Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorverfahren, Kosten des. Kostenerstattung. Vorverfahren, isoliertes. Rahmengebühr, erhöhte. Vergleich. Nachgeben, beiderseitiges. Antrag, unbestimmter
Leitsatz (amtlich)
1. Die Rahmengebühr des Bevollmächtigten für seine Tätigkeit im isolierten Vorverfahren wird nur dann nach § 116 Abs. 3 BRAGebO erhöht, wenn er daran mitgewirkt hat, daß sich die Rechtssache durch beiderseitiges Nachgeben erledigt hat.
2. Es fehlt an einem gegenseitigen Nachgeben, wenn der Widerspruchsbescheid dem Widerspruch voll entspricht, also den Widerspruchsführer nicht beschwert.
3. Wird der GdB auf zumindest den Betrag festgesetzt, der im Widerspruchsantrag als Mindestbetrag des erstrebten „höheren GdB” bezeichnet war, ist der Betroffene nicht beschwert.
Normenkette
SGB X § 63; BRAGO § 116 Abs. 1, 3, §§ 23-24, 12
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.05.1994; Aktenzeichen L 7 Vs 40/94) |
SG Münster (Urteil vom 26.11.1993; Aktenzeichen S 11 Vs 72/93) |
Tenor
Auf die Revision des Beklagten werden das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Mai 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Münster vom 26. November 1993 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, in welcher Höhe der Klägerin nach § 63 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) Kosten eines im Vorverfahren tätigen Bevollmächtigten zu erstatten sind.
Die Klägerin beantragte, den bei ihr festgestellten Grad der Behinderung (GdB) von 40 nach dem Schwerbehindertengesetz höher festzusetzen. Gegen den ablehnenden Bescheid legte sie, vertreten von einem Rentenberater, Widerspruch ein. Der Beklagte ergänzte in einem „Teil-Abhilfebescheid” die Bezeichnung der Behinderungen, erhöhte den GdB aber nicht. Dagegen machte der Bevollmächtigte der Klägerin geltend, der GdB betrage nicht 40, sondern mindestens 50. Diesen GdB stellte der „weitere Abhilfebescheid” des Beklagten fest. Kosten erstattete der Beklagte in voller Höhe, aber lediglich nach der auf zwei Drittel für ein Vorverfahren herabgesetzten Mittelgebühr des einfachen Gebührenrahmens gemäß § 116 Abs. 1 der Bundesrechtsanwaltsgebührenordnung (BRAGebO), nicht nach dem gemäß § 116 Abs. 3 BRAGebO erhöhten Gebührenrahmen.
Nach erfolglosem Widerspruch hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, weitere Kosten nach einer gemäß § 116 Abs. 3 BRAGebO erhöhten Mittelgebühr zu erstatten (Urteil vom 26. November 1993). Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil vom 19. Mai 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat ausgeführt: Eine Erhöhung der Rahmengebühr finde nach § 116 Abs. 3 BRAGebO statt, wenn der Bevollmächtigte das Widerspruchsverfahren besonders intensiv betrieben oder auf seinen Mandanten eingewirkt habe, sich mit einem Teilerfolg zufriedenzugeben. Hier seien beide Voraussetzungen erfüllt.
Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 63 Abs. 2 SGB X und der §§ 24 und 116 BRAGebO. Die Vorschrift des § 116 Abs. 3 BRAGebO sei auf ein Vorverfahren ohne streitige Entscheidung überhaupt nicht anwendbar. Auch bei Anwendbarkeit dieser Vorschrift lägen ihre Voraussetzungen hier nicht vor.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. Mai 1994 und des Sozialgerichts Münster vom 26. November 1993 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffenen Urteile.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Die Klägerin ist zwar berechtigt, die von ihrem Bevollmächtigten in Rechnung gestellten Kosten in eigenem Namen gegenüber dem Beklagten geltend zu machen (BVerwG, NJW 1986, 2128; Schroeder-Printzen, SGB X. § 63 Anm. 11). Ihr steht aber eine weitere als die vom Beklagten mit den angefochtenen Bescheiden festgesetzte Kostenerstattung nicht zu.
Entgegen der Ansicht des Beklagten gilt § 116 Abs. 3 Satz 2 BRAGebO auch im sog isolierten Vorverfahren. Hier liegen aber die Voraussetzungen nicht vor, unter denen die Erledigung der Rechtssache zu einer Erhöhung des Gebührenrahmens führt. Dazu fehlt es an einer gebührenrechtlich erheblichen Mitwirkungshandlung des Bevollmächtigten.
Das LSG hat zu Recht § 116 Abs. 3 Satz 2 BRAGebO auf das Vorverfahren angewendet, dem hier kein gerichtliches Verfahren gefolgt ist (isoliertes Vorverfahren). Stehen dem Bevollmächtigten für das gerichtliche Verfahren nach § 116 Abs. 1 BRAGebO Rahmengebühren zu, so gilt dieser – allerdings auf zwei Drittel ermäßigte – Gebührenrahmen auch für das isolierte Vorverfahren (BSG SozR 1300 § 63 Nrn 2 und 3). In Kenntnis der Rechtsprechung hat der Gesetzgeber mit der Vorschrift des § 116 Abs. 3 Satz 2 BRAGebO einen Anreiz geschaffen, ein Verfahren ohne streitige gerichtliche Entscheidung zu erledigen (BT-Drucks 11/6715, S 4), um so die Gerichte zu entlasten. Es spricht nichts dagegen, den um ein Drittel ermäßigten Gebührenrahmen für das isolierte Vorverfahren bei Vorliegen der Voraussetzungen entsprechend zu erhöhen. Das Argument des Beklagten, die Gerichte hätten nur bei bereits anhängigen Verfahren entlastet werden sollen, überzeugt nicht. Auch das Vorverfahren soll die Gerichte vor Überlastung schützen. Dieser Aufgabe wird es gerecht, wenn sich die Rechtssache ohne streitige Entscheidung vollständig erledigt, so daß eine Belastung der Sozialgerichte durch ein anschließendes gerichtliches Verfahren vermieden wird.
Das LSG hat eine gebührenrechtlich erhebliche Mitwirkungshandlung des Bevollmächtigten hier sowohl in dem besonders intensiven Betreiben des Vorverfahrens gesehen, als auch in einer Einwirkung auf die Klägerin, sich mit dem erteilten Abhilfebescheid zufriedenzugeben. Dem ist nicht zu folgen. Umfang, Schwierigkeit und Intensität der Tätigkeit eines Bevollmächtigten führen in keinem Fall zu einer zusätzlichen Erfolgsgebühr; sein Mitwirken bei der Erledigung einer Rechtssache nur dann, wenn der Streit wegen der Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens zwar nicht der Form, aber dem Inhalt nach vergleichsweise beigelegt wird. Denn die Erhöhung des Gebührenrahmens, der anstelle der Zusatzgebühr nach § 24 BRAGebO im sozialgerichtlichen Verfahren vorgesehen ist, soll der Tatsache Rechnung tragen, daß hier ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsrecht eine gütliche Beilegung häufig nicht durch förmlichen Verteich, der eine Gebühr nach § 23 BRAGebO auslöst, sondern durch Teilabhilfe und Teilrücknahme des Antrags erfolgt. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor.
Der Senat hat mit Beschluß vom 13. Dezember 1994 – 9 BVs 48/94 – (AnwGeb 1995, 65) im Anschluß an den 14. Senat (BSG SozR 3-1930 § 116 Nr. 4) bereits entschieden, daß nach § 116 Abs. 3 Satz 2 iVm § 24 BRAGebO von dem Bevollmächtigten ein besonderes Bemühen um eine außergerichtliche Erledigung des Rechtsstreits verlangt wird, und dafür weder die Begründung der Klage oder des Rechtsmittels ausreicht noch die bloße Erledigungserklärung; dies gilt auch dann, wenn § 116 Abs. 3 Satz 2 iVm § 24 BRAGebO entsprechend für Widerspruchsverfahren und Rechtsbeistände angewendet wird. Daran ist festzuhalten. Ein Bevollmächtigter ist gegenüber seinem Mandanten stets verpflichtet, das Vorverfahren gewissenhaft, sorgfältig und gründlich zu betreiben (vgl. § 43 Abs. 1 Satz 1 Bundesrechtsanwaltsordnung). Diese Tätigkeit wird durch eine Gebühr innerhalb des auf zwei Drittel herabgesetzten Rahmens nach § 116 Abs. 1 BRAGebO vollständig abgegolten. Eine Sondergebühr für besondere Bemühungen sieht die BRAGebO nicht vor. Der Bevollmächtigte darf aber bei der Gebührenbestimmung im Rahmen des § 12 Abs. 1 BRAGebO Umfang und Schwierigkeit der Angelegenheit berücksichtigen. Das kann in aufwendigen und komplizierten Angelegenheiten zu weitgehender Ausschöpfung des Gebührenrahmens führen.
Eine zusätzliche Erfolgsgebühr, wie in § 24 BRAGebO und in dem darauf verweisenden § 116 Abs. 3 BRAGebO vorgesehen, ist hier auch nicht wegen Mitwirkung des Bevollmächtigten an einer einem Vergleichsabschluß entsprechenden Erledigung der Rechtssache gerechtfertigt. Es fehlt am beiderseitigen Nachgeben als Grundvoraussetzung für einen Vergleich. Das Vorverfahren hat für die Klägerin mit einem vollen Erfolg geendet. Ihre Erledigungserklärung hatte nur noch deklaratorischen Charakter, nachdem der Beklagte den GdB auf 50 angehoben hatte. Das LSG leitet ein Entgegenkommen der Klägerin allein daraus ab, daß sie eine Erhöhung des GdB auf „mindestens” 50 gefordert habe und deshalb das Vorverfahren mit der Begründung eines über 50 hinausgehenden GdB hätte fortführen können. Das ist aber nicht der Fall. Dabei bleibt nämlich unberücksichtigt, daß im Schwerbehindertenverfahren um Festsetzung eines höheren GdB zumeist unbestimmte und nach oben offene Anträge gestellt werden, weil sich der (Gesamt-)GdB nicht errechnen läßt, sondern Ergebnis einer Bewertung unter Würdigung sämtlicher Einzelbehinderungen und ihrer wechselseitigen Beziehungen ist. Die Lage ist ähnlich wie bei einem unbezifferten Antrag auf Schmerzensgeld. Ein Behinderter ist nach Anhebung des GdB auf den von ihm genannten Mindestwert ebensowenig beschwert wie ein Kläger, dem die in seinem Antrag geforderte Mindestsumme an Schmerzensgeld zugesprochen wird (BGH VersR 1970, 83; 1977, 861). Es fehlt dann eine – weitergehende – Forderung, über die eine vergleichsweise Regelung getroffen werden könnte.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen