Leitsatz (redaktionell)
1. Der RAM-Erl vom 1942-09-05 beschränkt sich auf die Unterbringung Geisteskranker in eine Heil- und Pflegeanstalt und bezieht sich nicht auf die stationäre Behandlung Geisteskranker in einem allgemeinen Krankenhaus oder einer Nervenklinik.
2. Die Krankenkasse ist nicht berechtigt, die ärztlich als notwendig erachtete Krankenhauspflege eines Geisteskranken in einem allgemeinen Krankenhaus zu versagen.
Normenkette
RAM/RMdIErl 1942-09-05; RVO § 184 Abs. 1
Tenor
Auf die Revision der Klägerin und des beigeladenen Landes wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 22. Mai 1962 aufgehoben.
Die Berufungen der Beklagten gegen die Urteile des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. Februar 1959 - S 9 Kr 65 und 66/58 - werden zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Der Rechtsstreit betrifft den Ersatz von Aufwendungen, die durch die Behandlung der Angehörigen von Versicherten in der Psychiatrischen und Nervenklinik der Städt. Krankenanstalten Braunschweig entstanden sind. - Das Rubrum des angefochtenen Urteils - L 4 Kr 24/59 (L 4 Kr 21/59) -, in dem der Bezirksfürsorgeverband Braunschweig-Stadt als Kläger und der Präsident des Niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig, Abteilung für Inneres - Landesfürsorgeamt - als Beigeladener bezeichnet werden, ist entsprechend den Anträgen der Revisionskläger mit Einverständnis der beklagten Kasse geändert worden.
1) Frau S (S.), deren Ehemann bei der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) versichert ist, wurde am 8. Mai 1958 von der Besatzung eines Funkstreifenwagens in das Städt. Krankenhaus B gebracht. Am 16. Mai 1958 beantragte das Städt. Krankenhaus bei der beklagten AOK einen Verpflichtungsschein für die entstehenden Krankenhauskosten für mindestens drei Wochen. In dem Antrag wurde die Aufnahme als “Notaufnahme„ bezeichnet und als ärztliche Begründung “Psychose„ angegeben. In einem am 12. Juni 1958 wiederholten Antrag ist ausgeführt, die Stationsärztin Dr. S habe bestätigt, daß Frau S. wegen schwerer Erregungszustände bei akuter Psychose unbedingt stationär behandelt werden müsse. Am 30. Mai 1958 wurde Frau S. vom Städt. Krankenhaus B zur Behandlung in die klinisch-psychiatrische Abteilung des N Landeskrankenhauses K weitergeleitet und von dort am 4. Juni 1958 wieder nach Haus entlassen. Mit Schreiben vom 23. Juni 1958 forderte das N Landeskrankenhaus K die beklagte AOK auf, die in dieser Anstalt entstandenen Kosten zu übernehmen und eine Zahlungsverpflichtung zu übersenden. Die dem Schreiben beigefügte ärztliche Stellungnahme enthält die Diagnose “akuter Erregungszustand„. Über den Krankheitsverlauf heißt es, er sei nach Behandlung mit Beruhigungsmedikamenten nach vier Tagen abgeklungen. Die Beklagte lehnte gegenüber beiden Krankenanstalten die Übernahme der Kosten ab. Auf die Anträge des Fürsorgeamts der Stadt Braunschweig vom 15. Juli und 13. August 1958, die aus öffentlichen Fürsorgemitteln übernommenen Krankenhauskosten für die Zeit vom 8. Mai bis zum 4. Juni 1958 zu erstatten, erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 20. August 1958, sie sei nur bereit, Ersatz im Rahmen der §§ 1531 ff der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Verbindung mit dem Erlaß des Reichsarbeitsministers (RAM) und des Reichsministers des Innern (RMdJ) vom 5. September 1942 über die Beziehungen der Fürsorgeverbände zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bei Unterbringung von Geisteskranken (sog. Halbierungserlaß - AN 1942, 490) zu leisten.
2) Frau K (K.), deren Ehemann ebenfalls bei der beklagten AOK versichert ist, wurde am 14. Mai 1958 wegen eines schweren psychischen Erregungszustandes als “Notfall„ von dem prakt. Arzt Dr. S, einem Kassenarzt, in die Psychiatrische und Nervenklinik des Städt. Krankenhauses B eingewiesen und dort bis zum 25. Juni 1958 behandelt. Den Antrag des Städt. Krankenhauses B vom 16. Mai 1958 auf Übersendung eines Verpflichtungsscheines für die entstehenden Krankenhauskosten, der am 12. Juni 1958 durch den Hinweis ergänzt wurde, es handele sich nach Angabe der Stationsärztin Dr. S um eine Schizophrenie, die unbedingt der stationären Behandlung bedürfe, lehnte die Beklagte ebenfalls unter Hinweis auf den Halbierungserlaß ab. In dem Schreiben vom 24. Juni 1958 führte die Beklagte u. a. aus, Frau K. sei schon mehrmals im Städt. Krankenhaus und im N Landeskrankenhaus K stationär behandelt worden; Ersatz für die Behandlungskosten sei dem Fürsorgeamt damals nach §§ 1531 ff RVO in Verbindung mit dem Erlaß vom 5. September 1942 geleistet worden. Bei diesem Standpunkt verblieb die Beklagte auch, nachdem das Fürsorgeamt ihr eine ärztliche Bescheinigung (unterzeichnet vom Chefarzt Dr. K und der Ass. Ärztin Dr. S) vorgelegt hatte, daß Frau K. wegen einer chronisch paranoiden Schizophrenie, die sich unter einer Gravidität wieder verschlimmert habe, vom 14. Mai bis zum 25. Juni behandelt worden sei, und daß die klinische Behandlung notwendig gewesen sei. Die Stadt B erhob nunmehr Klage und trug vor: Im Falle der Frau S. habe es sich um eine akute Psychose im Sinne eines regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes gehandelt, die therapeutisch durchaus zu beeinflussen sei. Frau K. habe an der Fortsetzung ihres chronischen Krankheitsprozesses gelitten; der im Mai 1958 aufgetretene akute Schub sei therapeutisch durchaus beeinflußbar gewesen und stelle eine Krankheit im Sinne der RVO dar. Die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses B sei keine Heil- und Pflegeanstalt im Sinne des Halbierungserlasses. Sie bezog sich auf eine gutachtliche Stellungnahme des Chefarztes Dr. K vom 9. Februar 1956. In dieser Stellungnahme heißt es u. a., die Psychiatrische und Nervenklinik umfasse 150 Betten, davon seien in der Nervenklinik, einem völlig offenen Haus, 100 Betten untergebracht. Bei der psychiatrischen Abteilung der Klinik mit 50 Betten handele es sich ebenfalls um eine Krankenhausabteilung im eigentlichen Sinne, die die Möglichkeit zur Aufnahme akuter Psychosen biete. Es sei die Aufgabe dieser Abteilung, anstaltspflegebedürftige Geisteskranke, Geistesschwache, Epileptiker usw. zu behandeln, nicht aber zu bewahren und zu pflegen.
Demgegenüber machte die beklagte AOK geltend, der Begriff “Heil- und Pflegeanstalt„ sei im Halbierungserlaß nicht im engeren Sinne gemeint, es komme in erster Linie darauf an, daß es sich um eine Anstalt handele, die ihrer Einrichtung nach Geisteskrankheiten erkennen und behandeln könne. Das sei bei der psychiatrischen Abteilung des Städt. Krankenhauses B der Fall. - Vor dem Sozialgericht (SG) erklärte sich die beklagte AOK bereit, die Hälfte der entstandenen Krankenhauskosten nach dem Halbierungserlaß zu übernehmen.
3) Das SG Braunschweig verurteilte durch Entscheidung vom 5. Februar 1959 - S 9 Kr 65/58 - die beklagte AOK, der Klägerin über das Anerkenntnis hinaus die durch die Krankenhausbehandlung der Frau S. entstandenen Kosten in Höhe von 354,20 DM (darin ist die Hälfte der im Landeskrankenhaus entstandenen Behandlungskosten enthalten) zu erstatten. - Im Fall K., in dem die Beklagte ebenfalls ein entsprechendes Anerkenntnis abgegeben hatte, wurde die Beklagte durch Urteil - S 9 Kr 66/58 - vom gleichen Tage verurteilt, der Klägerin über ihr Anerkenntnis hinaus die durch die Krankenhausbehandlung entstandenen Kosten in Höhe von 636,40 DM zu erstatten. In beiden Verfahren wurde die Berufung zugelassen. - Zur Begründung seiner Entscheidungen hat das SG ausgeführt, der Halbierungserlaß komme nicht zur Anwendung, weil die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses Braunschweig keine Heil- und Pflegeanstalt im Sinne des Halbierungserlasses sei. Es sei nicht Aufgabe dieser Abteilung, anstaltsbedürftige Geisteskranke zu bewahren und zu pflegen. Der Halbierungserlaß beziehe sich nach Sinn und Wortlaut offensichtlich nur auf Anstalten, deren Aufgabe die Wartung und Pflege von Geisteskranken sei, während die psychiatrische Abteilung der Städt. Krankenanstalten B nur der klinischen Behandlung akuter Fälle diene.
4) Gegen beide Urteile hat die beklagte AOK Berufung eingelegt. Sie hat beantragt, die Urteile des SG Braunschweig vom 5. Februar 1959 - S 9 Kr 65/58 und S 9 Kr 66/58 - aufzuheben und die Klagen abzuweisen. Zur Begründung hat sie vorgetragen: Die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses B sei als Heil- und Pflegeanstalt im Sinne des Halbierungserlasses anzusehen. Dazu hat sie sich auf gutachtliche Stellungnahmen des leitenden Medizinaldirektors Dr. K von der vertrauensärztlichen Dienststelle der Landesversicherungsanstalt (IVA) Hannover vom 27. August 1959 und 26. April 1960 bezogen. Danach treffe die Annahme, ein Landeskrankenhaus (früher Landes-Heil- und Pflegeanstalt) sei nicht in der Lage, “akute Psychosen„ aufzunehmen und nach den modernsten Erkenntnissen der ärztlichen Wissenschaft zu behandeln, nicht zu. Die Behandlungsmöglichkeiten der Geisteskrankheiten hätten sich etwa seit 1930 grundlegend geändert. Von dieser Zeit ab sei es in immer stärkerem Maße möglich geworden, Geisteskranke, die vor dieser Zeit in ein chronisches Stadium hineinkamen, so weit erfolgreich zu behandeln, daß sie nicht nur wieder als resozialisiert anzusprechen seien, sondern daß sie auch voll verantwortlich der bisher ausgeübten Tätigkeit nachgehen könnten. Vor 1930 sei rein zahlenmäßig der Anfall an chronisch Geisteskranken, d. h. an Bewahr- und Pflegefällen, erheblich größer als in der Folgezeit gewesen. Vor 1930 seien die chronisch Geisteskranken in Landes-Heil- und Pflegeanstalten bewahrt und gepflegt worden. Mit der entscheidenden Wendung in der Behandlungsmöglichkeit der Geisteskranken habe sich aber der Schwerpunkt immer mehr auf die Behandlung verlagert. Es handele sich bei den in Landeskrankenhäuser umbenannten Anstalten nicht mehr um reine Bewahr- und Pflegeanstalten, sondern um Krankenhäuser mit einer ausgesprochenen klinischen Bedeutung. Daß die Landeskrankenhäuser neben ihren klinischen Abteilungen auch noch eine Bewahr- und Pflegeabteilung hätten, sei in diesem Zusammenhang nichts Besonderes.
Demgegenüber machte der klagende Fürsorgeträger unter Hinweis auf die Stellungnahmen des Chefarztes Dr. K vom 5. Mai 1959 und 22. Februar 1960 geltend, es treffe zwar zu, daß jedes Psychiatrische Landeskrankenhaus in der Lage sei, auch Kranke mit akuten Psychosen aufzunehmen und diese nach den modernen Erkenntnissen der Therapie zu behandeln. Entscheidend sei jedoch, daß es sich bei der psychiatrischen Abteilung des Städt. Krankenhauses um eine reine Krankenhausabteilung handele und nicht um eine Abteilung, auf die die Merkmale eines Landeskrankenhauses hinsichtlich Unterbringung und Verwahrung Geisteskranker, Fall-, Trunk- und Rauschgiftsüchtiger zuträfen.
5) Das Landessozialgericht (LSG) hat die Urteile des SG Braunschweig vom 5. Februar 1959 - S 9 Kr 65/58 und S 9 Kr 66/58 - aufgehoben und die Klagen abgewiesen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im wesentlichen ausgeführt: Nach den Unterlagen stehe fest, daß es sich bei den beiden eingewiesenen Ehefrauen Versicherter um Geisteskranke gehandelt habe. Frau S. sei am 8. Mai 1958 mit schweren Erregungszuständen bei akuter Psychose von der Besatzung eines Funkstreifenwagens ins Krankenhaus gebracht worden. Bei der Psychose - sie könne auf inneren oder äußeren Ursachen beruhen - handele es sich um eine Geisteskrankheit. Die Schwere des Krankheitsbildes folge aus der Tatsache, daß eine Elektroschockbehandlung habe vorgenommen werden müssen. - Frau K. habe an einer chronisch verlaufenden paranoiden Schizophrenie gelitten. Dieses Leiden habe bereits 1956 und 1957 ihre Unterbringung erforderlich gemacht. Es handele sich bei der Schizophrenie um eine Gruppe von Geisteskrankheiten, die größtenteils mit Sinnestäuschungen, Wahnideen, Denkzerfall-, Gefühls-, Antriebs- und Ichstörungen sowie absonderlichem uneinfühlbarem Verhalten einhergingen. Diese Krankheitsmerkmale seien dem Einweisungsantrag des prakt. Arztes Dr. S vom 14. Mai 1958 zu entnehmen und würden durch die Bescheinigung des Chefarztes Dr. K und der Ass. Ärztin Dr. S vom 19. Juli 1958 bestätigt.
Frau S. sei durch die Polizei, Frau K. durch den behandelnden Kassenarzt, beide als “Notfall„ eingewiesen, also “von anderen Stellen„, nicht von der Beklagten. Der Kassenarzt, der - wie hier - eine Kranke ohne Zustimmung der Beklagten in die psychiatrische Abteilung des Krankenhauses der Stadt B eingewiesen habe, gehöre zu den “anderen Stellen„ im Sinne des Halbierungserlasses. Der Auffassung des SG, der Halbierungserlaß könne nicht zur Anwendung kommen, weil die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses B keine Heil- und Pflegeanstalt im Sinne des Erlasses sei, könne nicht gefolgt werden, sie hafte zu sehr am Wortlaut und werde dem Sinn und Zweck des Erlasses, der den Charakter einer Rechtsverordnung habe, nicht gerecht. Der Halbierungserlaß verfolge den Zweck, die mit der Prüfung der Voraussetzungen der Anwendung der §§ 1531 ff RVO verbundenen Schwierigkeiten zu vermeiden und die Verwaltungsarbeit der beteiligten Stellen zu vereinfachen. Diesem Grundgedanken würde es nicht entsprechen, wenn man den Begriff Heil- und Pflegeanstalten einschränkend auslege. Zu berücksichtigen sei in diesem Zusammenhang vor allem, daß seit 1942 vielfach in den größeren Krankenhäusern psychiatrische Abteilungen neben den eigentlichen neurologischen Abteilungen eingerichtet worden seien und daß Fälle akuter Geisteskrankheit erfahrungsgemäß, soweit sich keine Heilanstalt in der Nähe befinde, in diesen Krankenhäusern behandelt würden. Gerade diese Entwicklung rechtfertige die Auffassung, daß außer den Psychiatrischen Universitätskliniken, die in erster Linie der Aufnahme von Geisteskranken dienten, auch sonstige Psychiatrische Kliniken unter den Begriff der Heil- und Pflegeanstalten im Sinne des Halbierungserlasses fielen. Aus den Stellungnahmen des Chefarztes Dr. K gehe hervor, daß die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses B. in etwa der klinisch-psychiatrischen Abteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Königslutter gleichgesetzt werden könne. In diesem Landeskrankenhaus habe sich nach den Ausführungen des Leitenden Medizinaldirektors Dr. K vom 27. August 1959 der Schwerpunkt auf die eigentliche Behandlung der Geisteskranken verlagert, nachdem die Zahl der Bewahr- und Pflegefälle seit etwa 1930 rückläufig sei. Dieser Entwicklung entspreche die Umbenennung der Heil- und Pflegeanstalten in Landeskrankenhäuser, die jetzt keine reinen Bewahr- und Pflegeanstalten mehr seien - auch wenn sie über eine Bewahr- und Pflegeabteilung verfügten -, sondern eine ausgesprochen klinische Bedeutung hätten. Andererseits könne der Stellungnahme des Chefarztes Dr. K nicht entnommen werden, daß in der psychiatrischen Abteilung seines Krankenhauses - die über 49 Betten und 2 Isolierzellen verfüge und die in der Zeit vom 1. Januar bis 31. März 1959 166 Patienten aufgenommen habe - die Aufnahme von Bewahr - und Pflegefällen schlechthin ausgeschlossen sei, wenn es auch zutreffen möge, daß die Abteilung in der Regel keine Gemüts- und Geisteskranken mit dem Ziel der Bewahrung und Pflege aufnehme. - Deshalb erscheine es gerechtfertigt, die Einweisung der Ehefrauen S. und K. in die psychiatrische Abteilung des Städt. Krankenhauses B als Einweisung in eine “Heil- und Pflegeanstalt„ im Sinne des Halbierungserlasses anzusehen, so daß der Kläger Ersatz nur in Höhe der Hälfte der Kosten der stationären Behandlung beanspruchen könne, wozu sich die Beklagte bereiterklärt habe. Die zwischen den Niedersächsischen Krankenkassenverbänden und dem Landesfürsorgeamt abgeschlossene Vereinbarung, wonach die Krankenkassen für versicherte Geisteskranke in der klinischpsychiatrischen Abteilung des Landeskrankenhauses kostenmäßig voll einzutreten hätten, wenn es sich um Verwahrfälle handele, sei erst vom 1. Dezember 1958 an gültig, so daß eine entsprechende Anwendung nicht in Frage komme. - Das LSG hat die Revision zugelassen.
6) Der klagende Fürsorgeträger und das beigeladene Land haben Revision eingelegt mit dem Antrag,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen die Urteile des SG zurückzuweisen.
Zur Begründung der Revisionen ist im wesentlichen vorgetragen worden: Die Psychiatrische und Nervenklinik der Städt. Krankenanstalten B sei keine Heil- und Pflegeanstalt. Unter Heil- und Pflegeanstalten im Sinne des Halbierungserlasses seien nur Anstalten zu verstehen, die die Aufgabe hätten, Geisteskranke zu behandeln und zu verwahren. Wenn die Absicht bestanden hätte, alle zur Unterbringung von Geisteskranken eingerichteten Institutionen unter den Halbierungserlaß fallen zu lassen, dann wäre in dem Erlaß nicht die einschränkende Bezeichnung “Heil- und Pflegeanstalten„ gewählt worden. Denn gerade und nur eine Heil- und Pflegeanstalt im komplexen Sinne könne alles für anstaltsmäßig untergebrachte Geisteskranke wegen ihrer Krankheit tun, während eine Nervenklinik Geisteskranke nur behandele, nicht aber verwahre und pflege, wenn die Behandlung keine Aussicht auf Erfolg mehr biete. Werde ein Geisteskranker aus Gründen der öffentlichen Sicherheit untergebracht (jetzt überwiegend nach § 10 des Niedersächsischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung vom 21. März 1951 - GVBl. S. 79 -), so könne das nur in einer Heil- und Pflegeanstalt geschehen, weil nur dort der Kranke geschlossen untergebracht werden könne. Dagegen sei kein gemeingefährlicher Geisteskranker zur Behandlung in ein Allgemeines Krankenhaus gebracht worden.
Die klagende AOK beantragt,
die Revisionen zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II.
Die von der Klägerin, dem örtlichen Träger der Sozialhilfe, und dem beigeladenen Land - als überörtlichem Sozialhilfeträger - eingelegten Revisionen sind begründet, weil das LSG zu Unrecht angenommen hat, der Erlaß des RAM und des RMdI vom 5. September 1942 betr. Beziehungen der Fürsorgeverbände zu den Trägern der gesetzlichen Krankenversicherung bei Unterbringung von Geisteskranken (AN 1942, 490) - sog. Halbierungserlaß - sei auch auf die Unterbringung Geisteskranker in der Psychiatrischen und Nervenklinik eines Städt. Krankenhauses anzuwenden.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 29. Januar 1959 (BSG 9, 112) ausgesprochen, daß der Halbierungserlaß eine Rechtsverordnung darstellt, die wirksam zustande gekommen und weiterhin anzuwenden ist, soweit die beteiligten Fürsorgeträger - jetzt Träger der Sozialhilfe - und Versicherungsträger ihr Anwendung nicht vertraglich einschränken oder ausschließen. Er hat ferner in seinem Urteil vom 19. Juni 1963 (BSG 19, 183) entschieden, daß der Halbierungserlaß sich nach seinem Sinn und Zweck nur auf die Unterbringung von Geisteskranken in Heil- und Pflegeanstalten bezieht und daher bei der Behandlung eines geisteskranken Versicherten oder mitversicherten Angehörigen in einer Nervenklinik keine Anwendung findet. Der Fall betraf ein geisteskrankes Kind, das von der behandelnden Ärztin wegen eines erheblichen Erregungszustandes in ein Krankenhaus eingewiesen worden und auf Veranlassung des Krankenhauses in eine Universitäts-Nervenklinik überführt worden war.
Wie der Senat in dieser Entscheidung dargelegt hat, beschränkt sich der Halbierungserlaß bewußt auf die Unterbringung Geisteskranker in einer Heil- und Pflegeanstalt, er bezieht sich aber nicht auf die stationäre Behandlung Geisteskranker in einem allgemeinen Krankenhaus oder in einer Nervenklinik. Es besteht kein Anlaß, von dieser Rechtsprechung in den vorliegenden Fällen abzuweichen, in denen es sich um die Unterbringung der unterhaltsberechtigten Ehefrauen von zwei Versicherten handelt, die wegen schwerer psychiatrischer Erregungszustände den Städt. Krankenanstalten B zugeführt und in der Psychiatrischen und Nervenklinik dieser Krankenanstalten behandelt worden sind. Daß Frau S. von der Besatzung eines Funkstreifenwagen in die Städt. Krankenanstalten B eingeliefert wurde, und daß die Aufnahme in dem an die beklagte Kasse gerichteten Antrag von dem Krankenhausarzt als “Notaufnahme„ bezeichnet worden ist, beweist nur die Dringlichkeit der ärztlichen Behandlung, hat aber für die Frage der Anwendbarkeit des Halbierungserlasses keine Bedeutung.
Der Auffassung des Berufungsgerichts, unter Heil- und Pflegeanstalten im Sinne des Halbierungserlasses seien alle Anstalten zu verstehen, die nach ihrer Einrichtung dazu bestimmt sind, der Aufnahme von Geisteskranken für längere oder kürzere Zeit zum Zweck der Verwahrung und Pflege zu dienen, kann nicht beigetreten werden. Sie widerspricht dem Sinn und Zweck des Halbierungserlasses, die in seinen einleitenden Bemerkungen deutlich zum Ausdruck kommen. Durch die in dem Erlaß getroffene Regelung sollen Streitigkeiten zwischen den Fürsorgeverbänden und den Krankenkassen vermieden werden, die sich aus der Frage ergeben, ob die nicht durch die Krankenkasse veranlaßte Aufnahme eines Geisteskranken in eine Heil- oder Pflegeanstalt ganz oder überwiegend durch das eigene Interesse des Kranken geboten war oder ob sich die Unterbringung vorwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als notwendig erwies. Streitigkeiten dieser Art treten regelmäßig nur bei der Unterbringung eines Geisteskranken in einer Heil- und Pflegeanstalt auf, nicht aber bei einer auf ärztlicher Anordnung beruhenden oder nach ärztlicher Auffassung für notwendig gehaltenen Aufnahme eines Geisteskranken in ein Allgemeines Krankenhaus oder in eine Psychiatrische und Nervenklinik. Die Heil- und Pflegeanstalten, die in einigen Ländern - so auch in Niedersachsen - jetzt die Bezeichnung “Landeskrankenhäuser„ führen, haben neben der Heilbehandlung die besondere Aufgabe, Geisteskranke - und zwar vor allem in den bei ihnen bestehenden, mit besonderen Sicherungseinrichtungen versehenen geschlossenen Abteilungen - zu verwahren und zu betreuen, während dies bei den allgemeinen Krankenhäusern und den Psychiatrischen oder Nervenkliniken grundsätzlich nicht der Fall ist. Es trifft zu, daß nicht erst in den letzten Jahren, sondern schon seit wesentlich längerer Zeit in den klinischen Abteilungen der Heil- und Pflegeanstalten in gleicher Weise wie in den Psychiatrischen oder Nervenkliniken eine Heilbehandlung der Erkrankten stattfindet, wie überhaupt in den letzten Jahrzehnten mit der Entwicklung neuer Behandlungsmethoden die Heilbehandlung Geisteskranker mehr und mehr an Bedeutung gewonnen hat und gegenüber der bloßen Verwahrung dieser Kranken in den Vordergrund getreten ist. Es gehörte aber schon von jeher zu den besonderen Aufgaben der Heil- und Pflegeanstalten, Geisteskranke aus Gründen der öffentlichen Sicherheit zu verwahren und zu betreuen. Demgegenüber sind die Allgemeinen Krankenhäuser und die ihnen angeschlossenen Psychiatrischen oder Nervenkliniken ebenso wie die entsprechenden Einrichtungen der Universitätskliniken in erster Linie für die Heilbehandlung eingerichtet. Sie haben regelmäßig nicht die Aufgabe, Geisteskranke im Interesse der öffentlichen Sicherheit zu verwahren, wenn sie auch in der Lage sind, geistig oder seelisch Erkrankte im Bedarfsfalle vorübergehend in einer geschlossenen Abteilung zu behandeln. Hätte der Halbierungserlaß auch die durch die Behandlung Geisteskranker in allgemeinen Krankenhäusern oder Psychiatrischen Kliniken entstehenden Kosten erfassen wollen, so hätte nichts näher gelegen, als diese Anstalten, die bereits damals für die Behandlung Geisteskranker eingerichtet waren, neben den Heil- und Pflegeanstalten aufzuführen (vgl. z. B. die Fassung des § 11 Abs 1 der Verordnung über die Krankenversicherung der Rentner vom 4. November 1941 - RGBl. I 689). Der Erlaß beschränkt sich aber seinem Sinn und Zweck entsprechend - bewußt auf die Unterbringung Geisteskranker in Heil- und Pflegeanstalten, weil im allgemeinen nur bei der Aufnahme in eine Heil- und Pflegeanstalt ohne die Regelung im Halbierungserlaß die Entscheidung notwendig würde, ob sich die Aufnahme überwiegend aus Gründen der öffentlichen Sicherheit als notwendig erwies oder ob sie ganz oder überwiegend durch das eigene Interesse des Geisteskranken geboten war. Gerade die Prüfung dieser Frage sollte durch den Halbierungserlaß ausgeschlossen werden. - Nach alledem kann der Auffassung des Berufungsgerichts, die Aufnahme eines Geisteskranken in eine Psychiatrische oder Nervenklinik sei der Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt gleichzustellen, nicht gefolgt werden.
Da die beklagte AOK wegen der Notwendigkeit der stationären Behandlung der Frau S. und der Frau K. nicht berechtigt war, die Krankenhauspflege zu versagen, hat sie dem Fürsorgeträger die durch ihren Aufenthalt in den Städt. Krankenanstalten B. - Psychiatrischen und Nervenklinik - entstandenen Aufwendungen in voller Höhe zu ersetzen (§§ 1531 ff RVO; vgl. BSG 9, 112). Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Berufung der beklagten AOK gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen