Entscheidungsstichwort (Thema)
Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts. Verfolgter. Verfolgteneigenschaft. Jude. Flucht ins Innere der Sowjetunion. Berechtigung zur Entrichtung freiwilliger Beiträge
Leitsatz (amtlich)
1. Entgegen der Rechtsprechung des BGH zum Wiedergutmachungsrecht steht der Verfolgteneigenschaft iSd WGSVG nicht entgegen, dass der Betroffene aus Verfolgungsfurcht vor den herannahenden deutschen Truppen aus einer sowjetischen Teilrepublik (hier: Lettland) weiter in das Innere der Sowjetunion floh und damit in dem Staat blieb, in dessen Machtbereich er schon bisher lebte.
2. Maßgeblich für den Begriff des Verfolgten iSd WGSVG ist grundsätzlich die Definition des BEG. Dies schließt allerdings nicht aus, auch im Rahmen des WGSVG für die Zurechnung eines Schadens zu einer Ursache (hier: Flucht zur nationalsozialistischen Judenverfolgung) die sozialrechtliche Kausalitätslehre der wesentliche Ursache anzuwenden.
3. Es gibt keinen gültigen Erfahrungssatz dahingehend, dass bei einem Kriegsausbruch stets Bevölkerungsmassen fliehen. Jedenfalls im Verhältnis zu den baltischen Staaten ist es zudem glaubhaft iS des § 3 Abs 1 WGSVG, dass eine entsprechende Massenflucht der Bevölkerung vor den herannahenden deutschen Truppen nicht stattgefunden hat.
Orientierungssatz
1. Nach der Rechtsprechung des BGH und ihm folgend des BSG ist der Begriff der konkreten Verfolgung nicht auf unmittelbare Eingriffe in die Lebenssituation des Verfolgten beschränkt sondern auch erfüllt, wenn eine allgemeine Verfolgungsgefahr bestand, die bei verständiger Würdigung erwarten ließ, dass der Einzelne in absehbarer Zeit von nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen betroffen wird, und er sich dieser Gefahr durch Auswanderung oder auf andere Weise entzieht. Insbesondere bei den Gruppenverfolgten - so auch den Juden - ist danach eine konkrete Verfolgung in diesem Sinne bejaht worden, wenn Gruppenverfolgte die Gefahr eines gewaltsamen Zugriffs mit gutem Grund als gegenwärtig ansehen durften und sich ihr durch Flucht entzogen haben (vgl BGH vom 3.7.1975 - IX ZR 14/75 = RzW 1975, 265, BSG vom 4.4.1979 - 12 RK 7/78 = SozR 5070 § 9 Nr 3).
2. Durch § 9 WGSVG soll ein sozialrechtlicher Schaden ausgeglichen werden, der rechtlich wesentlich durch nationalsozialistische Verfolgungen entstand. Selbst wenn auch allgemeine Kriegsereignisse Grund für die Flucht in das Innere der Sowjetunion waren, so ist durch angesichts des spezifisch jüdischen Schicksals die Tatsache, dass der Versicherte Jude war, mindestens gleichwertig - wenn nicht sogar überwiegend - der Grund für die Flucht neben dem allgemeinen Kriegsschicksal, so dass das Schicksal des Versicherten der nationalsozialistischen Verfolgung zugerechnet werden muss.
3. Der Senat ist der Auffassung, dass überwiegend wahrscheinlich ist, dass dem Versicherten infolge der Flucht in das Innere der Sowjetunion ein Schaden an den Rechtsgütern iS des § 1 Abs 1 BEG entstanden ist.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger als Verfolgter im Sinne des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) anzusehen und damit berechtigt ist, Beiträge zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung zu entrichten.
Der 1923 in Y., Kreis R., Lettland, geborene Kläger ist Jude. Er arbeitete bis Juni 1941 als Verkaufsgehilfe in R. Im Juli 1941 flüchtete er vor den Deutschen in das Innere der Sowjetunion. Nach Kriegsende lebte und arbeitete der Kläger wieder in Lettland, 1979 wanderte er nach Australien aus. Seit 1983 ist er australischer Staatsangehöriger.
Am 27.09.1990 beantragte der Kläger Altersruhegeld unter Anerkennung seiner Versicherungszeiten und Zulassung zur Beitragsentrichtung zur deutschen gesetzlichen Rentenversicherung. Er beschrieb sein Verfolgungsschicksal dahingehend, dass er bei Ausbruch des deutsch-russischen Krieges in R. gewohnt habe. Nachdem die Deutschen im Juni 1941 R. und Lettland eingenommen hätten, hätten sofort Judenverfolgungen begonnen und es seien täglich Erschießungen vorgenommen worden. Da er als Jude um sein Leben gefürchtet habe, sei er nach Russland geflüchtet. Dort sei er gefaßt und zunächst zu Zwangsarbeiten in Sibirien herangezogen und später zum Bahnbau für das russische Militär im Ural eingesetzt worden.
Die Schwester des Klägers, Frau S. Z., bestätigte in einer schriftlichen Erklärung, dass der Kläger von 1941 bis 1945 in K. gelebt und Zwangsarbeit geleistet habe. Auch die Zeugin T. V. machte entsprechende Angaben.
Aus der von der Beklagten beigezogenen BEG-Akte der Mutter des Klägers, Frau V. B. ergibt sich, dass diese ein Verfolgungsschicksal in Ghettos und Konzentrationslagern beschrieben und angegeben hat, sie habe ab Juli 1941 das Judenkennzeichen tragen müssen und sei am 02.10.1941 mit ihren beiden Kindern in das Ghetto Riga eingewiesen worden. Aus der ebenfalls beigezogenen BEG-Akte der Schwester des Klägers ist ersichtlich, dass diese ebenfalls ein Verfolgungsschicksal in Ghettos bzw. Konzentrationslagern geltend ...