Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattungsanspruch bei Ermessensleistungen. Übernahme des Restbetrages. zumutbarer Eigenanteil. Ermessensausübung im Einzelfall. wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Versicherten

 

Leitsatz (amtlich)

Hat ein Versicherter ausschließlich den Barbetrag nach § 21 Abs 3 BSHG (Taschengeld) zur Verfügung, so darf dieser Betrag im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 182c Abs 3 RVO nicht als Einkommen berücksichtigt werden.

 

Orientierungssatz

1. Für § 104 Abs 1 SGB 10 ist gleichgültig, ob es sich bei der von dem vorrangig verpflichteten Leistungsträger zu erbringenden Sozialleistung um eine Pflichtleistung handelt oder um eine Leistung, welche nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu gewähren ist (s ua BSG vom 14.5.1985 - 4a RJ 21/84 = SozR 1300 § 104 Nr 6). Der Erstattungsanspruch setzt lediglich voraus, daß der vorrangig verpflichtete Leistungsträger dem Grunde nach und in dem geltend gemachten Umfang leistungspflichtig ist bzw war (§ 104 Abs 1 und 3 SGB 10). Der Erstattungsanspruch scheitert auch nicht daran, daß der Bescheid, mit dem die Beklagte der Versicherten gegenüber die Übernahme der Restkosten abgelehnt hat, bindend geworden ist (vgl SozR 1300 § 104 Nr 6).

2. Die Hilfsbedürftigkeit eines Versicherten iS des BSHG rechtfertigt es, zusammen mit einer niedrigen Rente, einen Härtefall anzunehmen (vgl BSG vom 28.10.1981 - 3 RK 3/81 = BSGE 52, 267 = SozR 2200 § 182c Nr 6). Insoweit ist von der bisherigen Rechtsprechung weiterhin auszugehen.

3. Mit dem Festlegen einer allgemeinen Einkommensgrenze wird die wirtschaftliche Situation der einzelnen Versicherten nicht immer genügend erfaßt (vgl zuletzt BSG vom 9.3.1982 - 3 RK 67/81 = SozR 2200 § 182c Nr 7). Die vom Gesetzgeber ausdrücklich erwartete Einzelfallentscheidung (Nachweise in BSG vom 18.2.1981 - 3 RK 2/80 = SozR 2200 § 182c Nr 3) erfolgt erst innerhalb der Grenzen, welche ganz allgemein einen Härtefall ausmachen, denn auch bei Vorliegen eines Härtefalles ist dem Versicherungsträger die Entscheidung auferlegt, in welcher Höhe die konkreten Umstände die Übernahme der Restkosten rechtfertigen oder gar verlangen.

 

Normenkette

RVO § 182c Abs 3 Fassung: 1981-12-22; BSHG § 21 Abs 3; SGB 10 § 104 Abs 1 Fassung: 1982-11-04; SGB 10 § 104 Abs 3 Fassung: 1983-12-22

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Entscheidung vom 08.08.1986; Aktenzeichen S 73 Kr 136/85)

 

Tatbestand

Der Kläger verlangt von der beklagten Betriebskrankenkasse (BKK) Sozialleistungen in Höhe von 123,59 DM erstattet, welche er für die zahntechnische Leistungen bei Zahnersatz von Frau Johanna R. (R.) erbracht hat. Das Sozialgericht -SG- (Urteil vom 8. August 1986) hat die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

Frau R. ist als Rentenbezieherin bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Der Kläger, der die Rente der Versicherten (1984 rund 260,-- DM) auf sich übergeleitet hatte, gewährt ihr Heimpflege sowie einen monatlichen Barbetrag (Taschengeld) von 144,70 DM (1986).

Im Jahre 1984 entstanden Kosten in Höhe von 1.195,70 DM für zahntechnische Leistungen bei Zahnersatz. Hierzu zahlte die BKK nach ihrer Satzung einen Zuschuß in Höhe von 60 vH. Entsprechend ihren "Richtlinien für die teilweise Übernahme der Restkosten nach § 182c Reichsversicherungsordnung (RVO) in Härtefällen

verbliebenen Kosten trug der Kläger; sie werden im anhängigen Verfahren von der Beklagten erstattet verlangt. Der von der Beklagten der Versicherten insoweit erteilte ablehnende Bescheid ist von dieser nicht mit der Klage angefochten worden.

In dem angefochtenen Urteil vom 8. August 1986 hat das SG ausgeführt, dem geltend gemachten Anspruch fehle es an einer gesetzlichen Grundlage. Der satzungsgemäß gewährte Zuschuß für zahntechnische Leistungen in Höhe von 60 vH der Gesamtkosten entspreche der in § 182c Abs 1 RVO festgelegten Höchstgrenze. Die Übernahme des ganzen oder teilweisen Restbetrages stehe nach § 182c Abs 3 RVO im Ermessen der beklagten BKK. Dieses Ermessen füllten die vom Vorstand erlassenen Richtlinien fehlerfrei aus. Danach könne in Härtefällen von den verbliebenen Restkosten die Hälfte übernommen werden. Dies entspreche der durch § 182c Abs 3 RVO eingeräumten Möglichkeit, den vom Versicherten zu zahlenden Restbetrag "ganz oder teilweise" zu übernehmen. Es sei zutreffend und sachgerecht, daß der Träger der Sozialhilfe den verbliebenen Betrag zu tragen habe.

Der Revisionskläger ist der Auffassung, die beklagte BKK habe bei Erlaß ihrer Richtlinien von dem eingeräumten Ermessen nicht in dem gesetzlichen Umfang Gebrauch gemacht und daher im vorliegenden Falle ermessensfehlerhaft gehandelt. § 182c Abs 3 RVO enthalte keine Ermächtigung zum Erlaß von Richtlinien; vielmehr sei im Rahmen dieser Norm eine individuelle Ermessensprüfung vorzunehmen. Dabei sei zu prüfen, ob die besonderen Umstände des jeweiligen Einzelfalles die völlige Übernahme des Restbetrages durch den Träger der Krankenversicherung nahelegen oder gebieten. Angesichts ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse sei dies bei Frau R. notwendig und angemessen.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. August 1986 aufzuheben und die Revisionsbeklagte zu verurteilen, an den Revisionskläger Kostenersatz in Höhe von 123,59 DM zu leisten, hilfsweise, die Revisionsbeklagte unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu einer Neubescheidung zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie ist nach ihrer Überzeugung nicht zur Übernahme der gesamten Restkosten verpflichtet oder auch nur berechtigt. § 182c Abs 3 RVO enthalte eine Regelung, wonach in Härtefällen die Restkosten zwar ganz oder teilweise übernommen werden könnten; dies müsse jedoch nicht geschehen. Die Geschichte dieser Norm, welche zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen habe beitragen wollen, bestätige, daß der Träger der Sozialhilfe nicht vollständig von seiner Kostenlast habe befreit werden sollen. Die Richtlinien der Beklagten gestatteten eine ausreichende Überprüfung im Einzelfall. Diese seien auch mit Rücksicht auf die bisherige angespannte Haushaltslage erlassen worden, auf welche Rücksicht zu nehmen nicht nur geboten, sondern auch von der Rechtsprechung anerkannt sei.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat Erfolg. Die beklagte BKK hat von dem ihr durch § 182c Abs 3 RVO eingeräumten Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (§ 54 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-). Sie hat angesichts der besonderen Umstände des hier gegebenen Sachverhalts den gesamten Restbetrag zu zahlen.

Der Kläger stützt seinen Erstattungsanspruch auf § 104 Abs 1 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10). Danach hat ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger, der Sozialleistungen erbracht hat, ohne daß - wie hier - die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB 10 vorliegen, gegenüber dem Leistungsträger einen Erstattungsanspruch, gegen den die Berechtigte (hier: Frau R.) vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Im vorliegenden Falle ergibt sich die Nachrangigkeit des vom Kläger gemäß § 37 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) gewährten Anteils an den Kosten der zahnärztlichen Behandlung der Versicherten aus § 2 BSHG. Hiervon gehen SG und die Beteiligten auch zutreffend aus.

Für § 104 Abs 1 SGB 10 ist gleichgültig, ob es sich bei der von dem vorrangig verpflichteten Leistungsträger zu erbringenden Sozialleistung um eine Pflichtleistung handelt oder um eine Leistung, welche nach seinem pflichtgemäßen Ermessen zu gewähren ist (s ua BSG SozR 1300 § 104 Nr 6). Der Erstattungsanspruch setzt lediglich voraus, daß der vorrangig verpflichtete Leistungsträger - hier: die Beklagte - dem Grunde nach und in dem geltend gemachten Umfang leistungspflichtig ist bzw war (§ 104 Abs 1 und 3 SGB 10). Der Erstattungsanspruch scheitert auch nicht daran, daß der Bescheid, mit dem die Beklagte der Versicherten gegenüber die Übernahme der Restkosten abgelehnt hat, bindend geworden ist (vgl BSG SozR 1300 § 104 Nr 6).

Im vorliegenden Falle zahlte die Beklagte zunächst den nach § 182c Abs 1 RVO und ihrer Satzung höchstmöglichen Zuschuß von 60 vH zu den Kosten der zahntechnischen Behandlung der Versicherten. Weiterhin übernahm sie die Hälfte der restlichen Kosten, so daß noch 20 vH der Gesamtkosten offenstehen, welche der Kläger trug und nunmehr geltend macht.

Die Übernahme des Restbetrages steht nach § 182c Abs 3 RVO im Ermessen der Krankenkasse; sie "kann" ihn nach dieser Vorschrift "ganz oder teilweise" übernehmen, wenn ein Härtefall vorliegt. Davon, daß ein solcher Härtefall hier gegeben ist, gehen SG und die Beteiligten angesichts der wirtschaftlichen Notlage der Versicherten zu Recht aus. Die Hilfsbedürftigkeit der Versicherten im Sinne des BSHG rechtfertigt es, zusammen mit ihrer niedrigen Rente (1984: 256,27 DM), einen Härtefall anzunehmen (BSGE 52, 267 = BSG SozR 2200 § 182c Nr 6). Insoweit ist von der bisherigen Rechtsprechung weiterhin auszugehen. Zwar ist sie zu § 182c Satz 3 RVO in der Fassung des Krankenversicherungs-Kostendämpfungsgesetzes (KVKG § 182c Satz 3 RVO aF) ergangen. Seinerzeit verlangte die Vorschrift als Voraussetzung für die teilweise Übernahme des Restbetrages das Vorliegen eines "besonderen" Härtefalles. Der Gesetzgeber hat das Wort "besonderen" gestrichen, weil es "als entbehrlich angesehen" wurde (BT Drucks 9/798 S 12); eine inhaltliche Neubestimmung des unbestimmten Rechtsbegriffs "Härtefall" ist mit der Änderung also nicht verbunden.

Die Beklagte hat in den hier zugrunde gelegten Richtlinien ihres Vorstandes die Übernahme des Restbetrages iS von § 182c Abs 3 RVO von bestimmten "monatlichen Einnahmen zum Lebensunterhalt des Versicherten" abhängig gemacht. Insoweit hat sie eine gewisse Staffelung vorgenommen (Nr 1) und "begründete Ausnahmefälle" zugelassen (Nr 2). Weitere Sachgesichtspunkte enthalten die Richtlinien nicht. Insbesondere ist für sämtliche Härtefälle im Sinne dieser Richtlinien festgelegt, daß von dem verbliebenen Restbetrag die Hälfte übernommen wird. Damit hat die Beklagte den Rahmen des ihr in § 182c Abs 3 RVO eingeräumten Ermessens verkannt.

Mit dem Festlegen einer allgemeinen Einkommensgrenze wird die wirtschaftliche Situation der einzelnen Versicherten nicht immer genügend erfaßt (BSG SozR 2200 § 182c Nrn 3, 4, 6, 7). Die vom Gesetzgeber ausdrücklich erwartete Einzelfallentscheidung (Nachweise in BSG SozR 2200 § 182c Nr 3) erfolgt erst innerhalb der Grenzen, welche ganz allgemein einen Härtefall ausmachen, denn auch bei Vorliegen eines Härtefalles ist dem Versicherungsträger die Entscheidung auferlegt, in welcher Höhe die konkreten Umstände die Übernahme der Restkosten rechtfertigen oder gar verlangen. Es erscheint dem Senat nicht möglich, den zumutbaren Eigenanteil an den Kosten für zahntechnische Leistungen (§ 182c Abs 3 RVO) ohne Rücksicht auf die im Einzelfall zur Verfügung stehenden Mittel einerseits und die Höhe des Restbetrages andererseits ermessensgerecht festzulegen. Hiervon geht auch das Gesetz aus; denn es verlangt eine abgestufte Entscheidung unabhängig vom Vorliegen eines Härtefalles. Demgegenüber sehen die Richtlinien der Beklagten eine gleichartige Behandlung aller Härtefälle vor. Sie gewährleisten daher nicht ohne weiteres eine fehlerfreie Ermessensentscheidung im Einzelfall.

An dieser Rechtslage würde eine angespannte Haushaltslage bei der Beklagten nichts ändern. Sie würde möglicherweise dazu führen, daß im Rahmen von § 182c Abs 3 RVO nur in begrenztem Rahmen Mittel zur Verfügung gestellt werden können. Dies kann hier jedoch unerörtert bleiben, weil die Beklagte jedenfalls Leistungen im Rahmen von § 182c Abs 3 RVO erbringt. Auch innerhalb eines wirtschaftlich eingeengten Rahmens ist jedoch den Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen und nicht, wie das hier vorgesehen ist, in allen Härtefällen stets derselbe Anteil des Restbetrages zu übernehmen.

In dem hier zu entscheidenden Streit ist die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Versicherten bisher außer Betracht geblieben. Diese gebot es nach der Überzeugung des Senats, den gesamten Restbetrag im Rahmen von § 182c Abs 3 RVO zu übernehmen. Jede andere Entscheidung gegenüber der Versicherten wäre unsachgerecht gewesen. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen. Frau R. stand nur der Barbetrag, das sogenannte Taschengeld, zur Verfügung, das sie für die Übernahme des Eigenanteils faktisch hätte einsetzen können. Dabei handelt es sich um eine Geldleistung nach § 21 Abs 3 BSHG. Sie steht nach dem Wortlaut des Gesetzes "zur persönlichen Verfügung". Dadurch wird gewährleistet, daß die Hilfsbedürftige ein menschenwürdiges Leben führen kann, weil ein Mindestrahmen für ihre freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben ist. Daher wird nirgends angezweifelt, daß der Barbetrag zur freien Verfügung der Hilfeempfängerin stehen soll (Mergler ua, Bundessozialhilfegesetz, 4. Aufl, § 21 Rz 20; Gottschick/Giese, Das Bundessozialhilfegesetz, § 21 Rz 5.1) und ausschließlich zur Befriedigung kleiner persönlicher Bedürfnisse bestimmt ist. Zur Deckung des für den Lebensunterhalt unentbehrlichen Bedarfs ist er demgemäß nicht zu verwenden (Gottschick/Giese aaO), wie sich - bezogen auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt - ua auch daraus ergibt, daß der Barbetrag nicht für Leistungen der Krankenhilfe nach § 37 BSHG herangezogen wird.

Da die Frau R. nach den Feststellungen des SG nur über den Barbetrag verfügen konnte, war es demgemäß nicht zumutbar, sie auch nur mit einem geringen Eigenanteil an den Kosten für zahntechnische Leistungen zu belasten. Vielmehr geboten es diese Umstände, den gesamten Restbetrag nach § 182c Abs 3 RVO zu Lasten der Kasse zu übernehmen. Jede andere Entscheidung würde eine Verletzung des in dieser Norm eingeräumten Ermessens bedeuten. Aus diesem Grunde durfte der Senat entsprechend dem Klage- und Revisionsantrag erkennen, daß die Beklagte die gesamten Kosten für zahntechnische Leistungen erstatten muß.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1663313

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