Leitsatz (amtlich)

Für den Anspruch auf Vollwaisenrente genügt es, daß der Tod eines Elternteils durch einen Arbeitsunfall verursacht worden ist.

 

Normenkette

RVO § 595 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. August 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat den Klägern die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Kläger, der am 19. Februar 1955 geborene Hans L der sich bis Juni 1974 in Schulausbildung befand, und die am 14. November 1960 geborene G. L, sind die Kinder des am 14. April 1961 an den Folgen eines Arbeitsunfalles verstorbenen Unternehmers Fritz L und seiner Ehefrau M. Nach dem Tode des bei der Beklagten versicherten Vaters gewährte diese den Klägern mit Bescheid vom 10. August 1961 Rente in Höhe von je einem Fünftel des anrechnungsfähigen Jahresarbeitsverdienstes (JAV) des Verstorbenen. Nach dem Tode der Mutter am 14. April 1972 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Juli 1973 die Erhöhung der Renten der Kläger auf je drei Zehntel des JAV ab, da der Tod der Mutter in keinem inneren ursächlichen Zusammenhang mit dem entschädigten Arbeitsunfall stehe, die Kläger somit keine Vollwaisen i. S. des § 595 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien.

Gegen den Bescheid haben die Kläger beim Sozialgericht (SG) Osnabrück Klage erhoben. Das SG hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 1973 verurteilt, dem Kläger zu 1) Waisenrente in Höhe von drei Zehnteln des JAV vom 14. April 1972 bis 30. Juni 1974 und der Klägerin zu 2) Waisenrente in Höhe von drei Zehnteln des JAV vom 14. April 1972 an z. Hd. des Vormundes zu gewähren. Soweit die Beklagte zu Leistungen an den Kläger zu 1) verurteilt worden ist, hat das SG die Berufung zugelassen (Urteil vom 11. März 1975).

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 19. August 1975). Zur Begründung hat es u. a. ausgeführt: Die Kläger hätten nach dem Tode ihrer Mutter Anspruch auf Gewährung der Rente in Höhe von je drei Zehnteln des JAV des verstorbenen Vaters. Durch den Tod der Mutter sei eine wesentliche Änderung in den für die Feststellung der Leistungen maßgebend gewesenen Verhältnissen i. S. des § 622 Abs. 1 RVO eingetreten, die Renten der Kläger seien daher neu festzustellen. Gemäß § 595 Abs. 1 RVO sei eine Rente von drei Zehnteln des JAV auch dann zu gewähren, wenn die Halbwaise durch ein späteres, mit dem Eintritt des entschädigten Versicherungsfalles nicht zusammenhängendes Ereignis Vollwaise werde. Weder der Wortlaut des § 595 Abs. 1 RVO noch der Zweck der Vorschrift verlangten eine kausale Verknüpfung zwischen dem Arbeitsunfall und dem Tode des zunächst überlebenden Elternteils. Bei der Höhe der Ansprüche auf Hinterbliebenenrenten werde es nicht nur auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Versicherungsfalles abgestellt. So berücksichtigten z. B. die §§ 590 Abs. 2, 596 Abs. 1 und 598 Abs. 2 und 3 RVO nachfolgende Entwicklungen. Auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Unfallversicherung spreche für die Gewährung einer Vollwaisenrente nach dem unfallunabhängigen Tod des zweiten Elternteils. Ebenso entstehe im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 1269 RVO, dem der § 595 RVO nachgebildet sei, und im Versorgungsrecht gemäß § 46 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ein Anspruch auf Vollwaisenrente mit dem Tode des zweiten Elternteils während der Rentenlaufzeit.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Die im gesamten Entschädigungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätsgrundsätze seien auch bei § 595 RVO zu beachten. Nur der durch den Versicherungsfall entstandene Schaden sei zu entschädigen. Abzustellen sei für die Entschädigungsleistung auf die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles. Der spätere unfallunabhängige Tod des zunächst überlebenden Elternteils sei wie ein nicht zu entschädigender Nachschaden zu bewerten. Er bleibe wegen der fehlenden Kausalität für die Rentenberechtigung der Waisen außer Betracht. Bei den Vorschriften der §§ 590 Abs. 2, 596 Abs. 1,598 Abs. 2 und 3 RVO handele es sich nicht um dem § 595 RVO vergleichbare Regelungen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 19. August 1975 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 9. Juli 1973 abzuweisen.

Die Kläger halten das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich damit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Die Kläger haben vom Todestag ihrer Mutter an Anspruch auf Vollwaisenrente.

Zutreffend hat das LSG entschieden, daß für den Anspruch eines Kindes auf Vollwaisenrente nach § 595 Abs. 1 RVO nicht auch der Tod des zweiten Elternteiles ursächlich mit dem zu entschädigenden Arbeitsunfall des ersten Elternteils zusammenhängen muß.

Gemäß § 595 Abs. 1 RVO erhält jedes Kind des durch Arbeitsunfall Verstorbenen bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres eine Waisenrente von drei Zehnteln des JAV, wenn es Vollwaise ist, und von einem Fünftel des JAV, wenn es Halbwaise ist. Danach muß ein versicherter Elternteil den Tod durch Arbeitsunfall erlitten haben. Insoweit ist ein Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und dem Tode des Versicherten erforderlich. Der für die Höhe der Waisenrente maßgebliche Umstand, daß das Kind nicht nur Halb-, sondern Vollwaise ist, braucht dagegen nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Arbeitsunfall des Versicherten zu stehen.

Der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nach der Kausalitätstheorie von der wesentlichen Bedingung (BSG 1, 72, 76; st. Rspr.; vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. bis 8. Aufl., S. 480 d ff m. N.) geforderte Kausalzusammenhang wird vom Gesetz regelmäßig durch Formulierungen wie: "bei" (z. B. § 548 Abs. 1 RVO: "bei einer Tätigkeit"), "auf" (z. B. § 555 Abs. 1 RVO: "auf einem dazu notwendigen Wege"), "zu" (z. B. § 555 Abs. 2 RVO: "zur Vorbereitung von Maßnahmen"), "durch" (z. B. § 552 Nr. 1 RVO: "durch Elementarereignisse"), "infolge" (z. B. § 581 Abs. 1 RVO: "infolge des Arbeitsunfalles") ausgedrückt. Der Wortlaut des § 595 Abs. 1 S. 1 1. Alternative RVO (... "wenn es Vollwaise ist ...") enthält keine auf einen Kausalzusammenhang zwischen Unfall und die Stellung als Vollwaise hinweisende Formulierung.

Auch die Systematik der Vorschriften über die Leistungen bei Tod durch Arbeitsunfall in der gesetzlichen Unfallversicherung (§§ 589 bis 602 RVO) spricht nicht für das Erfordernis eines Kausalzusammenhangs für jedes leistungserhöhende Normmerkmal mit dem zu entschädigenden Arbeitsunfall. Die Leistungsvorschriften der gesetzlichen Unfallversicherung sind zwar vorwiegend kausal strukturiert, weil sie unabhängig von einer konkreten Bedarfssituation des Hinterbliebenen auf die Schädigungsursache abstellen. Für die Höhe der Entschädigungsleistungen sind aber auch von der Schädigungsursache unabhängige Umstände, die sich auf die persönlichen Verhältnisse des einzelnen Hinterbliebenen gründen, zu berücksichtigten (z. B. § 590 Abs. 2 RVO: Erhöhung der Witwenrente bei Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit der Witwe). In § 595 Abs. 1 RVO hat der Gesetzgeber ebenfalls besondere persönliche Verhältnisse, die Vollwaiseneigenschaft des Kindes, als Anlaß für eine Erhöhung der Entschädigungsleistung unabhängig von der Schädigungsursache genommen. Hiernach muß für den Eintritt der Vollwaiseneigenschaft i. S. des § 595 Abs. 1 RVO der Tod des zweiten Elternteiles nicht kausal auf den zu entschädigenden Arbeitsunfall zurückzuführen sein.

Der Schutzzweck des § 595 RVO bedingt ebenfalls nicht einen Kausalzusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall, aufgrund dessen Entschädigung gewährt wird, und dem Tod des zweiten Elternteiles. Die Hinterbliebenenrenten der gesetzlichen Unfallversicherung sollen die wirtschaftlichen Nachteile, die durch den Tod des Versicherten entstanden sind, ausgleichen (für die Waisenrente Brackmann, aaO, S. 588 c; für die Waisenrente nach dem BVG: BSG 10, 108, 110 f.; BSG SozR 3100 § 46 Nr. 1). Sie haben damit auch Unterhaltsersatzcharakter (für die Hinterbliebenenrente allgemein BVerfGE 39, 169, 187). Wegen der größeren wirtschaftlichen Schutzbedürftigkeit von Vollwaisen ist bei ihnen, entsprechend dem Normzweck des § 595 RVO, der pauschalierte Rentenanteil von einem Fünftel auf drei Zehntel des anrechnungsfähigen JAV erhöht.

Auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu vergleichbaren Regelungen des BVG, das von der (versorgungsrechtlichen) Kausalitätstheorie der wesentlichen Bedingung (BSG 1, 72, 76; 16, 216, 217) bestimmt wird, ist für die Vollwaiseneigenschaft i. S. der §§ 46, 47 BVG nicht Voraussetzung, daß der Tod des zweiten Elternteiles auf dem Versorgungsfall beruht, aufgrund dessen Entschädigung gewährt wird (vgl. BSG 10, 108, 112; BSG SozR 3100 § 46 Nr. 1).

Hiernach ist es für die Vollwaiseneigenschaft des § 595 Abs. 1 RVO nicht erforderlich, daß auch der zunächst überlebende Elternteil durch denselben Arbeitsunfall verstorben ist (Brackmann, aaO, S. 588 e; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 595 Anm. 4 f; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 600, S. 3; Linthe, BG 1963, Sonderheft zum UVNG, S. 5, 17; Ilgenfritz, BABl 1963, S. 350, 357; Krüger, BG 1963, S. 460, 461; Strecker, SozVers 1964, S. 246). Vollwaise i. S. des § 595 Abs. 1 RVO ist auch das Kind, bei dem der Tod des zweiten Elternteiles auf einer anderen Ursache beruht.

Da der für die Höhe der Waisenrente maßgebende Umstand, daß das Kind Halb- oder Vollwaise ist, nicht kausal auf dem Unfall des Versicherten zu beruhen braucht, ergibt sich hier auch nicht das von der Beklagten in den Vordergrund ihrer Ausführungen gerückte Problem des Vor- und Nachschadens.

Die Kläger sind die Kinder ihres durch Arbeitsunfall verstorbenen Vaters. Mit dem Tod ihrer Mutter sind sie Vollwaisen i. S. des § 595 Abs. 1 RVO geworden. In den Verhältnissen, die für die Feststellung der Halbwaisenrente der Kläger maßgebend gewesen sind, ist durch den Tod der Mutter eine wesentliche Änderung eingetreten. Gemäß § 622 Abs. 1 RVO waren die von der Beklagten zu erbringenden Leistungen von ihr neu festzustellen.

Der Kläger zu 1) hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Gewährung der Vollwaisenrente in Höhe von drei Zehnteln des anrechnungsfähigen JAV vom 14. April 1972 an, dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse (§ 623 Abs. 1 RVO), bis zum 30. Juli 1974, dem Ende seiner Schulausbildung (§§ 595 Abs. 2, 583 Abs. 3 RVO).

Die Klägerin zu 2) hat gegen die Beklagten einen Anspruch auf Gewährung der Vollwaisenrente in Höhe von drei Zehnteln des anrechnungsfähigen JAV bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres (§ 595 Abs. 1 RVO).

Die Revision der Beklagten mußte daher zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1652168

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