Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit bei Schwerbehinderten
Leitsatz (amtlich)
1. Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO gilt einheitlich für alle Versicherten, auch für Behinderte.
2. Auch nach Inkrafttreten des § 8 SGB 4 sind Einkünfte iS des § 1247 Abs 2 RVO geringfügig, wenn sie ein Achtel der Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs 2 RVO) nicht überschreiten (Festhalten an BSG 1976-12-10 GS 2/75 = BSGE 43, 75, 85 = SozR 2200 § 1247 Nr 14).
Orientierungssatz
Schwerbehinderte mit einer MdE um 100 vH sind bei ihrem Eintritt in das Erwerbsleben nicht erwerbsunfähig gewesen, wenn sie in einer Werkstätte für Behinderte mehr als ein Achtel der Beitragsbemessungsgrenze des § 1385 Abs 2 RVO verdient haben.
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23, § 1228; SGB 4 § 8; SVBehindertenG Art 1 § 1 Fassung: 1975-05-07, § 2 Fassung: 1975-05-07, § 3 Fassung: 1975-05-07, § 8 Fassung: 1975-05-07; RVO § 1385
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 17.02.1982; Aktenzeichen L 6 J 17/80) |
SG Berlin (Entscheidung vom 14.01.1980; Aktenzeichen S 28 J 625/78) |
Tatbestand
Die 1938 geborene Klägerin beantragte 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Seit ihrer Geburt besteht bei ihr eine spastische Lähmung rechts durch Hirnverletzung. Seit April 1963 arbeitete sie als Montiererin vollschichtig in einer Werkstätte für Behinderte. Seit 1968 ist sie als Schwerbehinderte mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH anerkannt.
Durch Bescheid vom 17. November 1977 lehnte die Beklagte den Rentenantrag mit der Begründung ab, die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit sei nicht erfüllt. Es seien nämlich vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nicht die erforderlichen 60 Monate Versicherungszeit zurückgelegt worden (§ 1247 Abs 3 Buchst a der Reichsversicherungsordnung -RVO-) und die 240 Kalendermonate betragende Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nach § 1247 Abs 3 Buchst b RVO habe die Klägerin mit insgesamt 119 Kalendermonaten Versicherungszeit noch nicht erfüllt. Der Widerspruch blieb aus den gleichen Gründen erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 30. März 1978).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage durch Urteil vom 14. Januar 1980 abgewiesen, weil die Klägerin schon bei Eintritt ins Erwerbsleben erwerbsunfähig gewesen sei. Die Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 17. Februar 1982 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin sei bereits bei Aufnahme der Tätigkeit erwerbsunfähig und damit auch berufsunfähig gewesen. Deshalb treffe die Auffassung der Beklagten zu, daß weder die Wartezeit nach § 1247 Abs 3 Buchst a RVO noch die nach Buchst b dieser Vorschrift erfüllt sei.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzungen der §§ 1228 und 1247 RVO iVm den §§ 1, 2, 3, 8 des Gesetzes über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) und der §§ 103, 106, 153 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Sie macht geltend, bei Berücksichtigung des SVBG sei für die Versicherungspflicht und die Erwerbsunfähigkeit Behinderter in der Zeit vor Inkrafttreten des SVBG ein Fünftel der Leistungsfähigkeit des gesunden, normalen Beschäftigten maßgebend. Dies hätten die Vorinstanzen verkannt und deshalb die Beweisfragen an den medizinischen Sachverständigen unzutreffend formuliert, so daß die vorliegenden Gutachten schon deshalb nicht verwertbar seien. Darüber hinaus seien sie in sich widersprüchlich, weil sie bei gleichbleibender Diagnose Einbrüche im Leistungsvermögen der Klägerin in den Jahren 1976 und 1978 bestätigten.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Urteile des LSG Berlin vom 17. Februar 1982 und des SG Berlin vom 14. Januar 1980 sowie den Bescheid der Beklagten vom 17. November 1977 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. März 1978 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Mai 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren; hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils des LSG Berlin vom 17. Februar 1982 den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.
Zutreffend sind die Beklagte und die Vorinstanzen davon ausgegangen, daß die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit einheitlich in § 1247 Abs 3 Buchst a oder Buchst b RVO idF des SVG vom 7. Mai 1975 (BGBl I, 1061) geregelt ist. Weiter ist davon auszugehen, daß das SVG nicht über die in der RVO bisher geregelten Versicherungsfälle hinaus einen neuen Versicherungsfall der "weiteren Erwerbsunfähigkeit" eingeführt, vielmehr die Regelung der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO unberührt gelassen hat (so bereits Urteile des Bundessozialgerichts -BSG- vom 15. März 1978 in BSGE 46, 73, 76 = SozR 2200 § 1253 Nr 6 und 12. Dezember 1979 in BSGE 49, 202, 204 = SozR 2200 § 1247 Nr 28).
Die somit für alle Versicherten und also auch für die als Arbeitnehmer gegen Entgelt beschäftigten Behinderten geltende Regelung des § 1247 Abs 2 RVO hat das LSG indes nicht hinreichend beachtet. Erwerbsunfähig ist danach der Versicherte, der infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder von Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann. Dabei kommt es nicht darauf an, welcher Art, Intensität und Qualität die Anforderungen an den Erwerbstätigen sind, also auch nicht darauf, ob die Erwerbstätigkeit auf einem "normalen" oder auf einem "behindertengerechten" Arbeitsplatz ausgeübt wird, sofern es sich nur um eine entgeltliche Tätigkeit zu Erwerbszwecken handelt. Auch die medizinische Beurteilung eines Erwerbstätigen als "erwerbsunfähig", schließt nicht aus, daß er Arbeiten von wirtschaftlichem Wert verrichtet, entsprechend entlohnt wird und auf Grund der dadurch ausgelösten Versicherungspflicht wirksame Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet (vgl BSG in SozR 2200 § 1247 Nrn 12 und 30). Das LSG hat verkannt, daß nach den Entscheidungen des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 192, 195 ff = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO) und vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1247 Nr 14) die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wirtschaftlich zu interpretieren ist, dh die Arbeitsleistung muß wirtschaftlich iS des Erzielens von "mehr als nur geringfügigen Einkünften" verwertbar sein. Damit im Einklang hat der Große Senat des BSG bereits in seiner Entscheidung vom 11. Dezember 1969 aaO bei vollschichtig tätigen Versicherten die Erwerbsunfähigkeit nicht allein deshalb bejaht, weil sie in ihrer Arbeitsleistung qualitativ und quantitativ hinter dem Normalmaß zurückbleiben (vgl BSGE 30, 201, 202). Dies muß seit Inkrafttreten des SVBG am 1. Juli 1975 umsomehr gelten, als nach den in §§ 1 bis 3 und 8 dieses Gesetzes getroffenen Regelungen grundsätzlich davon auszugehen ist, daß auch ein Behinderter die ihm verbliebene Erwerbstätigkeit verwerten und damit ein Arbeitsentgelt erzielen kann. Da die Klägerin seit April 1963 als Montiererin vollschichtig beschäftigt war und damit jedenfalls eine Erwerbstätigkeit "in gewisser Regelmäßigkeit" ausgeübt hat, könnte ihre Erwerbsunfähigkeit bei Aufnahme der Beschäftigung nur angenommen werden, wenn die durch die Erwerbstätigkeit erzielten Einkünfte nicht mehr als geringfügig iS des § 1247 Abs 2 RVO gewesen wären oder die Erwerbstätigkeit von Anfang an unzumutbar auf Kosten der Gesundheit erfolgt wäre. Da für letzteres nach der von den Tatsacheninstanzen eingeholten fachärztlichen Beurteilung kein Anhalt besteht, ist insoweit die vom LSG übernommene Angabe der Klägerin maßgebend, seit April 1963 als Montiererin vollschichtig gearbeitet und monatlich 380,-- DM verdient zu haben. Daraus ergibt sich nämlich, daß die Klägerin seit dieser Zeit trotz ihrer erheblichen Behinderung, die seit 1968 schwerbehindertenrechtlich mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 100 vH bewertet wird, als Arbeitnehmerin gegen Entgelt beschäftigt und deshalb nach § 1227 Abs 1 Nr 1 RVO versicherungspflichtig war, soweit es sich dabei nicht um eine nach § 1228 RVO in der jeweils gültigen Fassung versicherungsfreie Beschäftigung handelte. Nähere Feststellungen hierzu, - insbesondere zur Höhe des Entgelts während der offenbar von April 1963 bis zu dem wohl vor dem Rentenantrag liegenden, im angefochtenen Urteil aber nicht genau festgehaltenen Ausscheiden aus dem Beschäftigungsverhältnis - sind bisher nicht getroffen worden.
Die somit recht erhebliche Frage des Erzielens von mehr als nur geringfügigen Einkünften durch Erwerbstätigkeit ist, wie der Große Senat des BSG unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung (BSGE 19, 147, 152; 30, 192, 208) im Beschluß vom 10. Dezember 1976 aaO ausgeführt hat, danach zu entscheiden, ob die Einkünfte ein Achtel der Beitragsbemessungsgrenze des § 1385 Abs 2 RVO erreichen oder nicht. Der Große Senat hat dabei nach der damaligen Rechtslage die Grenze für die Versicherungspflicht einerseits und die Erwerbsunfähigkeit andererseits als im Prinzip identisch beurteilt. Die Identität der "unteren" Grenze für die Versicherungspflicht und der "oberen" Grenze für die Erwerbsunfähigkeit ist zwar inzwischen verloren gegangen. Denn § 8 des Vierten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 4) vom 23. Dezember 1976 hat eine von der Definition des Großen Senats abweichende und für verschiedene Zeitabschnitte geänderte Bestimmung des Begriffs der geringfügigen Beschäftigung gebracht. Dies kann nach der Überzeugung des Senats jedoch nicht dazu führen, im Rahmen des § 1247 Abs 2 RVO den Begriff der geringfügigen Einkünfte abweichend von der Entscheidung des Großen Senats im Sinne des § 8 SGB 4 zu interpretieren. In § 1247 Abs 2 RVO ist nämlich keine Verweisung auf den Begriff der geringfügigen Beschäftigung in § 8 SGB 4 aufgenommen und somit eine Abweichung von der genannten Entscheidung des Großen Senats nicht vorgeschrieben. Wenn der Gesetzgeber somit für verschiedene Zeiträume zwar Änderungen der jeweiligen Voraussetzungen für eine geringfügige Beschäftigung für erforderlich gehalten, andererseits die geringfügigen Einkünfte iS des § 1247 Abs 2 RVO unverändert gelassen hat, können beide Begriffe nicht deckungsgleich verstanden werden (vgl im Ergebnis ebenso RVO Ges Komm § 1247 Anm 7 mit dem Hinweis auf BSG SozR 2200 § 1247 Nr 24 S 42).
Das LSG wird bei seiner Entscheidung über die Frage des Eintritts von Erwerbsunfähigkeit während der Beschäftigung der Klägerin hinsichtlich der etwa als geringfügig anzusehenden Einkünfte von dem vom Großen Senat des BSG für maßgebend erklärten Achtel der Beitragsbemessungsgrenze des § 1385 Abs 2 RVO auszugehen und anhand der im einzelnen festzustellenden Monatseinkünfte der Klägerin zu prüfen und zu entscheiden haben, ob die Klägerin vor dem Eintritt einer so verstandenen Erwerbsunfähigkeit 60 Beitragsmonate zurückgelegt hat. Sollte dies zu bejahen sein, so wird der Rentenanspruch davon abhängen, ob für die Klägerin die Möglichkeit des Erzielens von mehr als nur geringfügigen Einkünften nach Erfüllung der Wartezeit iS des § 1247 Abs 3 Buchst a RVO weggefallen ist. Auch hierzu bedarf es ggf zusätzlicher Feststellungen unter Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung des BSG (vgl insbesondere SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 78).
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil des LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1660816 |
Breith. 1984, 310 |