Leitsatz (amtlich)
§ 206 BGB ist entsprechend auf die Frist zur Entrichtung freiwilliger Beiträge nach § 140 Abs 1 AVG (= § 1418 Abs 1 RVO) anzuwenden (Fortführung von BSG 23.11.1979 12 RK 19/79 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 32).
Orientierungssatz
1. Nach § 140 Abs 1 AVG sind Pflichtbeiträge und freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung unwirksam, wenn sie nach Ablauf von zwei Jahren nach Schluß des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, entrichtet werden.
2. Die Tatsache, daß der Gesetzgeber solche - sich uU über Jahre erstreckenden - Unsicherheiten berücksichtigt, zeigt, daß das Beitragsrecht trotz des Bedürfnisses nach Wahrung versicherungsrechtlicher Grundsätze die Beachtung allgemeiner Rechtsgedanken (Treu und Glauben, Auswirkungen schwebender Verfahren, § 206 BGB) auch dort nicht ausschließt, wo sie erhebliche Verzögerungen der Beitragsentrichtung zur Folge haben. Deshalb ist auch im Falle einer - nicht durch Bestellung eines gesetzlichen Vertreters "kompensierten" - Geschäftsunfähigkeit eines Nachentrichtungswilligen dem Schutz seiner Interessen der Vorrang vor denen der Versichertengemeinschaft einzuräumen. Schwerwiegende Nachteile für den Versicherungsträger sind daraus nicht zu erwarten. Die Zahl der in Betracht kommenden Fälle ist begrenzt. Bewußte Manipulationen dürften in solchen Fällen nicht ins Gewicht fallen.
3. Die Ablaufhemmungsfrist des § 206 BGB ist nicht nur auf § 140 Abs 1 AVG, sondern auch auf Abs 3 anzuwenden, obgleich diese Fristen Ausschlußfristen sind.
4. § 206 BGB kann lediglich dann nicht auf Ausschlußfristen angewandt werden, wenn das Ziel der Ausschlußfrist für eine klare schematische Zeitgrenze spricht.
5. Eine solche schematische Zeitgrenze enthält nicht die Antragsfrist nach Art 2 § 51a Abs 3 ArVNG.
Normenkette
BGB § 206 Abs 1, § 104; RVO § 1418 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; AVG § 140 Abs 1 Fassung: 1977-06-27; RVO § 1418 Abs 3; AVG § 140 Abs 3; ArVNG Art 2 § 51a Abs 3; AnVNG Art 2 § 49a Abs 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 27.03.1981; Aktenzeichen L 1 An 119/79) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 18.07.1979; Aktenzeichen S5 An 34/79) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung für die Zeit von Mai 1946 bis Dezember 1952.
Der Kläger hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges keine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung mehr ausgeübt. Er war ohne Arbeit. Jedenfalls ab 1950 hatte er jedoch Einkünfte aus Bienenzucht.
Der Kläger behauptet, daß er in der fraglichen Zeit und auch danach geschäftsunfähig gewesen sei. Entmündigt wurde er erst durch Beschluß des Landgerichts Oldenburg vom 26. Juli 1972. Dieser Beschluß wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 1. Juni 1977 jedoch wieder aufgehoben. Der Kläger ist der Auffassung, daß aufgrund eines von seinem Pfleger mit Schreiben vom 18. Februar 1972 gestellten Antrages sowie aufgrund seiner eigenen, früher und später gestellten Anträge die Entrichtung zumindest von freiwilligen Beiträgen für die streitige Zeit zulässig sei.
Die Beklagte lehnte einen entsprechenden Antrag vom Dezember 1973 mit Bescheid vom 19. Juli 1974 mit der Begründung ab, daß die Frist des § 140 Abs 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) versäumt sei.
Widerspruch, Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 1981, Urteil des Sozialgerichts Oldenburg -SG- vom 18. Juli 1979; Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen -LSG- vom 27. März 1981).
Das LSG hat die Auffassung vertreten, daß die Entrichtung von Pflichtbeiträgen von vornherein ausscheide und damit auch die Anwendung von § 140 Abs 2 und 3 AVG, weil der Kläger nicht versicherungspflichtig beschäftigt gewesen sei und eine Pflichtversicherung als Selbständiger erst später eingeführt worden sei. Die für freiwillige Beiträge geltende Ausschlußfrist von zwei Jahren nach § 140 Abs 1 AVG aF sei schon zur Zeit des ersten Rentenantrages im Mai 1959 abgelaufen gewesen. Eine Wiedereinsetzung gegenüber einer Ausschlußfrist komme nicht in Betracht. Eine Bereiterklärung könne den Verwaltungsakten vor dem 1. Dezember 1968 nicht entnommen werden; daß der Kläger jedenfalls bis zur Rentenreform 1957 eine solche Erklärung nicht abgegeben habe, räume er selbst ein.
Mit der Revision macht der Kläger geltend, daß die Ausschlußfrist des § 140 Abs 1 AVG zum Zeitpunkt der Antragstellung im Februar 1972 noch nicht abgelaufen gewesen sei. Auch auf diese Frist sei § 206 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) anzuwenden. Danach laufe die Frist für einen Geschäftsunfähigen ohne gesetzlichen Vertreter erst sechs Monate nach dem Zeitpunkt ab, an dem der Mangel der Vertretung behoben gewesen sei. Da der Pfleger erst mit Wirkung vom 2. Februar 1972 bestellt worden sei, sei der Antrag vom 18. Februar 1972 rechtzeitig.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie unter Aufhebung der Bescheide der Beklagten vom 19. Juli 1974 und 29. Juli 1980 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Januar 1981 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die Nachentrichtung von Beiträgen zur Angestelltenversicherung für die Zeit vom 1. Mai 1946 bis 31. Dezember 1952 zu gestatten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie ist der Auffassung, daß § 206 BGB nicht eingreife, weil das Entmündigungsverfahren erst nach Ablauf der Zweijahresfrist des § 140 Abs 1 AVG aF begonnen habe.
Beide Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Rechtsstreit durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) entschieden wird.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Der Kläger hat sich zutreffend darauf berufen, daß § 206 BGB auch im Zusammenhang mit der Ausschlußfrist des § 140 Abs 1 AVG aF zu beachten ist (vgl Urteil des erkennenden Senats vom 23. November 1979 - 12 RK 19/79 - SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 32 und die dort zitierte Rechtsprechung des Bundessozialgerichts -BSG-). Dies macht weitere Ermittlungen erforderlich, die das LSG noch nachholen muß.
Der erkennende Senat hat in dem genannten Urteil im Anschluß an die bisherige Rechtsprechung des BSG ausgeführt, daß § 206 Abs 1 BGB grundsätzlich auch auf Ausschlußfristen anzuwenden sei. Dies sei lediglich dann nicht der Fall, wenn die vom Gesetzgeber mit der Ausschlußfrist verfolgten Ziele für eine klare schematische Zeitgrenze sprächen. Für die Antragsfrist nach Art 2 § 51a Abs 3 Satz 1 des Gesetzes zur Neuregelung des Rechts der Rentenversicherung der Arbeiter (ArVNG) hat der Senat ein solches Bedürfnis verneint. Er hat dies damit gerechtfertigt, daß das Ziel des Gesetzes, dem angesprochenen Personenkreis eine tragfähige Alters- und Invaliditätssicherung zu ermöglichen, Vorrang habe vor dem Bedürfnis, mit Hilfe der Antragsfrist dem Versicherungsträger einen Überblick über die neu begründeten oder veränderten Versicherungsverhältnisse zu verschaffen. Dabei hat er - wie der Hinweis auf die fünfjährige Zahlungsfrist zeigt - auch berücksichtigt, daß ohnehin mit einer sich über längere Zeit erstreckenden Abwicklung der Nachentrichtung zu rechnen war.
Diese Beurteilung kann allerdings nicht ohne weiteres für § 140 AVG gelten. Der Normzweck ist hier ein anderer. Grundsätzlich sind nämlich freiwillige Beiträge laufend zu entrichten, vor allem um zu vermeiden, daß durch Abwarten eines günstigen Zeitpunktes Risikoverschiebungen zu Lasten des Versicherungsträgers eintreten. Die zweijährige Frist für die Einzahlung freiwilliger Beiträge, die bis 1979 galt, war bereits eine Vergünstigung für die Versicherten.
Die enge zeitliche Begrenzung für die der Nachentrichtung freiwilliger Beiträge (seit 1980 müssen sie bis zum Ablauf des Kalenderjahres entrichtet werden, für das sie gelten sollen) gilt aber nicht einmal für den Normalfall durchgängig. Nach § 142 Abs 1 AVG kann dieser Zeitraum ua durch rechtzeitige Bereiterklärung verlängert werden. Darüber hinaus läßt § 142 Abs 2 AVG eine spätere Entrichtung zu, wenn zwischenzeitlich eine Beitragsstreitigkeit oder ein Rentenverfahren geschwebt hat, das (so BSG im Urteil vom 30. Juni 1970 - 4 RJ 267/68 -, teilweise abgedruckt in DRV 1970, 408) einen inneren Bezug zu der Entrichtung freiwilliger Beiträge hat. Damit ist der Unsicherheit Rechnung getragen worden, in der sich der Betroffene in bezug auf Sinn und Auswirkung der Beitragsentrichtung befindet, solange die damit zusammenhängenden Fragen nicht geklärt sind.
Die Tatsache, daß der Gesetzgeber solche - sich uU über Jahre erstreckenden - Unsicherheiten berücksichtigt, zeigt, daß das Beitragsrecht trotz des Bedürfnisses nach Wahrung versicherungsrechtlicher Grundsätze die Beachtung allgemeiner Rechtsgedanken (Treu und Glauben, Auswirkungen schwebender Verfahren, § 206 BGB) auch dort nicht ausschließt, wo sie erhebliche Verzögerungen der Beitragsentrichtung zur Folge haben. Deshalb ist auch im Falle einer - nicht durch Bestellung eines gesetzlichen Vertreters "kompensierten" - Geschäftsunfähigkeit eines Nachentrichtungswilligen dem Schutz seiner Interessen der Vorrang vor denen der Versichertengemeinschaft einzuräumen. Schwerwiegende Nachteile für den Versicherungsträger sind daraus nicht zu erwarten. Die Zahl der in Betracht kommenden Fälle ist begrenzt. Bewußte Manipulationen dürften in solchen Fällen nicht ins Gewicht fallen.
Der Senat hält es auch nicht für vertretbar, in dem für Pflichtbeiträge geltenden § 140 Abs 3 AVG (Zulassung der Beitragsnachentrichtung in Fällen besonderer Härte) die äußerste Grenze für die Beitragsentrichtung überhaupt, dh auch für die Entrichtung freiwilliger Beiträge, zu sehen. Diese Vorschrift ist nicht auf die besonderen Bedürfnisse Geschäftsunfähiger zugeschnitten. Im übrigen dürften ihre Voraussetzungen bei Geschäftsunfähigen regelmäßig erfüllt sein. Das Erfordernis, daß der Versicherte "jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt" beobachtet habe, entfällt bei ihnen. Die besondere Härte müßte in dem Fehlen einer ausreichenden Alters- und Invaliditätssicherung gerade wegen ihrer Geschäftsunfähigkeit gesehen werden (s dazu auch Urteil des erkennenden Senats vom 15. Mai 1984 - 12 RK 48/82 -).
Das LSG hat keine Feststellungen darüber getroffen, wann und wielange die Voraussetzungen des § 206 BGB beim Kläger gegeben waren. Dieser hat zwar vorgetragen, daß in einer Parallelsache festgestellt worden sei, er sei bis mindestens Januar 1959 geschäftsunfähig gewesen. Dieses Vorbringen reicht aber weder aus, um den Klaganspruch zu begründen, noch ist es im vorliegenden Rechtsstreit ohne weiteres verwertbar. Das LSG muß deshalb die fraglichen Feststellungen noch nachholen.
Es wird uU auch darüber entscheiden müssen, wann der Kläger erstmalig einen Antrag auf Nachentrichtung freiwilliger Beiträge gestellt hat, der als Bereiterklärung angesehen werden kann, und warum es desungeachtet nicht zu einer Beitragsentrichtung gekommen ist.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen