Leitsatz (redaktionell)

Die Versorgungsverwaltung ist bei Erlaß eines Anfechtungsbescheides nach Inkrafttreten des KOVVfG (1955-04-01) berechtigt, sich für die Zeit davor, für die eine dem KOVVfG § 42 entsprechende Vorschrift fehlt, auf die ergänzend heranzuziehenden Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts zu stützen und unter Rücknahme früherer Bescheide, die der Begünstigte durch unwahre Angaben erschlichen hat, neu zu entscheiden. An der Auffassung, daß dem die Bestimmung des SGG § 77 nicht entgegensteht, wird festgehalten.

 

Normenkette

SGG § 77 Fassung: 1953-09-03; KOVVfG § 42 Fassung: 1955-05-02

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 23. April 1963 insoweit aufgehoben, als das Landessozialgericht die Bescheide vom 27. April und 23. September 1959 hinsichtlich der Zeit vor dem 1. April 1955 aufgehoben hatte.

In diesem Umfang wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Beim Kläger waren auf Grund der Bescheide vom 30. November 1948, 29. September 1949 und 5. Juni 1951 nach der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 27 bzw. dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zentral-nervöse Störungen nach Malaria und Hirnentzündung, Herzmuskelschädigung und Leberschädigung als Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 v. H. ab 1. August 1947 anerkannt. Nachdem der Kläger 1957 Pflegezulage beantragt hatte und weitere Erhebungen angestellt worden waren, die ergeben hatten, daß er einen Einsatz in Afrika vorgetäuscht hatte, erließ das Versorgungsamt (VersorgA) am 27. April 1959 einen Berichtigungsbescheid nach § 41 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) mit dem die früheren Anerkennungen nach der SVD Nr. 27 und dem BVG zurückgenommen, die Versorgungsanträge abgelehnt und die Versorgungszahlungen mit Ende April 1959 eingestellt wurden. Mit weiteren Bescheiden vom 23. September 1959 wurden der Antrag auf Pflegezulage abgelehnt und Versorgungsleistungen in Höhe von 35.386,92 DM zurückgefordert, da der Kläger für deren Bewilligung wesentliche Tatsachen wissentlich falsch angegeben habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 21. März 1960, der auch die Bescheide vom 23. September 1959 mit erfaßte, wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Im Klageverfahren stützte sich der Beklagte auch auf § 42 VerwVG. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit Urteil vom 22. Mai 1962 ab. Im Berufungsverfahren machte der Kläger u. a. geltend, der Rentenanspruch wäre auch anerkannt worden, wenn er wahrheitsgemäße Angaben gemacht hätte. Das Landessozialgericht (LSG) änderte mit Urteil vom 26. April 1963 das SG-Urteil dahin ab, daß die Bescheide vom 27. April und 23. September 1959 aufgehoben wurden, soweit sie sich auf die Zeit vor dem 1. April 1955 erstreckten. Im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Die Revision wurde zugelassen. Der Beklagte habe den auf § 41 VerwVG gestützten Berichtigungsbescheid nunmehr auch auf § 42 VerwVG stützen dürfen. Die Dreimonatsfrist und die Fünfjahresfrist des § 43 Abs. 1 Satz 2 VerwVG in der Fassung vom 2. Mai 1955 (BGBl. I, 202) a. F. - bzw. des § 43 Abs. 2 Satz 2 VerwVG in der Fassung vom 27. Juni 1960 (BGBl. I, 453)-n. F.-seien eingehalten. Der Kläger habe gewußt, daß seine Angaben über eine durchgemachte Malaria, den Afrikaeinsatz und die Rentenzahlung durch das VersorgA Breslau unwahr waren und daß diese falsche Darstellung für die Entscheidung wesentlich war. Auch die Ablehnung der Versorgungsanträge sei gerechtfertigt, da die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhangs der Leiden des Klägers mit dem Wehrdienst nicht gegeben sei. Die Rücknahme der Rentenbewilligungsbescheide wirke jedoch erst ab dem Inkrafttreten des VerwVG. Der Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) es könnten auch die vor dem 1. April 1955 erbrachten Versorgungsleistungen zurückgefordert werden, könne nicht gefolgt werden, da es hierfür an einem geltenden Gesetz fehle, das die Bindung nach § 77 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) beseitige. Die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts seien nicht Gesetz im Sinne dieser Vorschrift. Vor allem könne ein unter dem zeitlichen Geltungsbereich des VerwVG erlassener Berichtigungsbescheid nur nach Maßgabe dieses Gesetzes und nicht zugleich, wenn auch nur für die Zeit vor dem 1. April 1955, nach damaligem Rechtszustand beurteilt werden.

Die gegen dieses Urteil vom Kläger eingelegte Revision hat dieser zurückgenommen.

Der Beklagte rügt mit der Revision, das LSG habe die Frage der Rückforderung für die Zeit vor dem 1. April 1955 nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts beurteilen müssen. Seit jeher habe der Rechtsgrundsatz bestanden, daß derjenige, welcher ungerechtfertigt etwas erlangt habe, dies herauszugeben hat. Unter Gesetz im Sinne des § 77 SGG sei jede Rechtsnorm zu verstehen. Die Zeit vom 1. August 1947 bis 31. Dezember 1952 sei nach Nr. 26 der Sozialversicherungsanordnung Nr. 11 (SVA 11), die Zeit demnach bis zum 31. März 1955, nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts zu beurteilen. Demnach habe der Beklagte für die Zeit vom 1. August 1947 bis 31. März 1955 nach diesen Grundsätzen die zu Unrecht bezogenen Leistungen entziehen und die Rückforderung geltend machen müssen. Der Beklagte beantragt, die Entscheidung des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers in vollem Umfang zurückzuweisen. Der Kläger beantragt, die Revision des Beklagten als unbegründet zurückzuweisen. Der Beklagte habe den Bescheid vom 27. April 1959 (2. September 1959) nicht auf die Grundsätze des allgemeinen Veraltungsrechts gestützt, sondern auf § 41 VerwVG und im Klageverfahren auf § 42 VerwVG. Er könne sich nicht nachträglich für die Zeit vor dem 1. April 1955 auf den Grundsatz des überwiegenden öffentlichen Interesses berufen. Gesetz im Sinne des § 77 SGG könne nur ein formelles Gesetz oder allenfalls eine Rechtsverordnung auf Grund eines solchen Gesetzes sein.

Mit Einverständnis der Beteiligten ergeht das Urteil gemäß § 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung.

Die durch Zulassung statthafte Revision des Beklagten (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist auch sachlich begründet.

Nachdem die vom Kläger eingelegte Revision zurückgenommen worden ist, hatte der Senat nur noch zu prüfen, ob das LSG die von ihm im übrigen nach § 42 VerwVG als rechtmäßig erachteten Bescheide vom 27. April und 23. September 1959 für die Zeit vor dem 1. April 1955 mangels einer Rechtsgrundlage aufheben durfte. Die Rüge des Beklagten, das LSG habe für diesen Zeitraum die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts anwenden müssen, greift durch.

Die Versorgungsverwaltung ist bei Erlaß eines Rücknahmebescheides nach Inkrafttreten des VerwVG (1. April 1955) berechtigt, sich für die Zeit davor, für die eine dem § 42 VerwVG entsprechende Vorschrift fehlt, auf die ergänzend heranzuziehenden Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts zu stützen und unter Rücknahme früherer Bescheide, die der Begünstigte durch unwahre Angaben erschlichen hat, neu zu entscheiden. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob sich die Voraussetzungen der Bescheiderteilung etwa im Sinne der Nr. 26 der SVA 11 als unzutreffend erwiesen haben (vgl. BSG Urteil vom 24. Februar 1961 - 11 RV 332/60 -). Dem steht die Bestimmung des § 77 SGG nicht entgegen, denn nach der ständigen Rechtsprechung der Kriegsopfer-(KOV)-Senate des BSG sind als "Gesetz" im Sinne des letzten Halbsatzes dieser Vorschrift auch die Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts anzusehen (vgl. Urteil des BSG in SozR SVA 11 Allg. Ca 5 Nr. 9, ferner BVBl. 1960, 177 - 8. Senat -; BVBl. 1961, 42 - 9. Senat -, ebenso Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1963 - 9 RV 558/59 -; BSG 18, 22 - 10. Senat -; BSG 7, 53; 8, 14 und Urteil vom 18. Oktober 1962 in BVBl. 1963, 45 - 11. Senat -; aA Dapprich, Die Sozialgerichtsbarkeit 1960, 6 ff., Zimmer WzS 1961, 33 ff.). Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, von dieser gefestigten Rechtsprechung abzuweichen. Wie der 11. Senat im Urteil vom 18. Oktober 1962 ausgeführt hat, ist "Gesetz" im Sinne des § 77 SGG nicht nur die im Gesetzgebungsverfahren zustandegekommene Rechtsnorm, sondern - wie schon Art. 2 EGBGB bestimmt - jede Rechtsnorm, mithin auch das Gewohnheitsrecht und die anerkannten Rechtsgrundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts (vgl. BSG 7, 51, 53; 8, 11, 14 ferner BSG 15, 252, 256). Wenn der 11. Senat weiter darlegt, daß diese Grundsätze zwar nicht auf langjähriger Übung wie das Gewohnheitsrecht, sondern lediglich auf Rechtsüberzeugung, beruhen, so ist der erkennende Senat jedenfalls für Fälle der vorliegenden Art der Auffassung, daß es sich darüber hinaus um eine durch ständigen Gerichtsgebrauch bestätigte allgemeine Rechtsüberzeugung handelt, die dem Gewohnheitsrecht zuzurechnen ist (vgl. die in der Entscheidung des 11. Senats zitierten Entscheidungen des RVG und Palandt, Komm. z. BGB, 22. Aufl. Anm. 1 e zu Art. 2 EGBGB). Der Einwand des LSG, ein unter dem zeitlichen Geltungsbereich des VerwVG erlassener Berichtigungsbescheid könne nur nach Maßgabe dieses Gesetzes und nicht zugleich, wenn auch nur für die Zeit vor dem 1. April 1955, nach damaligem Rechtszustand beurteilt werden, greift nicht durch. Denn bei Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts wird nicht ein vor dem 1. April 1955 in Kraft gewesener "damaliger Rechtszustand" zugrunde gelegt. Vielmehr galten diese Grundsätze damals wie heute im wesentlichen unverändert; sie galten bei Erlaß des Berichtigungsbescheides vom 27. April 1959 (vgl. BSG in SozR VerwVG § 42 Ca 2 Nr. 3) ebenso wie am 1. August 1947, dem Zeitpunkt, von dem ab der Beklagte die Rückforderung der zu Unrecht gewährten Leistungen begehrt. Der Einwand des LSG wäre nur beachtlich, wenn Vorschriften, die bei Erlaß des Bescheides nicht mehr in Kraft waren, zur rechtlichen Begründung herangezogen würden. Dies ist bei Anwendung der Grundsätze des allgemeinen Verwaltungsrechts aber nicht der Fall.

Sonach hätte das LSG für die Zeit vor dem 1. April 1955 prüfen müssen, ob die Rückforderung der zu Unrecht gewährten Leistungen nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts gerechtfertigt ist. Hieran war es auch nicht dadurch gehindert, daß sich der Beklagte im Berufungsverfahren nicht auf diese Grundsätze gestützt hatte. Denn das LSG mußte diese Prüfung, wenn es die Bescheide als für die Zeit nach dem 1. April 1955 rechtmäßig erachtete, für die Zeit vor dem 1. April 1955 von Amts wegen vornehmen, nachdem die Verwaltungsbehörde auch die Rückerstattung der vor diesem Zeitpunkt gewährten Leistungen verfügt hatte. Ein Verwaltungsakt, der zwar eine unzutreffende Begründung enthält, dessen Entscheidungssatz aber auf andere rechtliche Vorschriften gestützt werden kann, muß auch vom Gericht als rechtmäßig gewertet werden (vgl. BSG 7, 12/13 und BSG in SozR VerwVG § 41 Ca 5, 7 Nr. 11).

Das Urteil des LSG war daher wegen der von der Revision gerügten Gesetzesverletzung insoweit aufzuheben, als es die Bescheide vom 27. April und 23. September 1959 hinsichtlich der Zeit vor dem 1. April 1955 aufgehoben hatte; denn insoweit beruht das Urteil auf dieser Gesetzesverletzung. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da das LSG keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen hat, ob im vorliegenden Fall das Interesse der Verwaltung an der Beseitigung des rechtswidrigen Bescheides gegenüber dem Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit, zu dem auch das Interesse am Schutz des Vertrauens der Bürger auf den Bestand bindend gewordener staatlicher Maßnahmen gehört, überwiegt (vgl. BSG 10,72,76; 15, 81 ff. sowie Entscheidung des BSG vom 18. Oktober 1962 - 11 RV 392/60 - in BVBl. 1963, 45). In der zuletzt genannten Entscheidung ist zwar ausgeführt, daß die Voraussetzungen für die Rücknahme ex tunc erfüllt seien, wenn die Unrichtigkeit des Bescheides allein durch die objektiv unrichtigen Angaben des Begünstigten verursacht sind (vgl. ferner zur Rücknahme erschlichener Verwaltungsakte BSG in SozR VerwVG § 42 Ca 2 Nr. 3). Ob im vorliegenden Fall eine alleinige Verursachung in diesem Sinne gegeben ist bzw. ob unter Berücksichtigung aller für die Bescheiderteilung maßgebenden Unterlagen eine "Erschleichung" des Verwaltungsakts angenommen werden kann und ob schließlich weitere, vom LSG bisher nicht festgestellte Umstände etwa gegen einen Entzug bzw. zumindest gegen einen rückwirkenden Entzug der Leistungen sprechen (vgl. hierzu die Ausführungen weiter unten sowie allgemein die im Urteil des erkennenden Senats vom 27. Februar 1963 - 9 RV 558/59 - erörterten Gesichtspunkte), bedarf noch der Prüfung durch die Tatsacheninstanz. Daher war die Sache in dem aus dem Urteilstenor ersichtlichen Umfang an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Das LSG wird bei erneuter Überprüfung in Betracht zu ziehen haben, daß die Beschwerden des Klägers im Gutachten des Kreiskrankenhauses Rinteln vom 13. August 1948, das für die Versorgungsbehörde erstattet worden ist, nicht auf eine vorgetäuschte Malaria, sondern auf eine während des Kriegsdienstes zugezogene schwere Gehirnentzündung (Encephalitis) zurückgeführt worden sind (vgl. hierzu auch Gutachten vom 10. Oktober 1958 und Gutachten vom 16./19. Februar 1959), wobei der Einfluß einer Malariaerkrankung als unsicher erachtet wurde. Daß der Kläger auch eine Encephalitis - hierbei muß es sich nicht gerade um eine "Malaria-Encephalitis" gehandelt haben (so das Gutachten Dr. K ) - vorgetäuscht hätte, hat das LSG bisher nicht festgestellt. Insoweit wäre unter Umständen zu erwägen, ob die von der Deutschen Dienststelle mitgeteilte zweimalige Behandlung an chronischer Mittelohrentzündung bzw. Mittelohrentzündung rechts im Reservelazarett III Ko  als Ausdruck einer solchen (verdeckten) Encephalitis aufgefaßt werden kann (vgl. wegen der Bedeutung einer Otitis media (= Mittelohrentzündung) als Ursache einer Encephalitis: Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 117. - 122. Aufl. S. 220). Der Gerichtsgutachter Dr. Wi  hat aus den Lazarettbehandlungen jedenfalls - allgemein - geschlossen, daß der Kläger "offenbar sehr schwer krank gewesen ist". Es wird auch zu prüfen sein, ob das Gutachten vom 16./19. Februar 1959 zu Recht angenommen hat, der Kläger habe im Stadtkrankenhaus Hameln falsche Angaben über eine angebliche Gehirnhautentzündung gemacht. Selbst wenn dies zuträfe - das Gutachten dieses Krankenhauses vom 10. Oktober 1958 sagt hiervon in der Anamnese nichts - wäre zu erwägen, ob der Kläger hierbei nicht lediglich die schon 1948 vom ärztlichen Gutachter gestellte Diagnose wiedergegeben hat.

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325560

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge