Leitsatz (amtlich)

Eine bei Einlegung zulässige Berufung, die einen Anspruch auf Rückerstattung von Leistungen betrifft, wird nicht dadurch unzulässig, daß im Zeitpunkt der Entscheidung nach SGG § 149 idF vom 1958-08-23 (BGBl 1 613) eine zulässige Berufung hierwegen nicht mehr eingelegt werden könnte (Anschluß BSG 1958-09-04 11/9 RV 1144/55 = BSGE 8, 135).

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Der allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach neues Verfahrensrecht in der Regel sofort auf alle anhängigen Sachen anzuwenden ist, gilt für gesetzliche Rechtsmittelbeschränkungen grundsätzlich nicht.

2. Gesetzliche Rechtsmittelbeschränkungen, die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung noch nicht bestanden haben, sind bei Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsmittels außer acht zu lassen, soweit ihnen vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich Rückwirkung beigelegt ist.

3. Das SGGÄndG 2 vom 1958-06-25 (BGBl I 1958, 409) hat zwar nach dem Willen des Gesetzgebers der Überlassung der Sozialgerichtsbarkeit entgegenwirken sollen, indessen rechtfertigt dieser Gesichtspunkt nicht die Anwendung des SGG § 149 nF auf bei seinem Inkrafttreten bereits anhängige Berufungen.

 

Normenkette

SGG § 149 Fassung: 1958-08-23

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. November 1958 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Beklagte hatte dem Kläger wegen verschiedener, Erwerbsunfähigkeit bedingender Schädigungsfolgen durch Bescheid vom 19. März 1951 Grundrente von 75,- DM, Ausgleichsrente von 135,- DM und Pflegezulage von 50,-- DM nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG), bewilligt. Auf Anfrage teilte die Landesversicherungsanstalt (LVA) am 26. Mai 1951 mit, der Kläger erhalte ab 1. Oktober 1950 Invalidenrente in Höhe von 75,90 DM. Die Ausgleichsrente des Klägers wurde daraufhin durch Bescheid vom 22. Juni 1951 auf 100,-- DM gesenkt. Nach weiterer Mitteilung der LVA vom 25. Oktober 1951, die Invalidenrente des Klägers betrage ab 1. Oktober 1950 85,90 DM und ab 1. Juni 1951 110,90 DM erließ das Versorgungsamt am 14. Dezember 1953 einen Rentenänderungsbescheid. Darin verzichtete es auf die Rückzahlung der vom 1. Juni bis 31. Dezember 1951 zu viel geleisteten Beträge, errechnete für die Zeit ab 1. Januar 1952 eine Überzahlung von 457,50 DM, forderte diese vom Kläger zurück und behielt sie in Raten von monatlich 20,-- DM ab 1. Februar 1954 ein. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hob mit Urteil vom 14. Februar 1958 den Bescheid und den Widerspruchsbescheid insoweit auf, als darin ein Rückforderungsanspruch geltend gemacht bzw. bestätigt wurde, weil die Rückforderung wegen der wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers nicht vertretbar sei.

Mit der am 16. April 1958 eingelegten Berufung machte der Beklagte geltend, das SG habe selbst festgestellt, der Kläger sei nicht gutgläubig gewesen. Es hätte aus diesem Grunde die Klage ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers abweisen müssen.

Das Landessozialgericht (LSG) verwarf mit Urteil vom 27. November 1958 die Berufung als unzulässig, da der Beschwerdewert nur 457,50 DM betrage und die Berufung nach § 149 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 (BGBl. I 409) - SGG nF; Bekanntmachung vom 23. August 1958, BGBl. I 613, - bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen unzulässig Beschwerdewert 500,-- DM nicht übersteige. Die Berufung sei zwar noch während der Geltung des § 149 SGG idF vom 3. September 1953 (BGBl. I 1239) - SGG aF - eingelegt worden und nach dieser Bestimmung statthaft gewesen. § 149 SGG nF sei aber auf alle bei seinem Inkrafttreten noch nicht erledigten Berufungen anzuwenden. Die Rechtsprechung zu der Frage, ob die Zulässigkeit eines Rechtsmittels nach dem z.Zt. seiner Einlegung oder nach dem z.Zt. der Entscheidung über das Rechtsmittel geltenden Prozeßrecht beurteilt werden müsse, sei nicht einheitlich. Das Reichsgericht habe anfangs das z.Zt. der Einlegung des Rechtsmittels geltende Prozeßrecht für maßgebend erklärt (RGZ 5, 387; 18, 420; 20, 431). Später habe es jahrelang die Gegenmeinung vertreten (RGZ 74, 325; 76, 292; 107, 53; 113, 246; 118, 149; JW 29, 2528; 35, 2132; 36, 2712; 38, 2909), sich im Beschluß des Großen Senats (RGZ 168, 355) aber wieder der ursprünglichen Auffassung zugewandt. Dieser folge auch der Bundesgerichtshof (NJW 51, 195). Das Reichsversicherungsamt (RVA) und das Reichsversorgungsgericht (RVG) hätten dagegen die Zulässigkeit des Rechtsmittels nach dem zur Zeit der Entscheidung über das Rechtsmittel geltenden Prozeßrecht beurteilt, wenn es nach dem zur Zeit seiner Einlegung geltenden Recht zulässig war (AN 1913, 676; 1915, 403; RVG 1, 266). Dem sei das Bundessozialgericht (BSG) in mehreren Entscheidungen gefolgt (BSG 1, 62, 78, 204, 208, 264; SozR SGG § 215 Bl. Da 4 Nr. 17). Der Gesetzgeber, dem die Rechtsprechung des RVA, RVG und BSG bekannt gewesen sei, habe im Zweiten Gesetz zur Änderung des SGG nicht nur eine hiervon abweichende ausdrückliche Regelung unterlassen, sondern durch Anfügung des Satzes 2 in § 186 SGG (§ 1 Nr. 11 des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG) diese Rechtsprechung bestätigt. Die Gebühr, die Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts für jede Streitsache, an der sie beteiligt sind, nach § 184 Abs. 1 SGG zu entrichten hätten, entfalle nämlich nach § 186 Satz 2 SGG, wenn die Erledigung der Streitsache auf einer Rechtsänderung beruhe. Als eine solche Rechtsänderung müsse auch die durch das Zweite Änderungsgesetz in § 149 SGG aufgenommene Beschränkung der Zulässigkeit der Berufung bei Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen auf einen Beschwerdewert von über 500,- DM angesehen werden (Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG § 186 III/106 - 4 -). Schließlich sprächen auch aus den Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit herzuleitende Gründe dafür, die Zulässigkeit einer nach § 149 SGG aF zulässig eingelegten, nach § 149 SGG nF im Zeitpunkt der Entscheidung aber nicht mehr zulässigen Berufung zu verneinen. Infolge der Kostenfreiheit der Versicherten und Versorgungsberechtigten und des somit fehlenden finanziellen Risikos habe die Flut der Berufungen immer wieder zur Überlastung der rechtsprechenden Instanzen geführt, zu deren Behebung gesetzgeberische Maßnahmen nur führen könnten, wenn sie auf schwebende Fälle Anwendung fänden. Das gelte, wie sich aus der Bundestagsdrucksache Nr. 36 der 3. Wahlperiode ergebe, auch für das zweite Änderungsgesetz zum SGG. Demgegenüber könne das Vertrauen der Versicherten und Versorgungsberechtigten auf die Zulässigkeit eines vor der Gesetzesänderung zulässig eingelegten Rechtsmittels nicht geschützt werden, zumal die Erfolgsstatistik zeige, daß diese Rechtsmittel in den Jahren 1955 bis 1957 nur in 7 bis 18% aller Fälle Erfolg hatten. Die Rechtssicherheit werde durch eine Überlastung der Sozialgerichtsbarkeit weit mehr gefährdet, als durch eine rückwirkende Beschränkung der Rechtsmittel. Deshalb liege für die Sozialgerichtsbarkeit entgegen dem Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG 8, 135) und der von Brackmann (WzS 1958, 289) und Glücklich (SGb 1958, 289) vertretenen Auffassung keine Veranlassung vor, der in der Zivilgerichtsbarkeit herrschenden Meinung zu folgen, ein zulässig eingelegtes Rechtsmittel könne durch eine nicht ausdrücklich mit Rückwirkung ausgestattete Änderung des Verfahrensrechts nicht unzulässig werden. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung dieser Rechtsfrage und der Abweichung von der bisherigen Rechtsprechung des BSG ließ das LSG die Revision zu.

Mit der Revision rügt der Beklagte Verletzung des § 149 SGG aF. Aus den in BSG 8, 135 und im Urteil vom 10. Dezember 1958 - 11/8 RV 983/56 - angegebenen Gründen habe das LSG die Berufung des Beklagten zu Unrecht durch Prozeßurteil als unzulässig verworfen. Der Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen; hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision aus den vom LSG angeführten Gründen zurückzuweisen.

Die durch Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und deshalb zulässig. Sie erweist sich auch als begründet.

Der Rechtsauffassung des LSG, die Zulässigkeit der während der Geltungszeit der §§ 144 - 149 SGG aF eingelegten Berufung sei nicht allein nach dieser Vorschrift, sondern auch nach dem zur Zeit der Entscheidung des LSG geltenden § 149 SGG nF zu prüfen und deshalb gemäß § 149 SGG nF zu verneinen, kann nicht gefolgt werden. Die Rechtsmitteleinlegung ist ein nach Voraussetzungen und Wirkungen in Prozeßrecht geregeltes, auf einem bewußten Handlungswillen beruhendes Verhalten und deshalb Prozeßhandlung (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., S. 271). Die Berufung ist gemäß § 151 SGG schriftlich beim LSG oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG einzulegen, sie wird mit der Einlegung als Prozeßhandlung vollendet (vgl. Rosenberg aaO S. 280). Ziel der Rechtsmitteleinlegung ist es, die vom Prozeßrecht daran geknüpften Wirkungen auszulösen. Die Berufung bewirkt die Hemmung des Eintritts der Rechtskraft (Suspensiveffekt) und begründet die Zuständigkeit der höheren Instanz (Devolutiveffekt). Diese Wirkungen treten bereits mit der Einlegung der Berufung und nicht erst mit der Entscheidung über sie ein. Dies muß dazu führen, gesetzliche Rechtsmittelbeschränkungen, die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung noch nicht bestanden, bei Prüfung der Zulässigkeit des Rechtsmittels außer acht zu lassen, soweit ihnen vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich Rückwirkung beigelegt ist.

Der Auffassung des LSG, aus der Einfügung des Satzes 2 in § 186 SGG (§ 1 Nr. 11 des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG) ergebe sich der Wille des Gesetzgebers, § 149 SGG nF Rückwirkung auf noch nicht erledigte Berufungen zu verleihen, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Der vom LSG gezogene Schluß wäre nur zwingend, wenn § 186 Satz 2 SGG nF allein wegen der Berufungsbeschränkungen in den §§ 144 - 149 SGG nF, insbes. in § 149 SGG nF notwendig geworden wäre. Das ist jedoch nicht der Fall. Auf Fälle der Kriegsopferversorgung ist § 186 SGG grundsätzlich nicht anzuwenden, da die Länder nicht zu den Körperschaften des öffentlichen Rechts i.S. des § 184 Abs. 1 SGG gehören und deshalb nicht gebührenpflichtig sind (BSG 4, 180). Im Bereich des Sozialversicherungsrechts aber sind Rechtsänderungen materieller Art nicht selten. Es sei hier nur auf die Neuregelung der Rentenversicherung und auf die zahlreichen, teilweise nur klarstellenden formellen Änderungen der RVO hingewiesen, die zur Erledigung zahlreicher Rechtsstreitigkeiten (etwa wegen Aufrechterhaltung der Anwartschaft durch das Rentenversicherungs-Neuregelungsgesetz) geführt haben. Die Schaffung des § 186 Satz 2 SGG nF ist daher in erster Linie auf die wiederholten Änderungen des materiellen Rechts der Sozialversicherung zurückzuführen. Änderungen des Prozeßrechts spielen daneben für die Erledigung von Rechtsstreitigkeiten erfahrungsgemäß nur eine untergeordnete Rolle. Hinzu kommt, daß die Erledigung von Rechtsstreitigkeiten durch die mit § 149 SGG nF eingetretene Rechtsänderung jedenfalls dann nicht unter § 186 Satz 2 SGG fällt, wenn die Erledigung - wegen der eingetretenen Rechtsänderung - durch Urteil erfolgt. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 133 des Entwurfs eines Gesetzes über das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit (Sozialgerichtsordnung), der als § 186 SGG Gesetz geworden ist. Die ursprünglich nur aus dem Satz 1 bestehende Vorschrift übernahm die Regelung des § 2 der Gebührenordnung für das RVA (RGBl. 1924 I S. 419), deren Zweck es war, die Gebührenschuldner in aussichtslosen Sachen durch Ermäßigung der Gebühr auf die Hälfte zur Erledigung des Rechtsmittels ohne Urteil anzuregen (Begr. zu § 133 Sozialgerichtsordnung BT-Drucks. Nr. 4357, S. 33, 1. WP). Der durch das Zweite Änderungsgesetz zum SGG angefügte Satz 2 ordnet den Wegfall der Gebühr an, "wenn die Erledigung auf einer Rechtsänderung beruht". "Erledigung" bedeutet die in Satz 1 erwähnte Erledigung ohne Urteil. Es entspricht somit nicht dem Sinn des § 186 SGG, den Gebührenwegfall allein davon abhängig zu machen, daß die Erledigung dos Rechtsstreits auf einer Rechtsänderung beruht. Die Gebühr entfällt vielmehr nur bei unstreitigem Ausgang des Verfahrens. Hierzu bedarf es, da die Rechtsänderung den Rechtsstreit nicht unmittelbar kraft Gesetzes erledigt, einer den Prozeß beendenden Prozeßhandlung der Beteiligten. Beharrt der am Wegfall der Gebühr interessierte Beteiligte auf gerichtlicher Entscheidung oder vermag er durch sein Zutun den Prozeßgegner nicht zu einer unstreitigen Erledigung des Rechtsstreits zu bewegen, so entfällt die Gebühr nicht (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG § 186 S. III/109-6-). § 186 Satz 2 SGG ist somit nicht geeignet, eine vom Gesetzgeber beabsichtigte Rückwirkung des § 149 SGG nF auf bei seinem Inkrafttreten bereits anhängige Berufungen in Streitfällen der Kriegsopferversorgung deutlich zu machen.

Das LSG hat zwar zutreffend ausgeführt, das Zweite Änderungsgesetz zum SGG habe nach dem Willen des Gesetzgebers der Überlastung der Sozialgerichtsbarkeit entgegenwirken sollen. Indessen rechtfertigt auch dieser Gesichtspunkt nicht die Anwendung des § 149 SGG nF auf bei seinem Inkrafttreten bereits anhängige Berufungen. Wollte der Gesetzgeber die Sozialgerichtsbarkeit, insbesondere deren Rechtsmittelinstanzen wirksam entlasten, so mußte er in erster Linie Regelungen treffen, die einen Rückgang der Berufungen zur Folge hatten, denn nur auf diese Weise konnte einem weiteren Ansteigen der Belastung entgegengewirkt werden. § 149 Halbsatz 2 SGG nF gehört zu den Vorschriften, die diesem Zweck dienen. Darüber hinaus mußte ein Abbau der bei den Rechtsmittelinstanzen entstandenen Überhänge erreicht werden. Die rückwirkende Einschränkung der Zulässigkeit von Berufungen in Streitigkeiten wegen Rückerstattung von Leistungen hätte zwar zu dem gewünschten Abbau mit beigetragen; sie hätte sich indes sachlich als ein für den betroffenen Berufungskläger nicht vorhersehbarer Entzug der zweiten Tatsacheninstanz dargestellt, der unter dem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit möglicherweise zu verfassungsrechtlichen Bedenken Anlaß gegeben hätte. Der Gesetzgeber hat deshalb, wie die Neufassung des § 216 SGG durch das zweite Änderungsgesetz zeigt, in anderer Weise für den Abbau der Überlastung in den Rechtsmittelinstanzen gesorgt. Er wich "zur Gewährung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes" für eine zeitlich kurz bemessene Frist von dem Strukturprinzip des SGG ab, das neben den Berufsrichtern gleichzeitig auch Laien zum Richter aufruft (vgl. BT-Drucks. Nr. 338, 3. WP Nr. 12). Für die Entscheidung über Berufungen und Revisionen wurde damit eine Vereinfachung des Verfahrens erreicht, die den Betroffenen jedoch nicht die bei Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG vorhandene Instanz nahm. Nicht mit rückwirkender Einschränkung der Berufungsfähigkeit, sondern mit vereinfachtem Verfahren und mit dem Wegfall der Revision in den durch Beschluß des LSG nach § 216 SGG zu erledigenden Fällen (vgl. §§ 172, 177 SGG) sollte die Entlastung der Rechtsmittelinstanzen erreicht werden. Der Zweck des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG bietet somit keinen Anhalt dafür, daß eine rückwirkende Einschränkung der Berufungsfähigkeit bei Rückerstattungsstreitigkeiten vom Gesetzgeber gewollt war. Auch das zur Entlastung der Verwaltungsgerichtsbarkeit geschaffene Gesetz über die Beschränkung der Berufung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vom 21. Januar 1960 (BGBl. I 44) sieht von einer Rückwirkung auf bei seinem Inkrafttreten anhängige Fälle ab, denn es gilt nach seinem § 2 nicht, wenn die Entscheidung der ersten Instanz vor dem Inkrafttreten des Gesetzes verkündet oder zugestellt worden ist.

Auch mit dem Hinweis auf die Rechtsprechung des BSG zur Anwendung der Vorschriften des SGG über die Zulässigkeit der Berufung in den bei Inkrafttreten des SGG (1. Januar 1954) bereits anhängigen Fällen (BSG 1, 62, 78, 204, 208, 264; SozR SGG § 215 Bl. Da 4 Nr. 17) läßt sich entgegen der vom LSG und Peters/Sautter/Wolff, Komm. z. SGG (§ 143 Anm. 4 S. III/10 und III/11) vertretenen Auffassung eine Rückwirkung des § 149 SGG nF nicht rechtfertigen. Wie bereits BSG 1, 66 hervorgehoben hat, handelte es sich beim Inkrafttreten des SGG nicht nur um die Einführung eines neuen Verfahrensgesetzes, sondern um die Errichtung einer neuen Gerichtsbarkeit überhaupt (§ 2 SGG). In diesem Ausgangspunkt unterscheidet sich die in § 215 SGG getroffene Regelung über die Zulässigkeit der anhängigen Berufungen. grundsätzlich von der des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG. Bei Inkrafttreten des SGG mußte u.a. der Übergang von Rechtsstreitigkeiten, die teils bei den Landesversicherungsämtern Bayern und Württemberg-Baden, teils bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten des ersten und zweiten Rechtszuges rechtshängig waren, auf die Landessozialgerichte und damit in das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit geregelt werden. Dabei ist festgelegt worden, daß sich die Zulässigkeit der Berufung für die bei den allgemeinen Verwaltungsgerichten beider Rechtszüge rechtshängigen Sachen in Angelegenheiten des § 51 SGG nach den Vorschriften des SGG (§ 215 Abs. 7 und 8 SGG) richtet. Galt das aber für Rechtsstreitigkeiten, die bereits bei einer gerichtlichen Instanz i.S. der Art. 92 und 97 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) rechtshängig waren, so konnte für die bei den Landesversicherungsämtern anhängigen Sachen keine weitergehende Zulässigkeit der Berufungen gewollt sein (vgl. BSG 1, 65), zumal das für die Landesversicherungsämter geltende Verfahrensrecht durch § 224 Abs. 3 Nr. 1 SGG aufgehoben wurde. Der Senat hat keinen Anlaß, von dieser Rechtsprechung abzuweichen. Eine gleichmäßige Behandlung war, wie BSG 1, 66 andeutet, mit Rücksicht auf den vom Gesetzgeber zu beachtenden Grundsatz, gleiche und gleichartig gelagerte Fälle nach Möglichkeit gleich zu behandeln (Art. 3 Abs. 1 GG), geboten. Der in der angeführten Rechtsprechung des BSG mehrfach herausgestellte allgemeine Rechtsgrundsatz, wonach neues Verfahrensrecht in der Regel sofort auf alle anhängigen Sachen anzuwenden ist, gilt - wie oben dargetan - für gesetzliche Rechtsmittelbeschränkungen grundsätzlich nicht. Das BSG konnte diesen Grundsatz nur mit Rücksicht auf die vorgenannten besonderen Umstände zur Begründung seiner Auffassung über die Zulässigkeit von Berufungen in den Fällen des § 215 Abs. 3 SGG heranziehen. Wie in BSG 1, 265 ausgeführt ist, findet dieser Grundsatz jedenfalls dann keine Anwendung, wenn besondere Vorschriften etwas anderes vorschreiben, oder reine Rechtswirkungen vergangener Handlungen in Frage kommen. So hatte schon § 18 EG ZPO vorgeschrieben: Auf die Erledigung der vor dem Inkrafttreten der ZPO anhängig gewordenen Prozesses finden bis zur rechtskräftigen Entscheidung die bisherigen Prozeßgesetze Anwendung. Eine solche Vorschrift ist zwar bei der Neufassung des § 149 SGG nicht ergangen, aber die Rechtswirkung der nach § 149 SGG aF eingelegten Berufung ist in jedem Fall abgeschlossen gewesen. Durch die zulässig eingelegte Berufung entsteht dem Berufungsgericht, sofern nicht - wie für die allgemeinen Verwaltungsgerichten durch § 215 Abs. 7 und 8 SGG - gesetzlich ausdrücklich etwas anderes bestimmt wurde, die Rechtspflicht der Entscheidung in der Sache. Vom Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts und auch vom Zeitpunkt einer Rechtsänderung während des Berufungsverfahrens aus betrachtet ist diese Entscheidungspflicht eine Rechtswirkung der in der Berufungseinlegung liegenden, abgeschlossenen Prozeßhandlung. Diese Rechtswirkung äußerten die in BSG 1, 62 und 264 behandelten Rekurse sowie die in BSG 1, 78 und 208 behandelten Berufungen zum Oberversorgungsgericht Berlin für die Landessozialgerichte nicht, denn sie konnten nur die Entscheidungspflicht der nach früherem - aufgehobenen - Verfahrensrecht zuständig gewesenen Instanzen (Landesversicherungsamt bzw. Oberversorgungsgericht) auslösen. Im Gegensatz dazu löst die vor Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG zulässig eingelegte Berufung die Entscheidungspflicht des unverändert fortbestehenden LSG aus. Die Änderung des § 149 SGG durch dieses Gesetz würde mithin, wenn man der Auffassung des LSG folgen würde, die Rechtswirkung der nach § 149 SGG aF zulässig eingelegten Berufung, die Sachentscheidungspflicht des LSG, in Frage stellen. Diese Wirkung kann nicht gewollt sein und stünde auch nicht mit den für gesetzliche Rechtsmittelbeschränkungen geltenden Grundsätzen in Einklang. Die Rechtsprechung des BSG in BSG 8, 135 und im Urteil vom 10. Dezember 1958 (11/8 RV 983/56), der sich der erkennende Senat anschließt, steht somit nicht in Widerspruch zu der Rechtsprechung des BSG in den Übergangsfällen bei Inkrafttreten des SGG (ebenso Rohwer-Kahlmann SGb § 149 Rz. 2). Es bestand daher für den erkennenden Senat weder nach § 42 SGG noch nach § 43 SGG Veranlassung, den Großen Senat anzurufen.

Da die Berufung vom LSG nach § 149 SGG nF als unzulässig verworfen wurde, obwohl sie nach den §§ 145 bis 149 SGG aF zulässig war, hat das Berufungsgericht §§ 143 ff SGG verletzt. Es hat ein Prozeßurteil erlassen, obwohl es zum Erlaß eines Urteils in der Sache selbst verpflichtet war. Darin liegt nach der Rechtsprechung des BSG ein wesentlicher Verfahrensmangel (BSG 1, 283), den die Revision zutreffend gerügt hat. Das angefochtene Urteil war deshalb aufzuheben. Da das LSG die für eine Entscheidung in der Sache selbst erforderlichen tatsächlichen Feststellungen nicht getroffen hat und von seinem Rechtsstandpunkt aus auch nicht in einer für das BSG nach § 163 SGG bindenden Weise treffen konnte (vgl. BSG 9, 80, 86), war der Rechtsstreit gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1962, 1590

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