Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsfähigkeit bzw Erwerbsunfähigkeit einer Behinderten
Orientierungssatz
1. Die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten ist wirtschaftlich zu interpretieren. Seine Arbeitsleistung muß wirtschaftlich iS des Erzielens von "mehr als nur geringfügigen Einkünften" verwertbar sein.
2. Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO gilt einheitlich für alle Versicherten und damit auch für Behinderte; er ist nicht erfüllt, solange der Versicherte noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (vgl BSG 9.9.1983 5b RJ 90/82 = SozR 2200 § 1247 Nr 41).
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Bremen (Entscheidung vom 24.11.1983; Aktenzeichen L 1 J 6/83) |
SG Bremen (Entscheidung vom 02.02.1983; Aktenzeichen S 6 J 35/81) |
Tatbestand
Die 1927 geborene Klägerin ist seit ihrer Geburt geistig behindert. In der Zeit vom 2. September 1963 bis zum 15. März 1980 war sie in einer Werkstätte für Behinderte zunächst als Küchenhelferin und sodann als Montagearbeiterin während der betriebsüblichen Arbeitszeiten und zu den in diesem Betrieb üblichen - niedrigen - Löhnen beschäftigt. Ab 1968 wurden für sie Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet. Die 1978 erstmals beantragte Versichertenrente lehnte die Beklagte durch bindend gewordenen Bescheid vom 4. September 1978 mit der Begründung ab, nach ärztlicher Beurteilung sei die Klägerin zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes einer lohnbringenden Beschäftigung nachzugehen. Einen weiteren Antrag auf Versichertenrente lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 6. November 1980 unter Hinweis auf die Gründe des vorangegangenen Bescheides wiederum ab. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 6. Januar 1981).
Mit Urteil vom 2. Februar 1983 hat das Sozialgericht (SG) Bremen die Beklagte unter Aufhebung dieser Bescheide verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 30. Juni 1980 hin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren. Aus dem von der Beklagten am 21. September 1978 erstellten Versicherungsverlauf gehe hervor, daß die Klägerin Pflichtbeiträge für mehr als nur geringfügige Einkünfte entrichtet habe. Sie sei somit bis 1980 nicht als erwerbsunfähig anzusehen. Erst das Hinzutreten einer erheblichen Arthrose im Bereich der Knie- und Hüftgelenke sowie eines Bluthochdrucks zu der angeborenen Behinderung habe dazu geführt, daß sie die Arbeit in der Behindertenwerkstätte nicht mehr verrichten könne. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Bremen durch Urteil vom 24. November 1983 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klägerin habe seit dem 1. Januar 1968 zumindest fünf Jahre lang 1/8 derjenigen Arbeitsleistung erbracht, die von einem gesunden Beschäftigten zu erbringen gewesen sei. Sie habe in zwei Monaten des Jahres 1964, während der gesamten Jahre 1965 - 1968 und in zehn Monaten des Jahres 1975 - insgesamt also 60 Monate - mit ihren Einkünften 1/8 der Beitragsbemessungsgrenze des § 1385 Abs 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) überschritten, damit die Wartezeit des § 1247 Abs 3 Buchst a RVO erfüllt und beanspruche somit zu Recht wegen des seit Dezember 1978 abgesunkenen Leistungsvermögens die vom SG zugesprochene Rente.
Mit der zugelassenen Revision macht die Beklagte geltend, die Klägerin sei schon von Kind an erwerbsunfähig. Deshalb sei die Feststellung des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit im Dezember 1978 unzulässig. Die vom Bundessozialgericht (BSG) als maßgeblich angesehene Grenze eines Achtels der Bemessungsgrenze des § 1385 Abs 2 RVO habe die Klägerin nach den Ausführungen des LSG nur in geringfügigem Umfang (1 Jahr) überschritten. Endlich sei das vom LSG bestätigte Urteil des SG zu unbestimmt, weil darin nicht zum Ausdruck komme, von welchem Zeitpunkt an die Beklagte zur Rentenzahlung verurteilt werde.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beklagte, die seit 1968 die Versicherungsbeiträge der Klägerin entgegengenommen habe, dürfe ihr nachträglich, sobald es um die Gewährung von Leistungen gehe, nicht für die gleiche Zeit die Erwerbsfähigkeit und damit die Versicherungspflicht absprechen.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet, weil dessen Feststellungen zur abschließenden Entscheidung nicht ausreichen.
Die Bindungswirkung des Bescheides der Beklagten vom 4. September 1978 steht der Erteilung eines der Klägerin günstigeren Bescheides gemäß § 44 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB 10) nicht entgegen, wenn bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewandt worden ist und deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind (vgl Art 2 § 37 Abs 1 und § 40 Abs 2 SGB 10).
Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß der Anspruch der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit die Erfüllung einer der in § 1247 Abs 3 vorgeschriebenen Wartezeiten voraussetzt. Da die Klägerin erstmals im Januar 1968 einen Beitrag zur Rentenversicherung entrichtet hat, erfüllt sie die Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit nur, wenn sie vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Ob dies zutrifft, kann aufgrund der vom LSG getroffenen Feststellungen allerdings noch nicht abschließend beurteilt werden.
Wie der erkennende Senat im Anschluß an die Entscheidungen des Großen Senats des BSG vom 11. Dezember 1969 (BSGE 30, 192, 195 = SozR Nr 20 zu § 1247 RVO) und vom 10. Dezember 1976 (BSGE 43, 75, 79 = SozR 2200 § 1247 Nr 14) mit Urteil vom 9. September 1983 (SozR 2200 § 1247 Nr 41) entschieden hat, ist die Erwerbsfähigkeit eines Versicherten wirtschaftlich zu interpretieren. Seine Arbeitsleistung muß wirtschaftlich im Sinne des Erzielens von "mehr als nur geringfügigen Einkünften" verwertbar sein. Schon in dem zuerst genannten Urteil hat der Große Senat bei vollschichtig tätigen behinderten Versicherten Erwerbsunfähigkeit nicht bereits deshalb bejaht, weil sie in ihrer Arbeitsleistung qualitativ und quantitativ hinter dem Normalmaß zurückbleiben (vgl) BSGE 30, 201, 202). Diese Rechtsauffassung hat durch das Gesetz über die Sozialversicherung Behinderter (SVBG) insofern ihre Bestätigung erfahren, als nach den in den §§ 1 bis 3 und 8 dieses Gesetzes getroffenen Regelungen grundsätzlich davon auszugehen ist, daß auch ein Behinderter die ihm verbliebene Erwerbsfähigkeit verwerten und damit Arbeitsentgelt erzielen kann. Der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 RVO gilt mithin einheitlich für alle Versicherten und damit auch für Behinderte; er ist nicht erfüllt, solange der Versicherte noch eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit ausüben oder mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann.
Nach den von der Revision nicht beanstandeten und somit gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für den Senat bindenden Feststellungen des LSG war die Klägerin in der Zeit vom 2. September 1963 bis zum 15. März 1980 in einer Behindertenwerkstätte beschäftigt; für sie sind jedoch erst ab 1. Januar 1968 Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet worden. Auf die von § 1247 Abs 3 Buchst a RVO geforderte Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten sind gemäß § 1250 Abs 1 RVO nur Zeiten anzurechnen, für die nach Bundesrecht Beiträge wirksam entrichtet worden sind oder als entrichtet gelten, sowie die in § 1251 aufgeführten Zeiten ohne Beitragsleistung, zu denen aber beitragslose Beschäftigungszeiten nicht gehören. Da die Klägerin ab Beginn der Beitragsleistung (1. Januar 1968) ihre Tätigkeit in der Behindertenwerkstatt regelmäßig ausgeübt hat, erfüllt sie die Wartezeit des § 1247 Abs 3 Buchst a RVO, sofern sie während 60 Beitragsmonaten mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielt hat.
Die Frage, was geringfügige Einkünfte in diesem Sinne sind, ist mit Wirkung ab 1. Januar 1984 in dem durch Art 1 Nr 33 des Haushaltsbegleitgesetzes 1984 (BGBl I S 1532) in § 1247 Abs 2 RVO eingefügten Satz 2 geregelt. Danach sind geringfügige Einkünfte im Sinne des Satzes 1 monatliche Einkünfte in Höhe von 1/7 der monatlichen Bezugsgröße. Damit ist die für die Zeit davor geltende Rechtsprechung des Großen Senats des BSG abgelöst, nach der Einkünfte iS des § 1247 Abs 2 RVO geringfügig sind, wenn sie 1/8 der Beitragsbemessungsgrenze (§ 1385 Abs 2 RVO) nicht überschreiten. Diese Begrenzung der geringfügigen Einkünfte hat der erkennende Senat auch in dem bereits erwähnten Urteil vom 9. September 1983 für die Zeit nach Inkrafttreten des § 8 SGB 4 aus den dort genannten Gründen zur Anwendung gebracht. Sie gilt daher auch für den vorliegenden Fall.
Schon die Feststellung, in welchen Monaten die Klägerin für mehr als nur geringfügige Einkünfte Beiträge entrichtet hat, läßt sich dem Urteil des LSG nicht mit der erforderlichen Sicherheit entnehmen. Eine Feststellung fehlt jedenfalls für die Jahre 1969 bis 1974 und ab 1976. Der Senat läßt offen, ob insoweit auf die Akten der Beklagten zurückgegriffen werden kann, auf die sich das LSG zur Ergänzung seiner Sachverhaltsdarstellung bezogen hat. Denn selbst wenn insoweit die ausdrücklichen Feststellungen des LSG zu ergänzen wären, ließe sich daraus nicht entnehmen, wann und aufgrund welcher weiteren Gesundheitsstörungen die zunächst noch erwerbsfähige Klägerin erwerbsunfähig geworden ist. Das LSG spricht zwar davon, daß das "Leistungsvermögen" der Klägerin nach der Beurteilung durch Frau Dr. seit Dezember 1978 als aufgehoben anzusehen ist, unterscheidet davon aber ausdrücklich die Rechtsfrage nach der Erwerbsunfähigkeit und trifft insoweit keine vom Urteil des SG abweichende Feststellung, das die Klägerin "bis 1980 nicht als erwerbsunfähig" ansieht.
Auf die Feststellung, wann und durch welche weitere Abnahme ihres Leistungsvermögens die Klägerin erwerbsunfähig geworden ist, von welchem Zeitpunkt an sie also "auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen" konnte (§ 1247 Abs 2 RVO), kommt es aber entscheidend an. Denn auf die Wartezeit können nach § 1247 Abs 3 RVO im Falle des Buchstaben a nur vor Eintritt der Erwerbsunfähigkeit zurückgelegte Versicherungszeiten angerechnet werden; andererseits ist nach Erfüllung der Wartezeit für den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit gemäß § 1247 Abs 1 RVO noch der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit erforderlich. Letzteres wird nicht durch die Einstellung der Arbeit nach Ableistung der für die Wartezeit erforderlichen Beitragsmonate allein erreicht. Erforderlich ist vielmehr eine die Arbeitseinstellung bedingende und unter die Grenze des § 1247 Abs 2 RVO reichende weitere Abnahme der Erwerbsfähigkeit (vgl insoweit Urteil des erkennenden Senats vom 9. September 1983 aaO, unter Hinweis auf SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 78).
Das LSG wird bei erneuter Verhandlung und Entscheidung des Rechtsstreits zu klären und festzustellen haben, ob die Klägerin bereits vor oder erst nach Erfüllung der Wartezeit für die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit - und ggf von welchem Zeitpunkt an - erwerbsunfähig geworden ist. Daraus wird sich dann auch die von der Beklagten vermißte Klarstellung des Rentenbeginns nach § 1290 Abs 1 oder Abs 2 RVO ergeben, um die im Falle erneuter Zurückweisung der Berufung das Urteil des SG zu ergänzen wäre.
Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen