Leitsatz (amtlich)
1. Ein Versicherter kann die Feststellung begehren, daß er unter Berücksichtigung grundgesetzlicher Bestimmungen (hier: des Art 3 Abs 2 GG) nach einer gesetzlichen Vorschrift (hier: des § 25 Abs 3 AVG = § 1248 Abs 3 RVO) künftig anspruchsberechtigt sein kann; auf eine kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (auf künftige Leistung iS des § 259 ZPO) darf er bei Ungewißheit über den künftigen Eintritt wesentlicher Leistungsvoraussetzungen nicht verwiesen werden.
2. Ob die Beschränkung des vorgezogenen Altersruhegeldes auf weibliche Versicherte in § 25 Abs 3 AVG (= § 1248 Abs 3 RVO) in Zeiten ab Juni 1992 gegen Art 3 Abs 2 GG verstößt, läßt sich derzeit nicht beurteilen.
Normenkette
GG Art 3 Abs 2 Fassung: 1949-05-23; AVG § 25 Abs 3 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1248 Abs 3 Fassung: 1972-10-16; SGG § 54 Abs 4 Fassung: 1953-09-03, § 55 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 259; SGG § 55 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
SG Detmold (Entscheidung vom 16.06.1981; Aktenzeichen S 13 An 128/80) |
Tatbestand
Der am 3. Mai 1932 geborene Kläger beantragte im September 1980 nach Erfüllung der Wartezeit von 180 Monaten für die Zeit ab Vollendung seines 60. Lebensjahres (ab 1. Juni 1992) das vorgezogene Altersruhegeld, das § 25 Abs 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) nur für weibliche Versicherte vorsieht. Der Antrag wurde schon mangels Vollendung des 60. Lebensjahres abgewiesen (Bescheid vom 29. Oktober 1980). Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- vom 16. Juni 1982). Das SG hat die Klage auf Zahlung des Altersruhegeldes als zulässig, aber unbegründet angesehen: Der Kläger habe das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet, und es sei auch nicht zu übersehen, ob er bei Eintritt des Versicherungsfalles in den letzten 20 Jahren überwiegend versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei.
Mit der vom SG durch Beschluß zugelassenen Sprungrevision rügt der Kläger, da er am 1. Juni 1992 mutmaßlich die beiden vom SG verneinten Voraussetzungen erfüllen werde, habe das SG über die Verfassungswidrigkeit der unterschiedlichen Behandlung von männlichen und weiblichen Versicherten in § 25 Abs 3 AVG entscheiden müssen.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils
die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger
vorgezogenes Altersruhegeld auf Antrag ab
1. Juni 1992 gem § 25 Abs 3 AVG iVm Art 3 Abs 2
Grundgesetz -GG- zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG- ).
Entscheidungsgründe
Die Revision war zurückzuweisen. Das SG hat im Ergebnis zu Recht die Klage als unbegründet abgewiesen.
Die erhobene Klage ist allerdings entgegen der Ansicht des SG nicht als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 4 SGG zu verstehen. Zwar kann auch eine solche Klage unter den Voraussetzungen der §§ 257 ff Zivilprozeßordnung (ZPO), hier des § 259 ZPO auf eine künftige Leistung gerichtet sein. Ebenso wäre die dort geforderte Besorgnis der Nichterfüllung aufgrund der ablehnenden Haltung der Beklagten zu bejahen. Es läßt sich derzeit jedoch noch nicht beurteilen, ob der geltend gemachte Anspruch - selbst bei Erstreckung des § 25 Abs 3 AVG auf männliche Versicherte - am 1. Juni 1992 entstehen würde; insoweit ist er mit zu vielen Ungewißheiten behaftet. Nach § 25 Abs 3 AVG erhält Altersruhegeld auf Antrag auch die Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt hat, wenn sie in den letzten 20 Jahren überwiegend eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat; nach Abs 4 besteht der Anspruch neben einer entgeltlichen Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit nur, wenn die dort bestimmten Beschränkungen der Beschäftigung bzw Erwerbstätigkeit eingehalten sind. Hält man einen so frühzeitig gestellten Antrag auf das Altersgeld für wirksam (vgl dazu SozR 2200 § 1248 Nr 16), so war im maßgebenden Zeitpunkt der Verhandlung vor dem SG von den (weiteren) Leistungsvoraussetzungen nur die Wartezeit von 180 Kalendermonaten erfüllt; die übrigen Voraussetzungen (Vollendung des 60. Lebensjahres, überwiegende Pflichtversicherungszeit in den letzten 20 Jahren zuvor; keine oder nur begrenzte Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit ab Juni 1992) waren dagegen in ihrem Eintritt ungewiß oder ließen sich noch nicht beurteilen.
Nach § 123 SGG ist das Gericht indessen nicht an die Fassung der gestellten Anträge gebunden. Dem Kläger geht es ersichtlich darum, schon jetzt verbindlich geklärt zu wissen, daß er von der Leistung des § 25 Abs 3 AVG nicht ausgeschlossen ist, vielmehr unter Berücksichtigung des Art 3 Abs 2 GG zu dem Personenkreis gehört, der nach § 25 Abs 3 AVG leistungsberechtigt sein kann. Damit liegt es nahe, die Klage als Feststellungsklage iS des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG zu werten. Gegenstand einer solchen Feststellungsklage kann zwar nicht eine abstrakte Rechtsfrage sein, wie hier etwa die Frage der Verfassungswidrigkeit des § 25 Abs 3 AVG (vgl BSG SozR 2200 § 368e Nr 1; SozR 1500 § 54 Nr 12). Die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses iS des § 55 Abs 1 Nr 1 SGG umfaßt jedoch auch die Feststellung von einzelnen Rechten und Berechtigungen. Dazu gehört die hier vom Kläger begehrte Feststellung, vorzeitiges Altersruhegeld ab 1. Juni 1992 beziehen zu können, wenn er zu diesem Zeitpunkt die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 25 Abs 3 AVG iVm Art 3 Abs 2 GG erfüllt.
Der Zulässigkeit eines solchen Feststellungsbegehrens läßt sich nicht entgegenhalten, daß es dem Gesetzgeber bei Verfassungswidrigkeit des § 25 Abs 3 AVG unbenommen wäre, anstelle einer Erstreckung der Vorschrift auf männliche Versicherte die Leistung ganz zu streichen oder eine vollständig neue Regelung mit noch ungewissen Voraussetzungen und Rechtsfolgen vorzusehen. Dennoch kann sich der angeblich verfassungswidrig Benachteiligte zunächst auf den Standpunkt stellen, die vom Gesetzgeber schon beschlossene Leistungsgewährung müsse auch ihm zugute kommen. Er darf deshalb auf die dem Begünstigten eingeräumte Leistung oder auf die Feststellung des Rechts auf diese Leistung klagen, zumal er nur so entweder über eine Vorlage des Gerichts nach Art 100 GG oder nach Ausschöpfung des Rechtswegs über eine spätere Verfassungsbeschwerde die notwendige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) über die angebliche Verfassungswidrigkeit herbeiführen kann (vgl zB BVerfGE 57, 335 ff). Da die Verwirklichung des vermeintlichen Rechts die Anrufung des BVerfG und gegebenenfalls eine anschließende Neuordnung durch den Gesetzgeber fordert, kann dem Kläger auch nicht ein derzeit berechtigtes Interesse an einer baldigen Feststellung der behaupteten Leistungsberechtigung zum 1. Juni 1992 abgesprochen werden.
Die Feststellungsklage ist jedoch unbegründet. Daß die Beschränkung des in § 25 Abs 3 AVG idF durch das Rentenreformgesetz vom 16. Oktober 1972 geregelten vorgezogenen Altersruhegeldes auf weibliche Versicherte gegenwärtig nicht gegen Art 3 Abs 2 GG verstößt, hat bereits der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 17. Februar 1982 - 1 RA 1/81 - (MDR 1982, 697) entschieden. Art 3 Abs 2 GG verbietet rechtliche Regelungen, die allein an den Unterschied der Geschlechter anknüpfen; nicht ausgeschlossen sind jedoch solche Regelungen, die im Hinblick auf objektive biologische oder funktionale (arbeitsteilige) Unterschiede nach der Natur des jeweiligen Lebensverhältnisses zwischen Männern und Frauen differenzieren (BVerfGE 57, 335, 342 f mwN). Auf dieser Grundlage hat das BVerfG im ersten Witwerrentenurteil beiläufig das vorgezogene Altersruhegeld nach § 25 Abs 3 AVG aus dem Gedanken sozialen Ausgleichs gelten lassen (BVerfGE 17, 1, 9 f). Grund für die Schaffung dieser Versicherungsleistung durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) vom 23. Februar 1957 war, "daß die versicherte Frau einen Doppelberuf als Arbeitnehmer und Hausfrau erfüllt hat, der eine frühzeitige Abnutzung der Kräfte und damit frühzeitige Berufsunfähigkeit hervorruft" (BT-Drucks II/3080, 10). Der Gesetzgeber wollte dem stärkeren Kräfteverbrauch Rechnung tragen, dem seiner Ansicht nach Frauen unterlagen, die zumeist neben ihren häuslichen Verpflichtungen lange Jahre und noch im vorgerückten Alter einer Berufstätigkeit nachgegangen sind (so schon BSG SozR Nr 34 zu §1248 RVO; BSGE 46, 217, 216 und das angeführte Urteil vom 17. Februar 1982). Diese Motivation hat trotz der zwischenzeitlichen Veränderung der Stellung der Frauen in Familie und Gesellschaft und des Rollenverständnisses von Männern und Frauen auch heute noch Gewicht (vgl die eine Verfassungswidrigkeit verneinende Stellungnahme der Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag - stenografischer Bericht über die 28. Bundestagssitzung am 1. April 1981, S 1347 A). Auch das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat angenommen, daß die Ehefrau noch immer überwiegend die Hauptlast der Hausarbeit zu tragen habe (BAGE 31, 105, 112). Im übrigen kommt es im Rahmen des § 25 Abs 3 AVG nicht einmal auf die heutige Doppelbelastung, sondern auf eine solche in der Vergangenheit, zumindestens in den letzten 20 Jahren an, was durch das Erfordernis der überwiegenden versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit "in den letzten 20 Jahren" in § 25 Abs 3 AVG zum Ausdruck kommt.
Da der Kläger das Altersruhegeld erst ab dem 1. Juni 1992 beanspruchen will und könnte, müßte jedoch für die Begründetheit der Klage vorausschauend für das Jahr 1992 beurteilt werden, ob die tatsächlichen Grundlagen für die Schaffung der Vorschrift sie auch dann noch verfassungsrechtlich rechtfertigen. Bis dahin vergehen aber noch rund zehn Jahre, was vom Jahr 1992 gesehen der Hälfte des in § 25 Abs 3 AVG festgelegten Zeitraums der letzten zwanzig Jahre entspricht. Für eine solche Zeit ist eine zuverlässige Vorausschau aber nicht möglich; es läßt sich heute nicht beurteilen, wie sich die Doppelbelastung durch Beruf und Haushalt bei Frauen und Männern bis 1992 entwickeln wird. Zu einer Vorlage an das BVerfG sieht sich der Senat daher nicht veranlaßt.
Soweit der Kläger schließlich die Vorschrift des § 25 Abs 3 deswegen für verfassungswidrig hält, weil Frauen ohnedies eine höhere Lebenserwartung hätten und daher keine längere Rente benötigten, ist nicht zu erkennen, daß die Frage der Lebenserwartung bei der Schaffung des § 25 Abs 3 AVG eine Rolle gespielt hat; auch bei den anderen Rentenleistungen nach dem AVG wird der allgemeinen Lebenserwartung bestimmter Personen oder Gruppen für den Beginn und die Dauer der Rente zu Recht keine Bedeutung beigemessen.
Die Revision des Klägers war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen