Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgter. Verfolgteneigenschaft. nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen. Riga. Flucht ins Innere der Sowjetunion. Fremdbeitragszeiten. allgemeine Fluchtbewegung. Zurückverweisung
Leitsatz (amtlich)
1. Verfolgter iS des § 20 WGSVG ist nur, wer die Voraussetzungen des § 1 BEG erfüllt.
2. Die Flucht eines Juden vor heranrückenden deutschen Truppen in das Innere der Sowjetunion kann jedenfalls dann ein Verfolgungstatbestand sein, wenn sie nicht Teil einer allgemeinen Fluchtbewegung der Bevölkerung war.
Normenkette
FRG §§ 1, 15, 17a; WGSVG §§ 1, 20; BEG §§ 1-2; SGG § 171 Abs. 2
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 04.12.1992; Aktenzeichen L 3 J 103/92) |
SG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.02.1992; Aktenzeichen S 15a (7) J 117/88) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 1992 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger Anspruch auf Gewährung von Altersruhegeld aus der deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von in der Sowjetunion zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten sowie Ersatzzeiten wegen Verfolgung hat. Umstritten ist insbesondere, ob er Verfolgter iSd Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) ist.
Der Kläger wurde 1920 in R. als lettischer Staatsbürger jüdischer Abstammung geboren. Nach Abschluß seiner Schulausbildung arbeitete er ab September 1938 als Schlosser in einer Waggonfabrik in R.. Nach dem Oberfall des Deutschen Reichs auf die Sowjetunion im Juni 1941 floh der Kläger vor den auf R. heranrückenden deutschen Truppen in das Innere der Sowjetunion und arbeitete dort in der Stadt K./Ko. SSR von Juli 1941 bis Ende 1945 als Schlosser. Danach kehrte er nach R. zurück und war dort in verschiedenen Betrieben wiederum als Schlosser beschäftigt. Im Jahre 1971 wanderte der Kläger nach Israel aus, dessen Staatsangehörigkeit er seither besitzt.
Im Juni 1983 beantragte der Kläger bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ua die Gewährung einer Altersrente, die Nachentrichtung von Beiträgen nach Art. 12 der Vereinbarung vom 20. November 1978 zur Durchführung des Abkommens vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (BGBl II 575 – DV/DISVA) und die Anerkennung von Fremdbeitrags- und Ersatzzeiten. Nachdem die BfA der Beklagten den Verwaltungsvorgang zuständigkeitshalber abgegeben hatte, lehnte diese die Gewährung einer Rente durch Bescheid vom 4. Mai 1987 ab, weil keine für die Erfüllung der Wartezeit anrechenbaren Versicherungszeiten vorhanden seien. Der hiergegen gerichtete Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen (Widerspruchsbescheid vom 31. Mai 1988), Klage und Berufung blieben ebenfalls erfolglos (Urteile des Sozialgerichts Düsseldorf ≪SG≫ vom 18. Februar 1992 und des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ vom 4. Dezember 1992).
Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen wie folgt begründet: Die in der Sowjetunion zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten des Klägers seien in der deutschen Rentenversicherung nicht anrechenbar, weil er nicht dem berechtigten Personenkreis nach dem Fremdrentengesetz (FRG) angehöre und wegen Fehlens der Verfolgteneigenschaft iSd § 1 BEG auch § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) auf ihn keine Anwendung finde. Danach könne nur entschädigt werden, wer tatsächlich einen verfolgungseigentümlichen Schaden erlitten habe. Der Kläger habe sich aber zu keinem Zeitpunkt im deutschen Einflußbereich befunden und damit auch keinen durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verursachten Schaden erlitten. Es könne daher offenbleiben, ob er dem deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) zugehöre oder zugehörig gewesen sei.
Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger geltend, das LSG habe den Verfolgtenbegriff des § 20 WGSVG verkannt: Es habe übersehen, daß zwischen der Verfolgung als einem Status und der Verfolgungsbedingtheit eines Schadens zu unterscheiden sei. Die Flucht erfülle zwar keinen der entschädigungspflichtigen Tatbestände des § 1 BEG, aus ihr ergebe sich aber die Verfolgteneigenschaft iSd Verfolgtenstatus. Wäre er nicht geflohen, wäre er verfolgt worden. Demgemäß sei die Flucht eine Handlung iSd § 9 BEG, die unter Verfolgungsdruck vollzogen worden sei. § 20 WGSVG sei keine spezifisch entschädigungsrechtliche Norm, sondern erweitere lediglich den Anwendungsbereich des FRG auf verfolgte Vertriebene. Daß eine solche Regelung im WGSVG erfolgt sei, müsse als systematische Unzulänglichkeit betrachtet werden. Dies habe der Gesetzgeber auch erkannt, denn mit dem Rentenreformgesetz 1992 (RRG 1992) sei eine nochmalige Erweiterung des Anwendungsbereichs des FRG durch § 17a FRG erfolgt. Ein besonderer Schadenssachverhalt werde dort nicht mehr verlangt. Außerdem verweise § 1 Abs. 1 WGSVG nicht auf § 1 BEG, sondern lediglich auf „Verfolgte im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes”, die „einen Schaden in der Sozialversicherung erlitten haben”, schaffe für das WGSVG also einen eigenen Schadensbegriff, der nicht in § 1 BEG enthalten sei.
Im übrigen verkenne das LSG auch den Verfolgtenbegriff iSd § 1 BEG. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) sei den Gewaltmaßnahmen nach § 2 BEG die Drohung mit solchen Maßnahmen gleichgestellt, wenn der Bedrohte sich einem bevorstehenden Zugriff entzogen habe. Dabei reiche es aus, wenn ein Gruppenverfolgter während des Krieges sein angestammtes Gebiet zu einer Zeit verlassen habe, zu der eine Beherrschung des Heimatlandes durch das Deutsche Reich ernsthaft befürchtet werden konnte. Seine Flucht in das Innere der Sowjetunion könne nicht anders behandelt werden als die Flucht in ein anderes Land. Die Okkupation Lettlands durch die Sowjetunion sei völkerrechtlich auch niemals anerkannt worden. Zwischen den jüdischen Flüchtlingen und der übrigen Zivilbevölkerung habe ein entscheidender Unterschied bestanden: Die jüdische Bevölkerung sei geflohen, weil sie nicht unter der nationalsozialistischen Herrschaft habe umkommen wollen; die übrige Zivilbevölkerung sei geflohen, weil sie nicht im deutschen Machtbereich habe leben wollen. Gerade die lettische Bevölkerung habe den Deutschen aber positiv gegenübergestanden und sich nach dem Einmarsch der deutschen Truppen spontan an der Verfolgung der Juden beteiligt.
Der Kläger hat zwischenzeitlich Beiträge nach Art. 12 DV/DISVA entrichtet und bezieht rückwirkend ab dem 1. Oktober 1985 von der BfA Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (Bescheid vom 2. Mai 1994).
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 1992 sowie des Urteils des SG Düsseldorf vom 18. Februar 1992 und des Bescheides vom 4. Mai 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 1988 zu verurteilen, ihm unter Anerkennung von Fremdbeitragszeiten und Verfolgungsersatzzeiten Altersruhegeld zu gewähren,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung an das LSG Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.
Die Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Sie hält die Urteile der Vorinstanzen für zutreffend und meint, es gebe keinen Grund dafür, den Verfolgtenbegriff in § 20 WGSVG anders auszulegen als in § 1 BEG.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Die Revision des Klägers ist iSd Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht begründet, weil es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Sachentscheidung fehlt.
Streitgegenstand ist der Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 1987 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 31. Mai 1988. Der während des anhängigen Revisionsverfahrens ergangene Bescheid vom 2. Mai 1994, mit dem die BfA dem Kläger Altersruhegeld aufgrund der nachentrichteten freiwilligen Beiträge ab 1. Oktober 1985 bewilligt hat, ist nicht Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden (§ 171 Abs. 2 SGG) und konnte daher vom erkennenden Senat bei seiner Entscheidung nicht berücksichtigt werden. Er gilt auch nicht gemäß § 171 Abs. 2 SGG als mit der Klage bei dem SG angefochten. Zwar wird der Bescheid vom 4. Mai 1987 durch den Bescheid vom 2. Mai 1994 insoweit abgeändert, als dem Kläger damit die begehrte Leistung – wenn auch nicht in dem beantragten Umfang – (von der BfA) zugebilligt worden ist. Die Regelung des § 171 Abs. 2 SGG findet nach ihrem Sinn und Zweck – Schutz des Klägers vor Rechtsnachteilen infolge der Unterlassung weiterer Schritte hinsichtlich des abändernden Bescheides im Vertrauen auf die von ihm eingelegte Revision (vgl. Schimmelpfeng SGb 1977, 137, 138) – jedoch dann keine Anwendung, wenn das angefochtene Berufungsurteil auf die Revision hin aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen wird. In diesem Falle ist der während des Revisionsverfahrens erlassene Bescheid so zu behandeln, als wäre er während des Berufungsverfahrens ergangen und damit von dem Zeitpunkt der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG an gemäß §§ 96, 153 SGG Gegenstand des wieder rechtshängigen Berufungsverfahrens geworden (vgl. BSGE 9, 78, 79; Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993, § 96 RdNr. 8; s auch Schimmelpfeng SGb 1977, 137, 139). Das LSG wird diesen Bescheid bei der erneuten Behandlung der Sache in seine Prüfung einzubeziehen und dabei auch zu erwägen haben, ob nunmehr die BfA – und nicht die Beklagte – zur Gewährung der begehrten Leistung verpflichtet ist.
Der Anspruch des Klägers auf Altersruhegeld richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), denn der Rentenantrag ist bereits im Juni 1983 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden und bezieht sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 (§ 300 Abs. 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – ≪SGB VI≫; vgl. Bundessozialgericht ≪BSG≫ SozR 3-2200 § 1246 Nr. 29).
Der Kläger begehrt allgemein die Gewährung von „Altersruhegeld”, ohne näher darzulegen, welches Altersruhegeld genau er zuerkannt haben möchte. Das flexible Altersruhegeld (§ 1248 Abs. 1 RVO) das vorgezogene Aftersruhegeld (§ 1248 Abs. 2 RVO) und das Altersruhegeld wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 1248 Abs. 5 RVO) haben verschiedene Anspruchsvoraussetzungen. In jedem Fall ist Voraussetzung die Erfüllung der jeweiligen Wartezeit. Für die Erfüllung der Wartezeit für eine dieser Renten wegen Alters kommen die von dem Kläger in der Sowjetunion zurückgelegten Beitrags- oder Beschäftigungszeiten in Betracht, sofern sie in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung anrechenbar sind. Das ist der Fall, wenn sie gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 oder 2 FRG nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Dies wiederum setzt voraus, daß der Kläger zu dem vom FRG begünstigten Personenkreis gehört.
Da der Kläger nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG nicht als Vertriebener iSd Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) anerkannt ist (§ 1 Buchst a FRG) und auch sonst nicht zu dem nach dem FRG begünstigten Personenkreis (§ 1 Buchst b – e FRG) gehört, könnte dieses Gesetz auf ihn nur nach Maßgabe des § 20 WGSVG Anwendung finden. Nach § 20 Satz 1 WGSVG (seit 1. Januar 1990 Abs. 1 Satz 1, vgl. Art. 21 Nr. 4 Buchst a iVm Art. 85 Abs. 5 RRG 1992) stehen bei der Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iSd BVFG „vertriebene Verfolgte” gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es für die Vertriebeneneigenschaft auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, ergibt sich aus der Bezugnahme in § 20 Satz 2 WGSVG (seit 1. Januar 1990 Abs. 1 Satz 2) auf § 19 Abs. 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG, daß es genügt, wenn der Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört hat.
Die tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts lassen keine abschließende Feststellung darüber zu, ob die Voraussetzungen für die vom Kläger begehrte Anrechnung von Beitrags- oder Beschäftigungszeiten nach diesen Vorschriften vorliegen. Das LSG ist zwar zutreffend davon ausgegangen, daß § 20 WGSVG nur für den Personenkreis Anwendung findet, der sämtliche Voraussetzungen für die Anerkennung als Verfolgter nach § 1 BEG erfüllt, also aus Gründen ua der Rasse durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen, in seinem beruflichen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat. Diese Auffassung hat das BSG schon in seiner bisherigen Rechtsprechung vertreten (vgl. BSG SozR 5070 § 9 Nr. 3 und § 20 Nrn 7, 12, 13). Der gegenteiligen Rechtsansicht des Klägers, § 20 WGSVG setze sowohl nach seinem Wortlaut als auch nach seinem Sinn und Zweck lediglich einen „Verfolgtenstatus” voraus, für den insbesondere im Falle der Flucht vor drohenden Gewaltmaßnahmen der Eintritt eines konkreten Schadens iSd § 1 BEG nicht erforderlich sei, vermag sich der erkennende Senat nicht anzuschließen. Er sieht keine Veranlassung, insoweit von der bisherigen Rechtsprechung abzuweichen.
Nach § 1 WGSVG gilt dieses Gesetz – also auch § 20 WGSVG – für Versicherte, die Verfolgte iSd BEG sind. Zwar wird nicht ausdrücklich von Verfolgten iSd § 1 BEG gesprochen, doch ist die Bezugnahme auf diese Vorschrift gleichwohl eindeutig, weil § 1 Abs. 1 BEG die für alle weiteren Vorschriften des BEG maßgebliche Legaldefinition des Verfolgten enthält (vgl. Blessin-Ehrig-Wilden, Bundesentschädigungsgesetze, 3. Aufl 1960, § 1 BEG Vorbem RdNr. 1). Daß diese Auslegung auch dem Willen des Gesetzgebers des WGSVG entspricht, folgt aus den Materialien zu diesem Gesetz. In der Begründung der Bundesregierung zu § 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (BT-Drucks VI/715, S 9) wird ausgeführt, Verfolgte iSd BEG seien „die im § 1 Abs. 1 BEG genannten Verfolgten und die Personen, die diesen gleichgestellt sind oder als Verfolgte gelten (§ 1 Abs. 2 und 3 aaO)”. Die Begründung der Bundesregierung zu § 17 des Entwurfs (dem späteren § 20 WGSVG) enthält keine Hinweise auf einen im Rahmen dieser Vorschrift abweichenden Verfolgtenbegriff, Dort wird vielmehr auf die im allgemeinen Entschädigungsrecht bereits erfolgte Gleichstellung der vertriebenen Verfolgten mit den anerkannten Vertriebenen in der Vorschrift des § 4 Abs. 4 BEG hingewiesen, für die wiederum der Verfolgtenbegriff des § 1 Abs. 1 BEG gilt (aaO, S 11). Auch in den Beratungen des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung wurden im Hinblick auf den Verfolgtenbegriff keine abweichenden Ansichten geäußert und auch keine Änderungen vorgeschlagen (vgl. den Ausschußbericht, BT-Drucks VI/1449). Die hier maßgebenden Vorschriften des Entwurfs (§ 1 Abs. 1 und § 17 – später § 20 – WGSVG) wurden inhaltlich unverändert als Gesetzestext übernommen.
Auch der Umstand, daß nach § 1 Abs. 1 WGSVG für die Zugehörigkeit zu dem nach diesem Gesetz begünstigten Personenkreis zusätzlich zu der Verfolgteneigenschaft ein in der Sozialversicherung erlittener Schaden vorausgesetzt wird, spricht nicht dagegen, auch einen verfolgungseigentümlichen Schaden an den in § 1 Abs. 1 BEG genannten Rechtsgütern zu fordern. Der Gesetzgeber wollte ersichtlich für den von der nationalsozialistischen Verfolgung betroffenen Personenkreis iSd BEG den Ausgleich des in der Sozialversicherung erlittenen Schadens spezialgesetzlich im WGSVG regeln. Dabei ergibt sich aus der Verweisung auf das die allgemeine Entschädigung regelnde BEG, daß er an allen tatbestandlichen Voraussetzungen des dortigen Begriffs des Verfolgten festhalten wollte.
Die tatsächlichen Feststellungen des LSG rechtfertigen indes nicht den Schluß, bei dem Kläger lägen die Voraussetzungen für die Verfolgteneigenschaft nach § 1 BEG nicht vor. Die Annahme der Verfolgteneigenschaft scheitert zunächst nicht daran, daß der Kläger deshalb nicht unmittelbar Opfer konkreter nationalsozialistischer Gewaltmaßnahmen geworden ist, weil er sich der in R. nach der deutschen Besetzung einsetzenden nationalsozialistischen Judenverfolgung bereits vor dem Eintreffen der deutschen Truppen durch Flucht in das Innere der Sowjetunion entzogen hat.
Gemäß § 2 Abs. 1 BEG sind nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen solche Maßnahmen, die aus den Verfolgungsgründen des § 1 BEG auf Veranlassung oder mit Billigung einer Dienststelle oder eines Amtsträgers des Reiches, eines Landes, einer sonstigen Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts, der NSDAP, ihrer Gliederungen oder ihrer angeschlossenen Verbände gegen den Verfolgten gerichtet worden sind. Nach der Rechtsprechung des BGH und ihm folgend des BSG ist der Begriff der konkreten Verfolgung durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt, sondern auch dann gegeben, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, daß der einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen wird und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder auf andere Weise entzieht. Insbesondere bei den Gruppenverfolgten – so auch den Juden – ist danach eine Entschädigung auch dann geboten, wenn sie die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen haben, ohne abzuwarten, bis sich die gefährliche Entwicklung zum „nahe bevorstehenden Zugriff” verdichtet hatte (vgl. BGH RzW 1975, 265 und 1981, 71 mwN; BSG SozR 5070 § 9 Nr. 3).
Daß der Kläger als Gruppenverfolgter aus Gründen der Rasse die Gefahr einer nationalsozialistischen Verfolgung nach der unmittelbar drohenden Einverleibung R. in den Machtbereich des Deutschen Reiches mit gutem Grund annehmen konnte, bedarf keiner weiteren Begründung. Zum Zeitpunkt seiner Flucht aus R. im Juni 1941 stand die Gefahr einer solchen Verfolgung auch unmittelbar bevor, denn R. wurde bereits wenige Tage nach dem Beginn des Überfalls des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion (21. Juni 1941) von der rasch vorstoßenden 18. Armee der Deutschen Wehrmacht am 2. Juli 1941 eingenommen (vgl. Cartier, Der Zweite Weltkrieg, Band I, S 304, 305; Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 1983, S 464).
Allerdings könnte der Verfolgteneigenschaft des Klägers entgegenstehen, daß er aus Lettland, das sich bereits am 5. August 1940 unter sowjetischem Druck als 15. Sozialistische Sowjetrepublik an die UdSSR angeschlossen hatte, in das Innere der Sowjetunion floh und damit in dem Staat blieb, in dessen Bereich er schon bisher lebte. Das LSG hat in einer früheren Entscheidung (Urteil vom 15. Mai 1987 – L 3 J 102/84 –), der ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde lag und auf die es sich im angefochtenen Urteil bezogen hat, die Ansicht vertreten, in einem solchen Fall sei die Verfolgteneigenschaft iSd § 1 BEG nicht gegeben. Denn die Gefahrenlage des Betroffenen habe sich gegenüber Personen, die keine Verfolgung iSd BEG zu befürchten gehabt hätten und infolge von Kriegshandlungen bzw auf der Flucht ebenfalls Gefahren für Körper und Gesundheit ausgesetzt gewesen seien, nicht erhöht. Dabei hat sich das LSG auf die ständige Rechtsprechung des BGH gestützt, wonach derjenige, welcher aus Verfolgungsfurcht vor den heranrückenden deutschen Truppen floh, dabei jedoch in dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon bisher lebte, nicht entschädigungsberechtigt für Schäden ist, die bei oder infolge der Flucht außerhalb des deutschen Einflußgebietes entstanden sind (vgl. BGH LM Nrn 49 und 51 zu § 2 BEG 1956, Nr. 89 zu § 1 BEG 1956). Dabei ging es um die Entschädigung von Gesundheitsschäden, die jüdische Flüchtlinge, welche nach Beginn des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion aus dem Teil Polens, der durch den deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 in die Macht- und Interessensphäre der Sowjetunion gefallen und von ihr nach der militärischen Niederlage Polens annektiert worden war, in das Innere der Sowjetunion geflohen waren. In den beiden letzten oben zitierten Entscheidungen hat der BGH an dieser Rechtsprechung trotz der Kritik in der Literatur (s dazu Werner RzW 1973, 362; Rasehorn RzW 1974, 205; Schwarz RzW 1980, 1) mit der Begründung festgehalten, es handele sich dabei nicht um verfolgungsbedingte Schäden.
Die vom BGH aufgestellten Grundsätze können jedoch nicht ohne weiteres auf den vorliegenden Fall angewandt werden. Diese Rechtsprechung beruht ua auf der Erwägung, daß die jüdischen Flüchtlinge lediglich Teil fliehender Bevölkerungsmassen waren, die das gemeinsame Schicksal der Flucht ins Landesinnere aus Furcht vor dem unmittelbaren Kriegsgeschehen und dem fremden Besatzungsregime auf sich nahmen, so daß eine mögliche Verfolgungsfurcht der jüdischen Teilnehmer an diesem allgemeinen Exodus keine eigene entschädigungsrechtliche Bedeutung haben könne. Die Verhältnisse im Baltikum könnten indes wesentlich anders geartet gewesen sein. Da Lettland im Gegensatz zu Polen vor dem Angriff des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion von dieser einseitig annektiert worden war, liegt zumindest die Vermutung nahe, daß die lettische Bevölkerung in den deutschen Truppen zunächst keine unerwünschte Besatzungsmacht, sondern die „Befreier” von der Sowjetherrschaft sah und nicht den zurückweichenden „Fremdherrschern” nacheilte, um bei ihnen Schutz zu suchen. Dafür spricht auch der Umstand, daß das deutsche Reich vor der Besetzung über einen längeren Zeitraum hinweg gute Beziehungen zu den baltischen Staaten gepflegt hatte. Das angefochtene Berufungsurteil enthält insoweit keine Feststellungen. Da der erkennende Senat als Revisionsgericht an der Tatsachenfeststellung gehindert ist (§ 163 SGG), war die Sache zur Durchführung der erforderlichen Ermittlungen an das LSG zurückzuverweisen. Es muß aufgeklärt werden, ob größere Teile der nicht durch Gewaltmaßnahmen iSd § 2 Abs. 1 BEG bedrohten Bevölkerung vor den anrückenden deutschen Truppen im Juni 1941 aus R. flüchteten oder ob überwiegend der Personenkreis floh, der mit Verfolgung durch die dort genannten Stellen rechnen mußte.
Sollte es sich ergeben, daß überwiegend von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen bedrohte Einwohner der Stadt R., also insbesondere Juden, Zigeuner und Funktionäre der KPdSU, die Flucht aus Lettland in das Innere der Sowjetunion unternahmen, während die nicht von nationalsozialistischer Verfolgung bedrohte Bevölkerung in der Stadt blieb, so wäre die Flucht des Klägers als verfolgungsspezifischer Tatbestand iSd BEG anzusehen. Das LSG wird sodann zu ermitteln haben, ob bei oder infolge der Flucht ein Schaden an Rechtsgütern des Klägers iSd § 1 Abs. 1 BEG eingetreten ist. Da dem Kläger wenig Zeit blieb, um vor den schnell heranrückenden deutschen Truppen zu fliehen, spricht nach der allgemeinen Lebenserfahrung viel dafür, daß er Eigentum in R. zurücklassen mußte oder sonstige Einbußen an Vermögen erlitt. Weiter ist anzunehmen, daß der Kläger zumindest während der Flucht keiner Berufstätigkeit nachgehen konnte, so daß sich insoweit nähere Ermittlungen zur genauen Dauer und den Umständen der Flucht aufdrängen. Das LSG wird schließlich zu beachten haben, daß die Anwendung des WGSVG nicht davon abhängt, daß der Verfolgte entschädigungsberechtigt iSd BEG ist (vgl. Begründung der Bundesregierung zu § 1 des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung ≪BT-Drucks VI/715, S 9≫; BSG Urteil vom 15. März 1968 – 4 RJ 551/64 = SGb 1968, 413). Auf das Vorliegen der weiteren Voraussetzungen für einen Entschädigungsanspruch nach dem BEG (zB §§ 4, 28 usw) kommt es daher nicht an.
Bei Bejahung der Verfolgteneigenschaft des Klägers iSd § 1 BEG wird das LSG auch die übrigen Voraussetzungen für den Anspruch nach § 20 WGSVG zu prüfen haben, dh, ob der Kläger zum Zeitpunkt der Auswanderung aus der Sowjetunion dem dSK angehörte (s dazu zB BSG SozR 3-5070 § 20 Nr. 2) und ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Verlassen des Vertreibungsgebietes und der Zugehörigkeit zum dSK („Nötigungszusammenhang”, vgl. BSG SozR 3-5070 § 20 Nr. 1) bestand. Dieser wird alterdings gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 WGSVG idF des Art. 21 Nr. 4 RRG 1992 vermutet, wenn das Vertreibungsgebiet nicht nachweislich im wesentlichen aus anderen Gründen verlassen worden ist, weil der Zugehörigkeit zum dSK nicht annähernd das gleiche Gewicht zukommt.
Falls die Voraussetzungen des § 20 WGSVG nach dem Ergebnis der vom LSG anzustellenden Ermittlungen nicht vorliegen, wird das LSG zu prüfen haben, ob der Kläger zu dem Personenkreis gehört, der von dem zum 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG (An 15 Abschn A Nr. 4 iVm Art. 85 Abs. 6 RRG 1992) erfaßt wird, und danach Anspruch auf Anrechnung seiner in der Sowjetunion zurückgelegten Versicherungszeiten ab 1. Juli 1990 hat. Diese im Verhältnis zu § 20 WGSVG nachrangige Vorschrift (vgl. BSG Urteil vom 29. Januar 1991 – 4 RA 74/90 –) erweitert den Anwendungsbereich des FRG unabhängig von der Verfolgteneigenschaft iSd BEG auf diejenigen Personen, die bis zur Erstreckung des nationalsozialistischen Einflußbereichs auf ihr Heimatgebiet dem dSK angehört, das 16. Lebensjahr bereits vollendet oder im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebiets dem dSK angehört und sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Judentum nicht zum deutschen Volkstum bekannt hatten und die Vertreibungsgebiete nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG verlassen haben.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen