Orientierungssatz
Beitragsnachentrichtung - verfolgungsbedingte Beendigung versicherungspflichtiger Beschäftigung - Verfolgungsgefahr - Verfolgungsmaßnahme - Judenboykott
Die Anwendbarkeit des § 9 WGSVG setzt nicht voraus, daß sich an die frühere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unmittelbar eine Zeit verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit oder eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes anschließt. Es genügt vielmehr eine Unterbrechung oder Beendigung" aus Verfolgungsgründen" (vgl BSG 1979-10-12 12 RK 2/78 = BSGE 49, 81). Allerdings kann eine verfolgungsbedingte Aufgabe einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nur so lange fortwirken, wie die Gründe hierfür weiterbestehen. Dies ist nicht nur bei Wiederaufnahme der alten oder einer neuen versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr der Fall, sondern auch dann, wenn der beschäftigungslose Verfolgte eine ihm zugängliche und zumutbare anderweitige versicherungspflichtige Beschäftigung nicht aufnimmt. Von diesem Zeitpunkt ab kann die Beendigung oder Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr ursächlich auf die Verfolgung bezogen werden.
Normenkette
WGSVG § 9 Fassung: 1970-12-22, § 10 Fassung: 1970-12-22
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 17.05.1978; Aktenzeichen L 15 An 15/77) |
SG Berlin (Entscheidung vom 09.02.1977; Aktenzeichen S 1 An 3002/75) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin zur Nachentrichtung von Beiträgen nach den §§ 9, 10 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung vom 22. Dezember 1970 (WGSVG) berechtigt ist.
Die am 28. Februar 1914 geborene Klägerin ist Jüdin. In zwei Versicherungskarten sind Beiträge zur Angestelltenversicherung für die Zeit vom 30. Juni 1927 bis 31. Mai 1931 nachgewiesen. Darüber hinaus erkannte die Beklagte eine weitere Beitragszeit bis 31. März 1933 an. Während dieser Zeit war die Klägerin in dem Kurzwarengeschäft des Fräulein U, einer Kusine ihrer Mutter, in Schnaittach/Mittelfranken als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Nach ihren Angaben beendete sie diese Beschäftigung wegen des Judenboykotts am 1. April 1933, denn auch ihre Arbeitgeberin sei als Jüdin verfolgt und schließlich durch NS-Maßnahmen umgebracht worden. Am 23. Juni 1938 wanderte die Klägerin nach den USA aus. Den Zeitraum von der Auswanderung bis zum 31. Dezember 1949 erkannte die Beklagte als verfolgungsbedingte Ersatzzeit an.
Mit Bescheid vom 29. April 1974 und Widerspruchsbescheid vom 27. November 1975 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin vom 12. Mai 1972 auf Nachentrichtung von Beiträgen nach § 10 WGSVG mit der Begründung ab, die Verfolgung der Arbeitgeberin sei nicht ursächlich für die Aufgabe der Beschäftigung gewesen. Eine andere Angestellte habe noch bis 1937 im Geschäft gearbeitet. Klage und Berufung der Klägerin sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 9. Februar 1977; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 17. Mai 1978). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, die Klägerin habe ihre versicherungspflichtige Beschäftigung bei Fräulein U nicht aus Verfolgungsgründen unterbrochen oder beendet. Gegen sie oder ihre Arbeitgeberin gerichtete individuelle Verfolgungsmaßnahmen hätten nicht vorgelegen. Der allgemeine Verfolgungsdruck reiche nicht aus. Die angegebene Furcht vor den Folgen des für den 1. April 1933 aufgerufenen Judenboykotts hat das LSG auf allgemeine Verfolgungsmaßnahmen bezogen. Die Klägerin sei nicht im Hinblick auf den Judenboykott oder wegen dessen Folgen entlassen worden, sondern habe ihre Arbeitsstelle selbst verlassen.
Mit der - vom Senat durch Beschluß vom 17. Juli 1979 zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und (sinngemäß) der §§ 9, 10 WGSVG. Das LSG habe die wirtschaftliche Entwicklung der jüdischen Firma nach dem Boykottag ermitteln müssen, um daraus Schlüsse ziehen zu können, ob die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum Zeitpunkt des Boykottages verfolgungsbedingt gewesen sei. Aus den überreichten Zeitungsartikeln sei zu ersehen gewesen, daß die jüdischen Geschäfte die nichtjüdischen Arbeitnehmer nicht haben entlassen dürfen, wohl aber die jüdischen. Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 39/77 -, von dem das LSG abgewichen sei, sei es ein Indiz für eine verfolgungsbedingte Aufgabe des Arbeitsverhältnisses, wenn eine jüdische Arbeitskraft anläßlich des Boykottages ersatzlos ausgeschieden sei. Die Klägerin bringt außerdem vor, sie sei nicht nur wegen der wirtschaftlichen Seite des Boykotts, sondern auch wegen der Angst vor persönlichen Angriffen im Zusammenhang mit den Boykottmaßnahmen in das ihr sicherer erscheinende Elternhaus in einem anderen Ort zurückgekehrt.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des LSG sowie den Bescheid der Beklagten
vom 29. April 1974 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides
vom 27. November 1975 aufzuheben und die Beklagte
zu verpflichten, die Nachentrichtung von Beiträgen
nach §§ 9, 10 WGSVG zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht.
Die vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen reichen nicht aus, über den streitigen Anspruch der Klägerin auf Nachentrichtung von Beiträgen nach §§ 9, 10 WGSVG zu entscheiden. Auch rechtlich kann das Urteil des LSG keinen Bestand haben, weil es auf einer unrichtigen Anwendung der genannten Vorschriften beruht.
Das LSG hat in den von der Klägerin vorgebrachten Umständen, über die nur teilweise tatsächliche Feststellungen getroffen wurden, keine für eine verfolgungsbedingte Beendigung oder Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausreichende individuelle Verfolgungsmaßnahme gesehen. Dem kann nicht gefolgt werden.
Wie das BSG im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) bereits entschieden hat (vgl SozR 2200 § 1251 Nr 43), ist ein jüdischer Arbeitnehmer, der von seinem jüdischen Arbeitgeber infolge der Auswirkungen des Boykotts entlassen wurde, selbst durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen geschädigt worden. Die Klägerin hat behauptet, daß sie ihren Arbeitsplatz wegen des bevorstehenden Boykotts verloren habe. Das LSG durfte dies allein aufgrund der unergiebigen Aussage der Zeugin B nicht verneinen. Durch das Nichtwissen dieser Zeugin ist nichts widerlegt, so daß zumindest hätte versucht werden müssen, weitere Zeugen ausfindig zu machen. Auch hätte die Zeugin B über die wirtschaftliche Situation des Geschäftes von Fräulein U in der Zeit nach dem Boykott befragt werden müssen, weil hieraus, ggf im Zusammenwirken mit zeitgeschichtlichen Ermittlungen, Rückschlüsse auf eine etwaige Notwendigkeit, jüdische Mitarbeiter zu entlassen bzw nicht wieder einzustellen, gezogen werden könnten. Das LSG wird alle Ermittlungsmöglichkeiten ausschöpfen müssen, um die mit dem Judenboykott zusammenhängenden Verhältnisse in der damaligen Zeit in Schnaittach aufzuklären, um beurteilen zu können, ob die Klägerin iS der genannten Rechtsprechung ihren Arbeitsplatz verfolgungsbedingt verloren hat. Dabei wird es auch zu berücksichtigen haben, daß nach der inzwischen ergangenen Rechtsprechung des Senats der Begriff der konkreten Verfolgungsmaßnahme iS von § 9 WGSVG und § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) dahin verdeutlicht wurde, daß er nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt ist. Eine konkrete Verfolgung liegt vielmehr auch dort vor, wo eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, daß der einzelne in absehbarer Zeit von Verfolgungsmaßnahmen betroffen wird und er sich dieser Gefahr entzieht, was nicht nur durch Auswanderung, sondern auch auf andere Weise geschehen kann (BSG SozR 5070 § 9 Nr 3 mwN). Im Falle der Klägerin ist deshalb zu prüfen, ob die damaligen Zeitumstände, insbesondere der in den Tageszeitungen veröffentlichte Boykott-Aufruf, bei verständiger Würdigung geeignet waren, ein 19-jähriges Mädchen, das außerhalb des Elternhauses in unmittelbarer Nähe des für seine Judenhetze berüchtigten Herausgebers des "Stürmer" beschäftigt war, in Angst und Schrecken zu versetzen und - subjektiv verständlich - zu veranlassen, in den tatsächlich oder auch nur vermeintlich größeren Schutz des Elternhauses zurückzukehren. Trifft dies zu, worauf die Angaben der Klägerin hindeuten, dann wäre ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Aufgabe des Arbeitsplatzes am 31. März 1933 und einer Verfolgungsmaßnahme gegeben. Dem steht nicht entgegen, daß die Klägerin bis zu der im Jahre 1938 erfolgten Auswanderung nicht wieder eine versicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen hat. Die Anwendbarkeit des § 9 WGSVG setzt nicht voraus, daß sich an die frühere rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit unmittelbar eine Zeit verfolgungsbedingter Arbeitslosigkeit oder eines verfolgungsbedingten Auslandsaufenthaltes anschließt. Es genügt vielmehr eine Unterbrechung oder Beendigung "aus Verfolgungsgründen" (Urteil des Senats vom 12. Oktober 1979 - 12 RK 2/78 - zur Veröffentlichung bestimmt). Allerdings kann eine verfolgungsbedingte Aufgabe einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nur so lange fortwirken, wie die Gründe hierfür weiterbestehen. Dies ist nicht nur bei Wiederaufnahme der alten oder einer neuen versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr der Fall, sondern auch dann, wenn der beschäftigungslose Verfolgte eine ihm zugängliche und zumutbare anderweitige versicherungspflichtige Beschäftigung nicht aufnimmt. Von diesem Zeitpunkt ab kann die Beendigung oder Unterbrechung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht mehr ursächlich auf die Verfolgung bezogen werden. Auch hierzu fehlen in dem angefochtenen Urteil hinreichende tatsächliche Feststellungen.
Das LSG wird nach Ergänzung der Sachaufklärung unter Beachtung der dargelegten Rechtsauffassung erneut zu entscheiden haben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen