
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 1. Dezember 1977 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 14. September 1976 sowie die Bescheide vom 9. Januar 1976 und 19. Mai 1976 werden aufgehoben.
Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des erkennenden Senats einen neuen Bescheid über ihre Witwenversorgung zu erteilen.
Der Beklagte hat der Klägerin die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin verlangt die Vorverlegung der ihr gewährten Witwenversorgung. Diese Leistung erhält sie vom 1. März 1975 an (Bescheid vom 4. April 1975).
Ihr erster Ehemann ist 1942 in Rußland gefallen. Ihre zweite Ehe wurde durch das Urteil des Kreisgerichts K-M S/Land vom 16. Oktober 1970 geschieden. Das Urteil enthält keinen Schuldausspruch. Eine Schuldfeststellungsklage hat die Klägerin in der Bundesrepublik Deutschland nicht erhoben. Das Armenrecht hierfür war ihr wegen fehlender Aussicht auf Erfolg verweigert worden. Im März 1971 beantragte sie im Hinblick auf den Kriegstod ihres ersten Mannes die Witwenversorgung. Diesen Antrag nahm sie jedoch im Juni 1973 zurück, nachdem sie bei einer Vorsprache im Versorgungsamt darüber unterrichtet worden war, daß nach § 44 Abs 2 BVG (ausgehend von der bis zum Beschluß des BVerfG vom 2. November 1974 - 1 BvR 505/68 = BGBl I, 448 geltenden Fassung) die Witwenversorgung nur wiederauflebe, wenn die neue Ehe "ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe" aufgelöst worden sei. Im März 1975 stellte die Klägerin abermals den Antrag, auf den hin die Leistung zwar bewilligt, aber nicht für eine rückwirkende Zeit zuerkannt wurde.
Die Versorgungsbehörde lehnte es ab, die Hinterbliebenenversorgung früher anfangen zu lassen (Bescheid vom 9. Januar 1976; Widerspruchsbescheid vom 19. Mai 1976). Die durch den Bescheid vom 4. April 1975 getroffene Zeitbestimmung folge aus § 44 Abs 4 BVG; sie sei rechtmäßig und könne nicht durch eine Zugunstenregelung (§ 40 Abs 1 KOVVfG) geändert werden. Anders wäre es nach einem Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 27. Februar 1975 (BVBl 1975 S 45 Nr 23) nur, wenn früher mit Rücksicht auf die "Verschuldensklausel" ablehnend entschieden worden wäre. An einer solchen Entscheidung fehle es jedoch. Der erste Antrag von 1971 habe infolge seiner Rücknahme jede Bedeutung verloren. Ein anderes Verwaltungshandeln lasse sich auch nicht aus dem Gesichtspunkt einer besonderen Härte (§ 89 Abs 1 BVG) rechtfertigen.
Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben. Die Überlegungen der Versorgungsverwaltung hat das LSG noch durch die Erwägung ergänzt, ob der allgemeine Gleichheitssatz deshalb verletzt sei, weil die Klägerin schlechtergestellt werde als eine Witwe, der vor dem Spruch des BVerfG ein die Witwenversorgung ablehnender Bescheid erteilt worden sei. Dazu bezieht sich das LSG auf § 79 BVerfGG, wonach nicht mehr anfechtbare Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, regelmäßig von der Nichtigerklärung unberührt bleiben. In Anbetracht dieser Vorschrift erscheine der Erlaß des BMA in seiner Gültigkeit bedenklich. Auf ihn vermöge sich die Klägerin aber nicht zu berufen, weil es keine Gleichbehandlung im Unrecht gebe. Im übrigen sei die Position der Klägerin dadurch gekennzeichnet, daß es bei ihr infolge der Rücknahme an dem früheren Antrag fehle, wohingegen dann, wenn ein älterer negativer Bescheid nach § 40 Abs 1 KOVVfG beseitigt werde, der frühere Antrag noch existent sei (vgl § 79 Abs 2 BVerfGG). Schließlich könne ein anderes Resultat auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Folgebeseitigung oder des Herstellungsanspruchs erzielt werden. Davon könnte nur die Rede sein, wenn die Klägerin seinerzeit (1973) unter Verletzung der behördlichen Beratungspflicht fehlerhaft unterrichtet worden wäre. So sei es aber nicht. Die Möglichkeit, daß die Verschuldensklausel in § 44 Abs 2 BVG aF verfassungsrechtlich für ungültig erklärt werden könnte, hätte sich 1973 noch nicht konkret abgezeichnet. Auf eine völlig ungewisse Entwicklung hätte die Klägerin nicht aufmerksam gemacht werden müssen.
Die Klägerin hat die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie möchte ihrem Erstantrag (1971) und der darauf folgenden Rücknahmeerklärung eine andere Tragweite beigemessen wissen. Die Rücknahmeerklärung müsse im Licht der behördlichen Pflicht zur vollständigen und erschöpfenden Beratung anders als von den Vorinstanzen gewertet werden. Bei der Information, die der Klägerin vor der Rücknahme erteilt worden sei, hätten die Zweifel gegen die Verfassungsgültigkeit des § 44 Abs 2 BVG aF berücksichtigt und erwähnt werden müssen. Diese Zweifel hätten damals einem geschulten Beamten der Versorgungsverwaltung bekannt sein müssen, da die einschlägige Verfassungsbeschwerde bereits damals, nämlich seit 1968, beim BVerfG anhängig gewesen sei. Für eine entsprechende Kenntnis der mit Versorgungssachen beschäftigten Beamten hätten im übrigen der BMA und die zuständigen Landesminister sorgen müssen, denn sie seien jedenfalls davon unterrichtet gewesen, daß das BVerfG die in Betracht kommende Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen gehabt hätte (§ 93 a Abs 1 BVerfGG). Mit einem Beschluß des BVerfG über die Verfassungswidrigkeit der maßgeblichen Gesetzesbestimmung sei also zu rechnen gewesen. In Anbetracht dieser Umstände hätte der handelnde Beamte die Klägerin von einer Antragsrücknahme abhalten müssen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung der vorinstanzlichen Urteile und unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin für die Zeit vom 1. März 1971 bis 28. Februar 1975 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Revisionsgerichts einen neuen Bescheid über die Witwenversorgung zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er und die zum Rechtsstreit beigeladene Bundesrepublik Deutschland verweisen darauf, daß die Verschuldensklausel in § 44 Abs 2 BVG aF vor der Entscheidung des BVerfG in der Rechtsprechung des BSG nicht aus Verfassungsgründen in Zweifel gezogen worden seien.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin hat Erfolg.
Das Klagebegehren findet - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - in § 40 Abs 1 KOVVfG seine Rechtsgrundlage. Der Bescheid vom 4. April 1975, mit dem der Beginn der Witwenversorgung auf den 1. März 1975 festgesetzt worden ist, wird von dem Beklagten mit einer Begründung verteidigt, die nicht gutzuheißen ist. Allerdings beginnt die Witwenversorgung nicht vor dem Monat, in dem sie beantragt wird (§ 44 Abs 4 BVG). Hierfür war aber nicht notwendig der im März 1975 gestellte zweite Antrag der Klägerin maßgebend. Vielmehr war die Versorgungsverwaltung befugt, auf den ersten, vier Jahre älteren Antrag zurückzugreifen. Zwar hatte die Klägerin diesen Antrag inzwischen zurückgenommen. Deshalb ist er aber nicht als nicht gestellt anzusehen. Der Versorgungsbehörde ist der Einwand, der erste Antrag sei nicht mehr existent, abgeschnitten, weil sie mit diesem Einwand eine formale, der Klägerin nachteilige Rechtsposition ausnutzt, die durch fehlerhaftes Verwaltungshandeln wesentlich mitverursacht worden ist. Ein solches Vorgehen ist der Behörde verwehrt. Sie setzt sich in Widerspruch zu der Betreuungspflicht, die ihr als Nebenpflicht des bestehenden Versorgungsrechtsverhältnisses obliegt (zur behördlichen Betreuungspflicht, wie sie von der Rechtsprechung entwickelt und durch die §§ 13 bis 15 SGB 1 - wenn auch nicht abschließend - konkretisiert worden ist: BSG SozR Nr 3 zu § 1233 RVO; Nr 12 zu § 242 BGB; Nr 2 zu § 1407 RVO; BSGE 32, 60, 63 f: 34, 124 127; 41, 126, 127; Jakumeit/Wilde, SGb 1971, 375; Lüdtke, AuB 1976, 376; Meier/Hannemann, DAngVers 1975, 347; Schnapp, DOK 1977, 889, 894; März, Mitt. der LVA Oberfranken und Mittelfranken 1977, 473, 481 f; Funk, SGb 1978, 45, 48; Schnapp, DAngVers, 1978, 538, 542).
Die Rücknahme des ursprünglichen Leistungsgesuchs, auf welche sich der Beklagte beruft, hatte die Klägerin im Vertrauen darauf erklärt, daß ihr der zuständige Beamte des Versorgungsamtes die Rechtslage korrekt und vollständig beschrieben habe. Demzufolge handelte sie in der Vorstellung, ihre Rechtsverfolgung sei aussichtslos, ein Anspruch auf Witwenversorgung stehe ihr nicht zu, weil ein solcher Anspruch nur dann nach Auflösung einer zweiten Ehe wiederauflebe, wenn die neue Ehe ohne alleiniges oder überwiegendes Verschulden der Witwe aufgelöst worden sei (§ 44 Abs 2 BVG in der durch das Bundesverfassungsgesetz für verfassungswidrig erklärten Fassung). Für die Antragsrücknahme war mithin die Geltung der Verschuldensklausel in § 44 Abs 2 BVG aF ausschlaggebend. Das Erfordernis des Nichtverschuldens stand aber, wie sich nach dem Spruch des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1974, BGBl I, 448 = BVerfGE 38, 187 herausstellte, ihrem Anspruch nicht entgegen. Hingegen war die ihr von dem Behördenvertreter gegebene Empfehlung unzutreffend. Dem steht nicht entgegen, daß der raterteilende Beamte selbst an den verfassungsrechtlichen Bestand der Verschuldensklausel geglaubt haben mag; dies zumal, als das BSG die vom Verfassungsgericht erhobenen Bedenken nicht geteilt hatte (BSGE 26, 1; SozEntsch I/2 § 40 VerwVG Nr 33; SozEntsch IX/3 § 44 BVG Nr 18). Immerhin wäre aber - wie die Revision mit Recht geltend gemacht hat - auch zu beachten, daß dem Beamten, als er 1973 der Klägerin die Rücknahme des Versorgungsantrags vorschlug, die Zweifel an der Verfassungsgültigkeit der in Rede stehenden Rechtsnorm hätten bekannt sein können und bekannt sein müssen. Denn die dem Beschluß des BVerfG zugrunde liegende Verfassungsbeschwerde war seit 1968 anhängig. Insoweit war der Hinweis des Beamten zumindest lückenhaft; er hätte die Klägerin jedenfalls auf das bei dem BVerfG anhängige Verfahren und seine möglichen Folgen aufmerksam machen müssen. Diese Erwägung braucht jedoch im Streitfalle nicht weiter verfolgt zu werden. Es genügt, daß in dem Punkt des Scheidungsverschuldens die Information an die Klägerin aus gegenwärtiger Sicht falsch war. Daraus folgt die Rechtswidrigkeit der Ratserteilung, die es dem Beklagten heute verbietet, sich auf das Fehlen des früheren Versorgungsantrags zu berufen. Unerheblich ist dagegen, ob der damals handelnde Beamte bei der unzutreffenden Unterrichtung der Klägerin subjektiv vorwerfbar, schuldhaft, namentlich fahrlässig handelte, indem er sie nicht über den verfassungsrechtlichen Zusammenhang aufklärte. Die Behörde hat auch ohne den Nachweis eines solchen Verschuldens aus unmittelbarer Unrechtshaftung heraus die Klägerin so zu stellen, wie sie stehen würde, wenn sie richtig unterrichtet worden wäre (BSGE 32, 60, 64; Maier/Hannemann, DAngVers 1975, 347, 353, 355; Rüfner in: Wannagat, Sozialgesetzbuch AT, Rdnr 12 zu § 14; zu dem auf Zweckerreichung des Hauptrechtsverhältnisses gerichteten Herstellungsanspruch im übrigen: Schnapp, DAngVers 1978, 538, 543; aus der Rechtsprechung: BSG SozR Nr 3 zu § 1233 RVO; Nr 21 zu Art 2 § 42 ArVNG; BSGE 32, 60, 64; SozR Nr 11 zu § 1276 RVO; BSGE 41, 126, 127). Wichtig ist allein die Herstellung des rechtmäßigen, namentlich des verfassungsadäquaten Zustandes (Lüdtke, AuB 1976, 376, 377).
Der hier vertretenen Auffassung ist nicht die Regelung des § 79 Abs 2 BVerfGG entgegenzuhalten. Danach bleiben Entscheidungen unberührt, die nicht mehr anfechtbar, aber auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen. Anders ist es nur, wenn eine besondere gesetzliche Regelung getroffen wird. Aus dieser Vorschrift hat das Berufungsgericht den Zweifel hergeleitet, ob die Nichtigerklärung des § 44 Abs 2 BVG aF einen auf ihr gegründeten Verwaltungsakt unrichtig mache. Wenn - so der Gedanke des Berufungsgerichts - seinerzeit das Wiederaufleben der Witwenversorgung durch Bescheid verneint worden wäre, weil das Nichtverschulden der Witwe an der Scheidung ihrer zweiten Ehe nicht dargetan war, und wenn dieser Bescheid trotz Verfassungswidrigkeit seiner Rechtsgrundlage rechtsbeständig geblieben wäre, dann wäre auch die Rücknahme eines früheren Leistungsgesuchs rechtswirksam. Dafür wäre es gleichgültig, daß die Rücknahmeerklärung von der unkorrekten Anregung eines Amtswalters beeinflußt war.
Dieses Argument ist an sich stichhaltig; es trifft aber nicht die hier zu beachtende Rechtslage. Diese ist nicht bloß durch § 79 Abs 2 BVerfGG, sondern auch, wie die Beigeladene bereits bemerkt hat, durch § 40 Abs 1 KOVVfG geprägt. Dort ist der Verwaltungsbehörde das Ermessen eingeräumt, zugunsten des Berechtigten jederzeit einen neuen Bescheid zu erteilen ("Zugunstenbescheid"). Davon hat die Versorgungsverwaltung für einschlägige Fälle generell mit Rundschreiben des BMA vom 27. Februar 1975 (BVBl 1975, 45 Nr 23) Gebrauch gemacht und Zugunstenbescheide vorgesehen, denen bis zu vier Jahren Rückwirkung beigelegt werden darf. Die Beigeladene erblickt in § 40 Abs 1 KOVVfG die "besondere gesetzliche Regelung", durch die nach § 79 Abs 2 BVerfGG ein Abweichen von dem Grundsatz vorbehalten ist, daß Hoheitsakte auch gegenüber dem Vorwurf der Grundrechtswidrigkeit unantastbar sind. Diese Auffassung stimmt indessen nicht, jedenfalls nicht uneingeschränkt, mit der Rechtsprechung des BSG überein (BSG in BVBl 1970, 128, 129). Aber auch dann, wenn § 40 Abs 1 KOVVfG nicht schon dem Vorbehalt des § 79 Abs 2 BVerfGG unterzuordnen ist, so schließt dies nicht aus, daß die Versorgungsverwaltung eine verbindlich gewordene Entscheidung beseitigen kann, welche auf einem verfassungsverletzenden Gesetz fußt. Der Vorrang, der in § 79 Abs 2 BVerfGG der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden vor dem Rechtsschutz des einzelnen gegeben wird (Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Ulsamer, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Kommentar, Rdnr 20 zu § 79), ist - darin ist der Beigeladenen beizupflichten - im Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung durchbrochen. Die konkrete Anwendung des § 40 Abs 1 KOVVfG in einem Falle wie diesem ist rechtlich auch in bezug auf § 79 Abs 2 BVerfGG nicht zu beanstanden. Wie sich die Rechtsfolge des § 79 Abs 2 BVerfGG, daß verbindlich gewordene Hoheitsakte der Vergangenheit in der Regel gültig bleiben, allgemein auf das Merkmal der Unrichtigkeit iS des § 40 Abs 1 KOVVfG auswirkt, ist hier nicht abschließend zu beantworten. Für die hier zu treffende Entscheidung kann es bei der in BSG BVBl 70, 128 f, vertretenen Rechtsauffassung sein Bewenden haben. Nach dieser Rechtsprechung würde die Verwaltungsbehörde unter den hier in Betracht zu ziehenden Umständen nicht durch richterliche Entscheidung angehalten werden können, wegen Unrichtigkeit des Vorentschiedenen eine Anspruchsberechtigung neu zu prüfen (vgl dazu ferner: BSGE 26, 146, 148 f; 29, 278, 281 f). Wenn aber die Versorgungsverwaltung, wie in diesem Falle, von sich aus in einem dem betroffenen Bürger günstigen Sinne abermals entscheidet, handelt sie im Rahmen ihrer Ermächtigung. Sie strebt eine angemessene Lösung in dem Konflikt zwischen der materiellen Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit an und erfüllt somit den Zweck des ihr eingeräumten Ermessens (zu dem Spielraum des Ermessens nach § 40 Abs 1 KOVVfG: BSG Urteil vom 21. März 1969 - 9 RV 476/67).
An dem Gebrauch ihres Ermessens ist die Verwaltung, wie oben ausgeführt, nicht deshalb gehindert, weil es an einem Versorgungsantrag fehle. Für dieses Fehlen trägt die Versorgungsbehörde wegen objektiver Verletzung ihrer Betreuungspflicht die Verantwortung. Die Rechtsfolge davon ist, daß der Beklagte das Fortbestehen des Antrags gegen sich gelten lassen muß. - Dieses Ergebnis widerstreitet nicht dem in BSGE 29, 186 veröffentlichten Urteil. Dort wurde entschieden, daß ein früherer Beginn der Versorgungsrente deshalb nicht zu rechtfertigen sei, weil die dem Leistungsanspruch entgegenstehende Norm durch das Bundesverfassungsgericht für nichtig erklärt worden sei. Der Sachverhalt jenes Rechtsstreits unterscheidet sich von dem hier zu beurteilenden in einem wesentlichen Kriterium. In jenem Falle hatte der Kläger im Vertrauen auf die Verfassungsmäßigkeit der später mißbilligten Norm die Leistung gar nicht erst beantragt. Damals begehrte der Kläger also ohne die grundsätzlich erforderlich voraufgegangene Anmeldung des Anspruchs die Rente rückwirkend. Hier war hingegen der Antrag wirksam gestellt. Seiner nahm sich die Behörde nur, wie sich nachträglich herausstellte, dem Recht zuwider an. Daß dies im Wege einer schlichten Verwaltungsäußerung und nicht in einem Verwaltungsakt geschah, ist ohne Bedeutung. Der Erfolg ist der gleiche; die Verwaltungsäußerung entspricht, wenn auch über ein hierauf eingehendes Verhalten der Klägerin, in ihrer Wirkung einem fehlerhaften, belastenden Verwaltungsakt. Der dadurch hervorgerufene Nachteil ist auszugleichen (vgl Bley, SGB - Gesamtkommentar, Vorbemerkungen zu I § 13 bis 15, S 163).
Andererseits ist die Vorverlegung des Rentenbeginns nicht einfach durch Richterspruch anzuordnen. Damit würde der Klägerin mehr zugesprochen, als sie im Falle eines - ihren früheren Antrag ablehnenden - Bescheides zu verlangen hätte. So wie ein solcher Bescheid lediglich nach pflichtgemäßem Verwaltungsermessen zu überprüfen wäre (§ 40 Abs 1 KOVVfG) und im Klagewege auch nur dieses Tätigwerden der Verwaltung gefordert werden könnte, so ist auch jetzt der Verwaltung lediglich aufzugeben, die Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 131 Abs 2 SGG).
Hiernach sind die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1653416 |
Breith. 1980, 308 |