Leitsatz (redaktionell)

Nach der Rechtsprechung des 11. Senats, der sich der 10. Senat in vollem Umfange anschließt, gilt bei Einlegung der Berufung vor dem 1958-07-01 das im Zeitpunkt der Einlegung in Kraft gewesene Prozeßrecht.

Als abgeschlossener prozessualer Tatbestand ist die Berufung selbst anzusehen, die als Prozeßhandlung mit der Einlegung bei der zuständigen Stelle abgeschlossen ist.

 

Normenkette

SGG § 216 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1958-06-25, § 145 Fassung: 1958-06-25, § 148 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 11. November 1959 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Landessozialgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Das Versorgungsamt (VersorgA) B hatte die dem Kläger am 23. Oktober 1952 bewilligte Waisenausgleichsrente durch Bescheid vom 12. November 1955 entzogen, weil es der Meinung war, soweit das Einkommen der Mutter des Klägers den Betrag von 300.- DM übersteige, stehe es für dessen Unterhalt zur Verfügung und sei daher auf die Ausgleichsrente anzurechnen. Gleichzeitig verlangte das VersorgA die Erstattung der nach seiner Meinung zu viel gezahlten Ausgleichsrente in Höhe von 229.- DM. Der Widerspruch wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat der Klage, mit der lediglich die Aufhebung des Erstattungsbescheids begehrt worden war, durch Urteil vom 17. April 1957 entsprochen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die am 14. Mai 1957 eingelegte Berufung des Beklagten durch Urteil vom 11. November 1959 verworfen. Es hielt sie nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in der ab 1. Juli 1958 geltenden Fassung (nF) des Zweiten Gesetzes zur Änderung (ÄndG) des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I S. 409) nicht mehr für statthaft. Das LSG meinte, entsprechend allgemein anerkannten Grundsätzen gelte das neue Verfahrensrecht auch für die bereits anhängigen Berufungen. Dessen Anwendung auf solche Fälle sei durch das ÄndG zum SGG auch nicht ausgeschlossen worden; sie ergebe sich insbesondere auch aus dem Entlastungszweck dieses Gesetzes und der durch dieses Gesetz vorübergehend eingefügten Vorschrift des § 216 Abs. 1 Nr. 3 SGG. Der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) in den Urteilen vom 4. September 1958 - 11/9 RV 1144/55 - (BSG 8, 135) und vom 10. Dezember 1958 - 11/8 RV 983/56 - (SozR SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 3), daß die vor dem 1. Juli 1958 eingelegten Berufungen als bereits abgeschlossene Prozeßhandlungen noch nach altem Verfahrensrecht zu beurteilen seien, könne nicht gefolgt werden, da als abgeschlossene prozessuale Tatbestände nur Frist und Form der Berufung, aber nicht der Beschwerdegegenstand angesehen werden könne, der sich im Laufe des mit der Einlegung der ... Berufung nicht abgeschlossenen Verfahrens ändern könne. Die Auffassung, daß neue Verfahrensvorschriften nicht für die vor ihrem Inkrafttreten eingelegten Rechtsmittel gelten, könne den vom BSG erwähnten Urteilen des Reichsgerichts (RG) vom 4. November 1924 (JW 1925, 362) und vom 3. Februar 1932 (RG 135, 123) nicht entnommen werden, weil diese andere Fälle beträfen. Die Revision wurde zugelassen.

Der Beklagte hat gegen das am 14. Januar 1960 zugestellte Urteil am 19. Januar 1960 Revision eingelegt und beantragt,

die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

In der Revisionsbegründung, die gleichzeitig eingegangen ist, rügt der Beklagte, daß die Berufung als unzulässig verworfen worden ist. Sie sei am 14. Mai 1957 eingelegt worden und damit sei die Prozeßhandlung abgeschlossen gewesen. Für diese gelte daher entsprechend der Rechtsprechung des BSG und den Ausführungen von Haueisen in NJW 1958, 1067 Anm. 32 nicht die Fassung, die § 149 SGG vom 1. Juli 1958 an durch das Zweite ÄndG zum SGG erhalten habe. Nach § 149 SGG aF sei aber die Berufung in diesem Falle nicht ausgeschlossen gewesen und das LSG hätte eine Entscheidung in der Sache selbst treffen müssen.

Der Kläger hat beantragt,

die Revision des Beklagten gegen das Urteil des LSG Berlin vom 11. November 1959 als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger hält die Auffassung des LSG für zutreffend, die im übrigen auch von Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 zu § 149 SGG erwähnt und von Peters in "Die Ortskrankenkasse" 1958, 358 vertreten worden sei.

Die zugelassene Revision ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthaft und, da sie der Beklagte frist- und formgerecht eingelegt und begründet hat, zulässig (§§ 164, 166 SGG). Die Revision ist auch begründet. Zu Recht rügt der Beklagte, das LSG habe die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen, sondern in der Sache selbst entscheiden müssen.

Nach § 149 SGG i. d. F. des Zweiten ÄndG zum SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl I S. 409) ist die Berufung ab 1. Juli 1958 nicht statthaft bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen, wenn der Beschwerdewert 500.- DM nicht übersteigt; vor dem 1. Juli 1958 ist die Berufung bei solchen Streitigkeiten ohne Rücksicht auf den Beschwerdewert statthaft gewesen. Der Beklagte hat die Berufung vor dem 1. Juli 1958 eingelegt, der Beschwerdewert beträgt 229.- DM. Nach der Rechtsprechung des 11. Senats des BSG (BSG 8, 135; Urteil vom 10. Dezember 1958, SozR SGG § 143 Bl. Da 2 Nr. 3), der sich der erkennende Senat in vollem Umfange anschließt, ist in derartigen Fällen das Prozeßrecht anzuwenden, das im Zeitpunkt der Einlegung der Berufung gegolten hat.

Die Erwägungen des LSG bieten keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Wenn neues Verfahrensrecht grundsätzlich auch schwebende Prozesse ergreift, so bedeutet dies nur, daß nach altem Verfahrensrecht begonnene Prozesse nach neuem zu Ende zu führen sind. Neue Vorschriften über die Zulässigkeit eines Rechtsmittels sind dagegen nur auf die Rechtsmittel anzuwenden, die nach dem Inkrafttreten dieser Vorschriften eingelegt worden sind (Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufs., § 6 I S. 24 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung des RG und des BGH). Dies gilt auch, wenn die Voraussetzungen der Statthaftigkeit eines nach altem Verfahrensrecht wirksam eingelegten Rechtsmittels später geändert worden sind. Abgeschlossene prozessuale Tatbestände - und dazu gehört auch die Einlegung einer Berufung - werden, sofern im Gesetz nicht ausdrücklich etwas anderes bestimmt ist, durch ein neues Gesetz nicht erfaßt (BSG aaO; Baumbach, Lauterbach ZPO 26. Aufl., Einl. III 9, Haueisen in NJW 1958, 1067 Anm. 32; Brackmann in WzS 1958, 293; Glücklich in SGb 1958, 289). Deshalb kann der Senat dem LSG nicht dahin folgen, daß ab 1. Juli 1958 die neuen Vorschriften über die Statthaftigkeit der Berufung deshalb in allen bereits anhängigen Verfahren Anwendung finden, weil das ÄndG dies nicht ausdrücklich ausgeschlossen hat. Vielmehr hätte der Gesetzgeber, wenn er das neue Recht rückwirkend auch auf abgeschlossene prozessuale Tatbestände zur Anwendung bringen wollte, dies im Gesetz ausdrücklich vorsehen müssen.

Der Senat kann dem LSG auch nicht folgen, soweit es seine Ansicht aus Inhalt und Zweck des ÄndG herleiten will. Wenn der mit der Änderung der §§ 145 ff SGG, insbesondere der §§ 148 und 149, durch das Zweite ÄndG verfolgte Zweck auch der gewesen ist, die Möglichkeiten der Berufung einzuschränken und die Landessozialgerichte zu entlasten, so ist damit noch nicht gesagt, daß zu diesem Zweck den Klägern Rechtsmittel, die bei der Einlegung statthaft waren, rückwirkend entzogen werden sollten, zumal die Entlastung schon weitgehend durch andere Einschränkungen erreicht wurde, die ab 1. Juli 1958 eingetreten sind. Die Auffassung des LSG läßt sich auch nicht auf die durch das ÄndG eingefügte Vorschrift des § 216 Abs. 1 Nr. 3 SGG stützen, die vorübergehend vom 1. Juli 1958 bis zum 31. Dezember 1960 die Möglichkeit bot, in bestimmten Fällen und unter bestimmten Voraussetzungen über Berufungen statt durch Vorbescheid (§ 105 SGG) oder durch Urteil auch durch einstimmigen Beschluß ohne Zuziehung der Landessozialrichter zu entscheiden. Es ist richtig, daß diese Möglichkeit entsprechend den allgemeinen Grundsätzen des Prozeßrechts auch für die weitere prozessuale Behandlung der Berufungen galt, die vor dem 1. Juli 1958 eingelegt, aber noch anhängig waren. Dies folgt aber gerade daraus, daß diese Regelung nicht die Voraussetzungen der Zulässigkeit dieses Rechtsmittels, sondern den weiteren Ablauf des mit der Einlegung der Berufung eröffneten Verfahrens betraf.

Soweit das LSG der Auffassung des BSG entgegenhält, mit der Einlegung der Berufung bleibe das Verfahren anhängig und werde nicht abgeschlossen, als abgeschlossene prozessuale Tatbestände seien nur die Frist und Form der Berufung, aber nicht der Beschwerdewert anzusehen, der sich im Laufe des Verfahrens ändern könne, hat es verkannt, daß als abgeschlossener prozessualer Tatbestand nicht das mit der Berufung eingeleitete Verfahren, sondern die Berufung des Beteiligten selbst anzusehen ist, die als Prozeßhandlung mit der Einlegung bei der zuständigen Stelle abgeschlossen ist. Voraussetzungen der Rechtswirksamkeit dieses Rechtsmittels sind aber nicht nur Frist und Form der Berufung, sondern, soweit vorgesehen, auch das Tatbestandsmerkmal der Statthaftigkeit, zu dem der Beschwerdewert gehört.

Dem LSG war auch nicht insoweit beizutreten, als es meint, der Grundsatz, daß für bereits anhängige Rechtsmittel noch altes Verfahrensrecht gelte, könne nicht auf die Urteile des RG vom 4. November 1924 (JW 1925 S. 363 Nr. 16) und vom 3. Februar 1932 (RGZ 135, 121, 123) gestützt werden. Wenn in diesen Urteilen auch der erwähnte Grundsatz nicht wörtlich zum Ausdruck gekommen ist, so läßt doch der Inhalt der Urteile keinen Zweifel übrig, daß das RG von den allgemeinen Grundsätzen des Prozeßrechts ausgegangen ist, wonach für die Beurteilung der Zulässigkeit eines Rechtsmittels grundsätzlich das Recht anzuwenden ist, das zur Zeit der Einlegung des Rechtsmittels gilt. Lediglich weil in dem vom RG am 4. November 1924 entschiedenen Fall die Revision erst gültig nach der Rechtsänderung eingelegt worden und die abweichende Übergangsvorschrift der früheren Entlastungsverordnung nicht anzuwenden war, hat das RG in diesem Fall das neue Recht angewendet, und in dem am 3. Februar 1932 entschiedenen Fall hat das RG nur deshalb das alte Recht angewendet, weil in der Übergangsvorschrift die Anwendung des alten Rechts für alle anhängigen Verfahren vorgesehen war, also auch für Fälle, in denen bei Einlegung des Rechtsmittels das neue Recht schon in Kraft getreten war.

Die Auffassung des Senats kann auch nicht durch den Hinweis des Revisionsbeklagten auf Ausführungen im Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit von Peters-Sautter-Wolff § 149 Anm. 2 zu der Änderung des § 149 SGG in Frage gestellt werden. Diese Kommentatoren meinen zwar, daß das Zweite Änderungsgesetz zum SGG keine inhaltliche Änderung insbesondere der §§ 145 - 148 gebracht habe und schon immer die Beschwer in der Berufung und nicht der Inhalt des angefochtenen Urteils für die Zulässigkeit der Berufung maßgebend gewesen sei. Daher ist für sie die Frage nach der Anwendbarkeit der Vorschriften des Zweiten Änderungsgesetzes auf die beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits eingelegten Berufungen keine Frage, ob altes oder neues Recht anzuwenden ist. Soweit aber auch nach Auffassung dieser Kommentatoren der § 149 SGG durch das Zweite Änderungsgesetz inhaltlich geändert worden ist, gaben auch sie der Auffassung den Vorzug, daß für die am 1. Juli 1958 bereits anhängigen Berufungen die Regelungen maßgebend geblieben sind, die vorher gegolten haben (Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, § 149 Anm. 2 bis 3). Auch soweit sich der Revisionsbeklagte auf die Ausführungen von Peters (Die Ortskrankenkasse 1958, 358), beruft, welcher der Auffassung ist, daß eine vor dem 1. Juli 1958 eingelegte und damals zulässige Berufung nach § 149 SGG nF als unzulässig verworfen werden müsse, weil für den Ausschluß der Berufung im allgemeinen die zur Zeit der Entscheidung geltenden Vorschriften in Betracht kämen, kann dieser Hinweis den Senat nicht in seiner Ansicht beeinflussen. Abgesehen davon, daß dieser Autor seine Auffassung selbst nicht näher begründet hat, geht seine Bezugnahme auf BSG 1, 66 deshalb fehl, weil die Ausführungen des BSG an dieser Stelle offensichtlich nur allgemein auf die Auslegung der Übergangsvorschrift § 215 Abs. 3 SGG zugeschnitten sind, und die Bezugnahme auf RGZ 168, 355 und BGHZ 1, 29 geht deshalb fehl, weil diese Entscheidungen sich nur mit der Frage befassen, ob eine Minderung des Beschwerdegegenstandes durch Handlungen der Beteiligten auf die Zulässigkeit eines bereits eingelegten Rechtsmittels von Einfluß sind, nicht aber mit der Frage, ob durch die Änderung einer Prozeßvorschrift ein bei Einlegung zulässiges Rechtsmittel unzulässig werden kann.

Im vorliegenden Fall war somit § 149 SGG i. d. F. vor Inkrafttreten des Zweiten ÄndG zum SGG anzuwenden. Nach dieser Fassung des § 149 SGG war die Berufung aber im vorliegenden Fall nicht ausgeschlossen, weil erst durch die Neufassung dieser Vorschrift die Berufung bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen bei einem Beschwerdewert bis 500 DM ausgeschlossen worden ist. Das LSG hat sonach die seinerzeit grundsätzlich nach § 143 SGG zulässige Berufung nicht durch Prozeßurteil als unzulässig verwerfen dürfen, sondern ein Sachurteil erlassen müssen. Sei Urteil war daher aufzuheben. Gleichzeitig war die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG), da das LSG tatsächliche Feststellungen nicht getroffen hat.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324581

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