Entscheidungsstichwort (Thema)
Beitragsnachentrichtung. Wiedergutmachung. konkrete Verfolgungsmaßnahme
Orientierungssatz
An dem Erfordernis der konkreten Verfolgungsmaßnahme ist festzuhalten, weil die weitergehende Abgrenzung der Zielsetzung des Gesetzgebers nicht gerecht werden würde, die Beitragsnachentrichtung nach WGSVG §§ 9, 10 nur solchen Personen zu ermöglichen, die ihr Beschäftigungsverhältnis wegen der Verfolgung haben aufgeben müssen (Festhaltung an BSG 1979-04-04 12 RK 7/78 = SozR 5070 § 9 Nr 3).
Normenkette
WGSVG §§ 9-10
Verfahrensgang
LSG Hamburg (Entscheidung vom 15.02.1979; Aktenzeichen V JBf 117/77) |
SG Hamburg (Entscheidung vom 05.07.1977; Aktenzeichen 19 J 595/76) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin nach der Beendigung ihres letzten Beschäftigungsverhältnisses bis zu ihrer Auswanderung Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt gewesen ist, die sie jetzt zur Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) berechtigen.
Die 1918 geborene Klägerin ist rassisch Verfolgte. Sie besuchte in Marktbreit die Volksschule und anschließend eine weiterführende Schule, die sie 1935 ohne Abschluß verließ. Da sie für die danach beabsichtigte Ausbildung als Schneiderin oder Verkäuferin keine Lehrstelle finden konnte, lebte sie zunächst im Hause der Eltern. Vom 1. Juli 1937 an war sie als Hausgehilfin im Hause des jüdischen Lehrers B (B) in Marktbreit versicherungspflichtig beschäftigt. Als dieser auswanderte, endete ihr Arbeitsverhältnis am 30. März 1939. Danach lebte die Klägerin bis zu ihrer eigenen Auswanderung nach Großbritannien Anfang September 1939 wiederum im Hause der Eltern, in deren Haushalt sie mithalf und von denen sie ein Taschengeld erhielt. Seit Juni 1949 ist die Klägerin britische Staatsangehörige.
Die Beklagte gewährt der Klägerin ab Mai 1974 eine Rente wegen Berufsunfähigkeit. Der Rentenberechnung legte sie dabei eine Versicherungszeit von mehr als 60 Kalendermonaten - einschließlich einer Ersatzzeit vom 5. September 1939 bis zum 31. Dezember 1949 - zugrunde. Hingegen lehnte sie den im Februar 1972 gestellten Antrag der Klägerin, sie zur Nachentrichtung von Beiträgen gemäß § 10 WGSVG zuzulassen, mit der Begründung ab, es könne nicht festgestellt werden, daß das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis der Klägerin bei dem Lehrer B verfolgungsbedingt beendet worden sei (Bescheid vom 3. Januar 1975; Widerspruchsbescheid vom 2. Juni 1976).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 5. Juli 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, die Klägerin zur Beitragsnachentrichtung zuzulassen: Ein Arbeitsverhältnis sei auch dann aus verfolgungsbedingten Gründen beendet worden, wenn ein jüdischer Arbeitnehmer durch Verfolgungsmaßnahmen - auch wenn diese nicht gegen einzelne Personen gerichtet gewesen seien - seinen Arbeitsplatz verloren habe. § 9 WGSVG erfordere nur eine "schlichte" Kausalität und keine konkrete Verfolgungsmaßnahme gegen den Betroffenen. Überdies sei ein Beschäftigungsverhältnis auch dann verfolgungsbedingt unterbrochen oder beendet worden, wenn danach die Suche nach einer neuen Tätigkeit aus Verfolgungsgründen ergebnislos bleiben mußte und deshalb die Bemühungen um einen neuen Arbeitsplatz entweder von vornherein unterblieben oder alsbald aufgegeben worden sind. Für den Fall der Klägerin sei wahrscheinlich, daß sie nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei dem Lehrer B auch als Hausgehilfin praktisch keine Arbeitsmöglichkeit mehr gehabt habe und danach auch im Elternhaus nicht aufgrund eines Arbeitsverhältnisses tätig gewesen sei, sondern nur während der Vorbereitung ihrer Auswanderung im familiären Verhältnis im Haushalt mitgeholfen habe.
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene - Revision der Beklagten. Sie macht geltend, das LSG habe mit seiner begrifflichen Abgrenzung das Erfordernis einer konkreten Verfolgungsmaßnahme entgegen der Zielsetzung des § 9 WGSVG praktisch aufgegeben.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Hamburg vom 15. Februar 1979
aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligte haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet; das LSG hat zu Recht die Nachentrichtungsberechtigung der Klägerin nach § 10 WGSVG angenommen.
§ 10 WGSVG eröffnet Verfolgten, die nach § 9 WGSVG zur Weiterversicherung berechtigt sind, ein besonders ausgestaltetes Nachentrichtungsrecht. In § 9 WGSVG ist bestimmt, daß - soweit hier von Bedeutung - Verfolgte mit einer Versicherungszeit von mindestens 60 Kalendermonaten zur Weiterversicherung berechtigt sind, deren rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendigt worden ist. Es kommt also, wie das LSG zutreffend angenommen hat, auf die Abgrenzung des Begriffes "Verfolgungsgründe" in § 9 WGSVG an. Diesen Begriff hat das LSG zu weit abgegrenzt. Der erkennende Senat hat - übereinstimmend mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes -BGH- (vgl BGH LM Nr 27 zu § 1 BEG 1956; LM Nrn 36 und 47 zu § 64 BEG 1956; LM Nr 40 zu § 2 BEG 1956) in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß Verfolgter im Sinne des § 1 WGSVG ist, wer die Voraussetzungen der §§ 1, 2 Bundesentschädigungsgesetz -BEG- erfüllt, also seinen Arbeitsplatz durch konkrete Verfolgungsmaßnahmen verloren hat (Urteil vom 13. Juli 1978 - 12 RK 3/77 - nicht veröffentlicht; Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 7/78 -, SozR 5070 § 9 Nr 3; Urteil vom 10. Dezember 1979 - 12 RK 2/78 -, SozR 5070 § 10 Nr 11). Insbesondere verkennt das LSG die Bedeutung des Urteils vom 13. Juni 1978 - 12 RK 3/77 -, wenn es meint, der erkennende Senat habe darin das Erfordernis der Kausalität einer konkreten Verfolgungsmaßnahme aufgegeben. Der Senat hat in dieser Entscheidung, deren Inhalt in dem veröffentlichten Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 7/78 - (aaO) im wesentlichen wiederholt worden ist, vielmehr nur den Begriff der konkreten Verfolgungsmaßnahme weiter abgegrenzt und ihn nicht allein auf den Fall eines unmittelbaren Eingriffes in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt, sondern auch auf solche Fälle erstreckt, in denen eine allgemeine Verfolgungsgefahr vorlag, die es erwarten ließ, daß der Einzelne in absehbarer Zeit von einer (konkreten) Verfolgungsmaßnahme betroffen worden wäre. An dem Erfordernis der konkreten Verfolgungsmaßnahme ist auch festzuhalten, weil, wie der Senat schon in dem Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 7/78 - (aaO) ausführlich dargelegt hat, die weitergehende Abgrenzung der Zielsetzung des Gesetzgebers nicht gerecht werden würde, die Beitragsnachentrichtung nach §§ 9, 10 WGSVG nur solchen Personen zu ermöglichen, die ihr Beschäftigungsverhältnis wegen der Verfolgung haben aufgeben müssen.
Die Entscheidung des LSG beruht aber nicht auf seiner zu weiten Abgrenzung des Verfolgungsbegriffes. Vielmehr hat das LSG den Sachverhalt unter Zugrundelegung des konkreten Verfolgungsbegriffes in nicht zu beanstandender Weise subsumiert. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß die Nichtaufnahme einer Arbeit nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes als konkrete Verfolgungsmaßnahme gegen den Betroffenen anzusehen ist, wenn dies wegen der Unmöglichkeit der Wiedererlangung eines Arbeitsplatzes aus rassischen Gründen oder zur Vorbereitung der Auswanderung erfolgt ist (Urteil vom 4. April 1979 - 12 RK 7/78 - aaO -; vgl auch Urteil des 4. Senats des BSG vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 39/77 -, SozR 2200 § 1251 Nr 43). Diese Abgrenzung steht nicht im Widerspruch zu dem Erfordernis der Ursächlichkeit eines konkreten Verfolgungsdruckes, weil sie nur auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem - vorläufigen oder endgültigen - Ende der versicherungspflichtigen Beschäftigung und den Beginn der Verfolgungszeit verzichtet (Urteil vom 10. Dezember 1979 - 12 RK 2/78 -, aaO).
Nach den von der Beklagten nicht angegriffenen und daher für den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG hat auch die Klägerin nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei dem Lehrer B im März 1939 unter einem konkreten Verfolgungsdruck in diesem Sinne gestanden. Das LSG hat zunächst festgestellt, daß die Klägerin nach dem Verlust des Arbeitsplatzes bei B ihre Absicht, eine neue Arbeitsstelle als Hausgehilfin zu finden, wegen der - vom LSG im einzelnen dargelegten - Intensität der Verfolgungsmaßnahmen gegen jüdische Mitbürger im Frühjahr und Sommer 1939 nicht verwirklichen konnte und daß auch die Rückkehr der Klägerin ins Elternhaus bis zu ihrer Auswanderung Anfang September 1939 nicht im Zusammenhang mit der Begründung eines Arbeitsverhältnisses oder eines entsprechend zu beurteilenden Beschäftigungsverhältnisses mit den Eltern stand, sondern daß das Elternhaus nur Zufluchtstätte der Klägerin war, von der aus sie ihre Auswanderung betrieben hat. Schließlich läßt auch die kurze Zeitspanne zwischen dem Verlust des Arbeitsplatzes und dem Zeitpunkt der Auswanderung von nur rund 5 Monaten erkennen, daß die Klägerin alsbald nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei B mit den Vorbereitungen ihrer Auswanderung begonnen haben muß. Demgemäß ist auch die Schlußfolgerung des LSG zutreffend, daß die Nichtaufnahme einer Beschäftigung nach der Beendigung des letzten Arbeitsverhältnisses die Folge einer gegen die Klägerin wirksam gewordenen konkreten Verfolgungsmaßnahme gewesen und die Klägerin deshalb zur Beitragsnachentrichtung gemäß § 10 WGSVG berechtigt ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen