Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 06.05.1988) |
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Mai 1988 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die vom Kläger beantragte Förderung eine vorangegangene berufliche Tätigkeit voraussetzt (§ 42 Abs 2 AFG), oder ob diese gemäß § 42 Abs 2 Satz 3 Nr 2 iVm § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 1 AFG entbehrlich ist, weil die Maßnahme notwendig war, um den arbeitslosen Kläger beruflich einzugliedern.
Der 1963 geborene Kläger hatte eine Berufsausbildung zum Großhandelskaufmann durchlaufen und war von Juni 1983 bis Juni 1985 in diesem Beruf tätig. Anschließend besuchte er vom 5. August bis 20. Dezember 1985 einen von der Beklagten geförderten Lehrgang „EDV für Kaufleute”, der eine Ausbildung zum kaufmännischen Anwendungs-Operator zum Ziel hatte. Für die Zeit danach (ab 21. Dezember 1985) meldete er sich arbeitslos und bezog Arbeitslosengeld (Alg). Die Vermittlungsbemühungen der Beklagten hatten aber keinen Erfolg. Der Kläger konnte lediglich aufgrund eigener Bemühungen zwischenzeitlich vom 3. Februar 1986 bis 27. März 1986 eine Beschäftigung als Packer finden. Der Beklagten teilte er auf dem dafür vorgesehenen Formular mit, daß er in dem genannten Zeitraum befristet tätig sei, meldete sich anschließend am 1. April 1986 wieder arbeitslos und bezog danach weiterhin Alg. Dieses wurde ihm bis 18. September 1986 gezahlt, später aber für die Zeit vom 1. Juli bis 18. September 1986 zurückgefordert, nachdem die Beklagte am 26. September 1986 erfahren hatte, daß der Kläger bereits ab 1. Juli 1986 an der Bildungsmaßnahme teilgenommen hatte, deren Förderung Gegenstand dieses Verfahrens ist. Im Mai 1986 stellte der Kläger den Antrag auf Förderung der hier streitigen Maßnahme zur Weiterbildung zum Programmierer, die am 1. Juli 1986 begann und vom Kläger auch angetreten wurde. Dieser Antrag wurde abgelehnt, da der Kläger die nach § 42 Abs 2 AFG erforderliche berufliche Zwischentätigkeit von mindestens zwei Jahren nicht aufzuweisen habe (Bescheid vom 24. Juni 1986). Noch vor dieser Entscheidung hatte der Kläger am 2. Juni 1986 einen erneuten Förderungsantrag gestellt, der aus den gleichen Gründen mit Bescheid vom 23. Oktober 1986 abgelehnt wurde. Dieser zweite Bescheid enthielt ebenfalls die Rechtsmittelbelehrung, daß Widerspruch erhoben werden könne. Die Widerspruchsstelle ist davon ausgegangen, daß dieser Bescheid Gegenstand des Verfahrens geworden ist, das der Kläger durch seinen Widerspruch gegen den ersten Bescheid eingeleitet hat. Der Widerspruch gegen den ersten Bescheid wurde wegen Fristversäumnis als unzulässig verworfen. Der zweite Bescheid wurde inhaltlich bestätigt (Widerspruchsbescheid vom 7. November 1986).
Auf die Klage hat das Sozialgericht Koblenz (SG) den Bescheid der Beklagten vom 23. Oktober 1986 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Unterhaltsgeld für die Maßnahme „Programmierer” zu gewähren (Urteil vom 13. August 1987).
Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz -LSG- vom 6. Mai 1988). Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf Förderung nach § 42 Abs 2 Satz 3 Nr 2 AFG bejaht, weil die Bildungsmaßnahme notwendig gewesen sei, um den arbeitslosen Kläger beruflich einzugliedern. Der Beklagten sei es in einer Zeit von mehr als sechs Monaten nicht gelungen, den Kläger aufgrund der im Lehrgang „EDV für Kaufleute” erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu vermitteln. Demgegenüber habe der Kläger nach Durchlaufen der zweiten Maßnahme kurzfristig eine als dauerhaft anzusehende Anstellung finden können.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 42 Abs 2 AFG. Die Notwendigkeit einer Bildungsmaßnahme könne nur nach der Dauer der Vermittlungsbemühungen seit der letzten Arbeitslosigkeit beurteilt werden. Jeder Vermittlungsvorgang sei ein Prozeß für sich, bei dem nur begrenzt auf frühere Erkenntnisse zurückgegriffen werden könne. Die Auskunft des Trägers der Fortbildungsmaßnahme „EDV für Kaufleute”, daß nach drei Monaten 25 bis 50 % der Maßnahmeteilnehmer noch keine Arbeit aufgenommen haben, beweise nicht, daß danach eine Vermittlung nur noch schwer möglich sei, sondern zeige, daß der Zeitraum von drei Monaten für eine Vermittlung zu kurz sei. Zu Unrecht sehe das LSG in der erfolgreichen Vermittlung nach der zweiten Maßnahme einen Hinweis auf deren Notwendigkeit, weil diese bei Bewilligung der Maßnahme nicht feststehe (BSG SozR 4100 § 44 Nr 46).
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben sowie die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er bezieht sich im wesentlichen auf das angefochtene Urteil.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Das LSG hat zu Recht die weitere Bildungsmaßnahme für notwendig erachtet, um den arbeitslosen Kläger beruflich einzugliedern (§ 44 Abs 2 Satz 2 Nr 1 AFG). Die Förderung der weiteren Bildungsmaßnahme zum Programmierer war nicht dadurch ausgeschlossen, daß der Kläger seit Beendigung des Lehrgangs „EDV für Kaufleute” nicht beruflich tätig gewesen ist (§ 42 Abs 2 Satz 3 Nr 2 AFG).
Die Beklagte weist allerdings zu Recht darauf hin, daß die Entscheidung, ob eine Bildungsmaßnahme zur beruflichen Eingliederung notwendig ist, eine Prognose enthält, die unter Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände zu erfolgen hat. Maßgeblich ist in erster Linie die Einschätzung der zukünftigen Vermittlungsmöglichkeiten. Dafür steht der Beklagten ein Beurteilungsspielraum zu (vgl dazu Gagel/Jülicher AFG vor § 33 Anm 28).
Die Anforderungen dieser Prognose sind in der Anordnung des Verwaltungsrats der Bundesanstalt für Arbeit über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung -AFuU- hier in der Fassung der 8. Änderungsanordnung vom 28. Januar 1986 (ANBA 1986, 566) festgelegt worden. Danach ist die Förderung notwendig, wenn „dem Antragsteller in absehbarer Zeit kein Arbeitsplatz vermittelt werden kann, der mindestens einen Berufsabschluß … oder eine vergleichbare Qualifikation verlangt” (§ 10 Abs 1 Satz 3 AFuU). Von dieser Bestimmung ist auszugehen (BSG SozR 4100 § 44 Nr 37). Als Zeitraum für die Prognose hat der erkennende Senat in einem anderen Fall bereits eine Dauer von knapp sechs Monaten nach Bescheiderteilung für angemessen angesehen (SozR 4100 § 44 Nr 46 S 111).
Aus § 10 Abs 1 Satz 3 AFuU ist indes nicht zu entnehmen, daß die Dauer der Arbeitslosigkeit und die Vermittlungserfahrungen in der Vergangenheit keine Bedeutung haben. Regelmäßig wird sich die Notwendigkeit einer weiteren Bildungsmaßnahme zunächst im Prozeß der Arbeitssuche erweisen müssen. Die Erfolglosigkeit der Bemühungen vermittelt auch Anhaltspunkte für die Prognose, ob der Arbeitslose in Zukunft leicht oder schwer zu vermitteln sein wird. Sie können in den Gründen des Scheiterns der bisherigen Vermittlungsbemühungen gefunden werden. Auch ein längerer Zeitablauf kann für sich genommen einen bedeutsamen Hinweis geben. Rechtsprechung und Schrifttum verstehen den Begriff „absehbare Zeit” dahin, daß eine Vermittlung auch in „angemessener” Zeit möglich sein muß (vgl BSG SozR 4100 § 44 Nrn 33, 46 und 47; SozR 4460 § 12 Nr 5; s ferner Gagel/Jülicher AFG § 44 Anm 5 S 5 oben). Dies bezieht sich nicht nur auf die regelmäßig für Vermittlungen erforderliche Zeit, sondern enthält auch den Gedanken der Zumutbarkeit. Wer schon lange auf einen Arbeitsplatz wartet, kann nicht unbegrenzt vertröstet werden; wer im Prozeß der Arbeitssuche längere Zeit gegenüber Mitbewerbern unterlegen ist, erweist sich als schwerer zu vermitteln, hat eine schlechtere Prognose und bedarf deshalb in stärkerem Maße der Förderung zu einer besseren Qualifikation. Dementsprechend ist regemäßig nach einer Zeit erfolgloser Arbeitssuche zunächst eine Prognose der Vermittlungsaussichten auf dem in Betracht kommenden Arbeitsmarkt zu stellen. Auf welchen Zeitraum sich diese zu erstrecken hat, richtet sich nach den Besonderheiten des betreffenden Berufsfeldes sowie nach Dauer und Erfahrungen der bisherigen Vermittlungsbemühungen – im übrigen auch nach der Dauer der beabsichtigten Maßnahme. Danach kann auch im vorliegenden Fall der Zeitraum von sechs Monaten nach Bescheiderteilung, selbst wenn man unterstellt, daß sich aus den Erfahrungen der Arbeitsvermittlung keine besonderen Unterbringungsschwierigkeiten ergeben haben, nicht als unangemessen angesehen werden.
Die Beklagte hatte bei Bescheiderteilung bereits mehr als sechs Monate (21. Dezember 1985 bis 24. Juni 1986) Gelegenheit gehabt, den Kläger aufgrund seiner Qualifikation zu vermitteln.
Die zwischenzeitliche Beschäftigung als Packer durfte die Vermittlungsbemühungen der Beklagten nicht unterbrechen. Allerdings wird nach Nr 36 der Vermittlungsrichtlinien (ANBA 1962, Beilage September 1962 S 29) die Vermittlung bei kurzfristiger zwischenzeitlicher Beschäftigung nur dann weitergeführt, wenn sich diese bei Arbeitern auf nicht mehr als eine Woche und bei Angestellten auf nicht mehr als einen Monat erstreckt. Die Richtlinien entsprechen jedoch insoweit nicht dem Gesetz. Sie verfehlen die Zielsetzungen in § 2 Nr 1 AFG und § 3 Abs 2 Nr 3 SGB I. Weder durch die aufgeführten sehr kurzfristigen Beschäftigungen noch durch befristete Beschäftigungen von mehreren Wochen werden nämlich Bemühungen, den Arbeitslosen dauerhaft in das Arbeitsleben einzugliedern, entbehrlich. In all diesen Fällen steht vielmehr die alsbaldige neue Arbeitslosigkeit bereits fest. Sie bedeutet für den Betroffenen die erneute Unterbrechung seines Arbeitslebens und für die Versichertengemeinschaft erneute Unkosten, die im Einzelfall vermeidbar wären, wenn die Beklagte den Vorrang der Vermittlung mit der gebotenen Konsequenz verwirklichen würde.
Der Beklagten kann allenfalls die Befugnis eingeräumt werden, bei befristeten Arbeitsverhältnissen, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, den Betroffenen darauf hinzuweisen, daß die Vermittlung nicht fortgesetzt wird, wenn er sie nicht ausdrücklich verlangt. Das von der Beklagten entwickelte Formular für die Anzeige von Zwischenbeschäftigungen sieht jedoch nicht einmal eine Rubrik vor, aus der sie ersehen kann, welche Tätigkeit der einzelne aufgenommen hat und ob er etwa unterwertig beschäftigt ist. So ist ihr auch hier verborgen geblieben, daß überdies wegen der Unterwertigkeit der vom Kläger übernommenen Zwischenbeschäftigung keine Rechtfertigung bestand, die Vermittlungsbemühungen zu unterbrechen. Das Formular läßt erkennen, daß das Interesse der Beklagten darauf gerichtet war, Überzahlungen zu vermeiden, nicht aber darauf, sich zugleich die notwendigen Informationen für ihre Vermittlungsaufgabe zu verschaffen.
Da die Beklagte somit den gesetzlich festgelegten Vorrang der Vermittlung unbeachtet gelassen hat, kann sie nicht mit dem Einwand gehört werden, der Vermittlungsvorgang sei unterbrochen worden und die beiden Phasen der Arbeitslosigkeit des Klägers seien getrennt zu betrachten.
Allerdings reichen, wie bereits dargelegt, Feststellungen zum zeitlichen Umfang der bisherigen Verfügbarkeit allein nicht aus, die Notwendigkeit einer weiteren Bildungsmaßnahme zu belegen. Es müssen vielmehr, um eine Grundlage für die Dauer der Prognosefrist zu gewinnen, noch weitere Feststellungen zu den Aussichten des Arbeitsmarkts in der Zukunft hinzukommen. Insoweit hat aber die Beklagte die Feststellung des LSG, daß auch in Zukunft bis zum Ablauf weiterer sechs Monate (21. Dezember 1986 = 1 Jahr ab Beginn der Arbeitslosigkeit) eine Vermittlung des Klägers nicht zu erwarten sei, nicht mit Erfolg angegriffen. Der erkennende Senat hat bereits darauf hingewiesen, daß es sich bei der Prognose um eine hypothetische Tatsache handelt, die wie jede andere Tatsache vom Revisionsgericht nur dann zu überprüfen ist, wenn sie mit ordnungsgemäßen Verfahrensrügen angegriffen ist (BSG SozR 4100 § 44 Nr 46 S 1112 und Nr 47 S 1115 f).
Das ist hier nicht geschehen. Soweit die Beklagte rügt, das LSG habe die Auskunft des Maßnahmeträgers falsch gedeutet, ist darauf hinzuweisen, daß das LSG diese Überlegungen nur nebenbei mit der Einleitung „bezeichnenderweise …” angestellt und im übrigen zutreffend den regelmäßig für eine Vermittlung erforderlichen Zeitraum als nicht allein maßgeblich angesehen hat. Gleiches gilt für die Rüge, das LSG habe zu Unrecht die schnelle Vermittlung nach Durchlaufen der zweiten Maßnahme verwertet. Daß die Ausführungen des LSG zur Berücksichtigung späterer Ereignisse für die Beurteilung der Notwendigkeit weiterer Förderung im Widerspruch zu BSG SozR 4100 § 44 Nr 46 S 111 stehen, wie die Beklagte behauptet, ist nicht ersichtlich. Das LSG wertet vielmehr die späteren Ereignisse lediglich „als weiteres Indiz”, nachdem es bereits aus den vorherigen Vermittlungsbemühungen eine Prognose für die Zukunft abgeleitet hat.
Es ist auch nicht ersichtlich, daß das Gericht hier einen Beurteilungsspielraum der Beklagten verletzt hat. Dies wäre nur der Fall, wenn die Beklagte im Verfahren eine sachlich begründete Prognose in den rechtlichen Grenzen der Norm vorgetragen hätte. Eine solche im einzelnen begründete Prognose hat sie aber im gesamten Verfahren nicht vorgelegt.
Die Revision der Beklagten konnte deshalb keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen